Als ich im letzten Jahr begann, im Auftrag der Duden-Redaktion ein Glossar des Grauens zusammenzustellen, schwebte mir dafür zunächst eine essayistische Herangehensweise vor. Nach mehreren Gesprächen mit dem Lektorat kamen wir jedoch überein, dass ein traditionelles Wörterbuchformat mit kurzen, alphabetisch geordneten Einträgen doch die geeignetere Form sei. Nichtsdestotrotz gefällt mir das essayistische Kapitel, das ich bereits probeweise geschrieben hatte, so gut, dass ich es geneigten Leserinnen und Lesern nicht vorenthalten möchte. Hier kommt es. Unlektoriert, also bitte nicht zu pingelig lesen.
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2013 muss ein schönes, gleichwohl anstrengendes Jahr für die damals 17-jährige neuseeländische Popsängerin Lorde gewesen sein. Ihr Debütalbum Pure Heroine verkaufte sich in aller Welt wie Brause mit Geschmack, dazu gab es noch überwiegend warme Worte von internationalen Pressevertretern, ausführliches Touren war die Folge. So war es verständlich, dass sie nicht bereits ein Jahr darauf ein komplett neues Langspielalbum einsingen wollte. Stattdessen sang sie ein Lied für den Kinofilm Die Tribute von Panem – Mockingjay Teil 1. Weil das so gut geklappt und man sich wohl mit den Filmmusikverantwortlichen bestens verstanden hatte, kuratierte sie, so war überall zu lesen und zu hören, auch den Rest der Platte zum Film.
Seitdem wird überall wie verrückt kuratiert, auch bei mir zu Hause. Morgens kuratiere ich das Frühstück für mich und meine Tochter. Sobald sie im Kindergarten ist, kuratiere ich, welche Arbeit ich erledigen muss, und welche sich aufschieben lässt. Abends vorkuratiere ich eine Auswahl aus mehreren Fernsehprogrammen, und meine Frau endkuratiert dann das, was wir uns tatsächlich anschauen. Am nächsten Tag tausche ich mich mit anderen Fernsehkuratoren über unsere Eindrücke aus.
Wer nichts wird, der kuratiert?
Lorde selbst wollen wir an dieser Stelle keinen Vorwurf machen. Sie wird nicht ins musikindustrielle Büro geschlendert sein und vorgeschlagen haben: „Yo, Plattenfirma, kann ich mal eben voll so eine Platte kuratieren, ey?“ Eher wird die Plattenfirma gebeten haben: „Gnädiges Fräulein Lorde, würden Sie die Güte besitzen, die Musik für den anstehenden Blockbuster nach dem berühmten Kinderbuch, pardon: der Young-Adult-Novel, von Suzanne Collins zu kuratieren?“
Darauf Lorde: „Wie geht denn das, kuratieren? Das habe ich noch nie gemacht.“
„Einfach eine Playlist zusammenstellen aus Liedern, die du gut findest.“
„Au fein, sowas habe ich ja doch schon mal gemacht! Aber warum heißt das denn auf einmal so komisch?“
„Weil es so wichtiger klingt.“
Ein drolliger Zufall: Das komische Wort ist vermutlich genauso alt wie Lorde selbst. Die Neue Zürcher Zeitung konnte das Verb zum ersten Mal 1996 identifizieren, dem Geburtsjahr der Sängerin. Bis 2013 fristete es ein Schattendasein, dann kam es zu einem unkrautartigen Wucherungsschub. Ob Lordes Kuration für diesen verantwortlich zeichnete, oder ob sie nur ein Teil des Problems war, lässt sich nicht feststellen. Sehr wohl feststellen lässt sich hingegen, dass das Nomen, dem das Verb entsprungen ist, aus dem Lateinischen kommt. Die ersten Kuratoren, wörtlich: Pfleger, waren somit alte Römer. Sie waren unter anderem dafür verantwortlich, Straßen und Flüsse sauber zu halten, verdingten sich allerdings auch als Rechtsbeistände und Vormunde. Ein Kurator war also eine Art Mischung aus Müllmann und Anwalt. Erst im 20. Jahrhundert eignete sich das Museumswesen den Begriff an. Bis zum Zeitalter Lorde verstand man unter einem Kurator nun vor allem einen Ausstellungsorganisator von verbriefter Fachkompetenz, wobei verschiedene Branchen dem Wort weiterhin unterschiedliche Bedeutungen zumaßen, meistens nicht weit von den ursprünglichen, juristischen Implikationen entfernt.
2015 mutmaßte der Journalist Wolfgang Michal in seinem Blog, dass die große Verbreitung des neugeschöpften Verbs kuratieren dem Umstand zu verdanken sei, dass Journalisten immer weniger journalistisch und Redaktionen seltener redaktionell arbeiten. Statt eigene Inhalte zu schaffen, werden Netzfundstücke und Agenturmeldungen kompiliert und multipliziert. Seit Jahr und Tag wollen viele junge Leute „irgendwas mit Medien“ machen, wenn sie mal groß sind. Dieses vage Berufsziel scheiterte lange Zeit am realen Arbeitsmarkt: den Irgendwas-mit-Medien-Macher gab es nicht. Jetzt gibt es ihn: Er ist Kurator, und er kuratiert. Animierte Witzbilder, Lieblingslisten, Katzenvideos.
Museumskuratoren sind zurecht pikiert. Müllmänner und Anwälte vermutlich ebenso. Da bleibt die Frage: Kann man das Kuratieren kurieren? Das wissen wahrscheinlich nur die Kuriere.
Apropos pikiert: Unlängst fragte mich ein Kunstmaler, wann es angefangen habe und wann es wieder aufhören möge, dass jeder Einfaltspinsel als Künstler bezeichnet würde, egal ob Schriftsteller, exotischer Tänzer oder Ballontierfalter. Er meinte, der Begriff müsse tatsächlichen Künstlern vorbehalten bleiben, nämlich solchen, die Kunstwerke aus physisch vorhandenen Materialien schaffen, seien es Wasserfarben, Knetmasse oder gefundene Objekte (Luftballons anscheinend nicht). Ich konnte die Kritik nicht ganz nachvollziehen, hatte ich doch selbst nie Probleme damit, mich als Künstler auszugeben. Ich meinte es nie selbsterhöhend, sondern lediglich als wertfreie Abgrenzung zum Handwerker (s.u.). Ein Handwerker schafft etwas Nützliches, ein Künstler allenfalls etwas, das hoffentlich nicht schadet. (Nun mag man dem Himmel dramatisch die Fäuste und das Gesicht entgegenrecken und ausrufen: „Aber ich kann nicht ohne Kunst leben!“ Dazu sage ich: Ich tu’s auch nicht gern, aber im Zweifelsfall lebe ich lieber ohne Sonette als ohne Stühle.)
Dennoch hat mein malender Freund nicht ganz unrecht: Sagen wir doch das, was wir meinen. Nennen wir einen Schriftsteller einen Schriftsteller, einen Ballontierfalter einen Ballontierfalter und einen Kunstmaler einen Kunstmaler. Und falls einem letzteres zu lang ist: gerne einen Künstler. Das sind allerdings lediglich zwei Buchstaben weniger.
Frühwarnung: Bald werden wir alle artisaniert
Ein Blick auf die Marottenentwicklung der englischen Sprache kann Aufschluss über die Marottenentwicklung der deutschen Sprache geben. Auch das sinnentstellte Kuratieren wurde von englischsprachigen Vermarktungsstrategen vorgeplappert („soundtrack album curated by Lorde“), bevor wir es munter in unserer vermeintlich eigenen Sprache nachplapperten. Der nächste Kurator steht schon in den Startlöchern. Es ist der Artisan.
Im anglofonen Raum, vor allem in den USA, steckt man sich dieser Tage kaum noch etwas in den Mund oder ins Wohnzimmer, was nicht von einem artisan gefertigt wurde. Auf eine Artisan-Pizza gehört Artisan-Käse, und beim Verzehr muss man darauf achten, dass keine Artisan-Tomatensoße auf das Artisan-Sofa tropft. Ansonsten muss schnell der ökologisch korrekte, dennoch wirkstarke Artisan-Fleckentferner ran. Das Wort hat französische, italienische sowie lateinische Wurzeln und ist im Deutschen nicht gänzlich unbekannt. Gegen den Trend hat sich hier allerdings die Übersetzung Handwerker durchgesetzt. Zu meiner großen Erleichterung musste ich feststellen, dass Artisan im gedruckten Duden derzeit nicht aufgeführt und in der Online-Version als veraltet ausgebremst wird. Leider ist davon auszugehen, dass das untote Wort schon bald wieder seine fauligen Finger aus dem Grab strecken und fest unsere Gehirne umklammern wird. Bereits jetzt findet man im deutschsprachigen Teil des Internets Artisan-Küchenmaschinen, Artisan-Orientteppiche und Artisan-Mustertapeten, wenn man etwas länger sucht. Diesen Anfängen gilt es zu wehren.
Auch wenn ein Artisan nichts anderes ist als ein Handwerker, so schwingt in dem Begriff nach heutigem Hörverständnis etwas Hehres, Künstlerisches, Elitäres mit. Man hat vermutlich Bilder im Kopf von Männern im Mittelalter (tatsächlich stammt das Wort aus dieser Zeit), die „irgendwas mit Leder“ machen, ohne Schadstoffe und Ausbeutung. Ein anderes englisches Wort fürs Handwerk ist Craft. Da liegt es nahe, dass wir bald alle Artisan-Weißbier trinken, wenn uns das Craftbier nicht mehr schmeckt. Ob das dem Bierbrauer und Buchautor Oliver Wesseloh gefallen wird, weiß ich nicht. Mit dem Begriff Craftbier hat er jedenfalls Probleme, nicht nur in der besonders umstrittenen halbdeutschen Schreibweise, wie er in seinem Buch Bier leben – die neue Braukultur mitteilt. Allzu leicht ließe sich das Schlagwort von finsteren Mächten instrumentalisieren. Er meint damit Großbrauereien, die den griffigen Begriff als bloße Marketingfloskel ihrer industriegefertigten Plörre aufs Etikett stempeln, um dann genüsslich den Preis zu erhöhen. Dabei ist es noch viel schlimmer gekommen: Längst wurde in Supermärkten Craft-Kaffee und Craft-Eistee in der Kunststoffflasche gesichtet. Dennoch möchte mir Wesselohs Gegenvorschlag, das Ganze ‚Kreativbier‘ zu nennen, nicht recht munden. Seit die sogenannte Kreativbranche, also die meist deprimierend unkreative Werbeindustrie, das Wort kreativ gekapert hat, ist es eigentlich nur noch mit sarkastischen Anführungszeichen zu bekommen: „Siehst du diesen bärtigen Glatzkopf in Schwarz mit Hornbrille und Applewatch? Das ist bestimmt ein ‚Kreativer‘.“
Als das Craftbier in Deutschland ankam, war ich erst mal so angetan von der Sache an sich, dass meine Schutzmechanismen gegen blöde Ausdrücke völlig versagten. Mir doch egal, wie das heißt, Hauptsache es schmeckt. Nüchtern betrachtet ist Craftbier wirklich kein tolles Wort. Aber selbst ohne die Werbeassoziation scheint mir ‚Kreativbier‘ zu aufgesetzt. Es scheint außerdem das zu befördern, was am Craftbier irgendwann nervt: Die Jagd nach immer verrückteren Experimentalgebräuen. Hat man sich in seinem neuen Hobby erst mal die Hörner abgestoßen, möchte man zurück zum goldenen Handwerk. Lieber ein richtig gut gemachtes Pils als den nächsten Wasabi-Holunder-Doppelstout. Also einfach eindeutschen als Handwerksbier? Das klingt wieder nach Handwerker, wir werden ihn wohl nicht los. Trinken Handwerker denn überhaupt Craftbier? Vielleicht brauchen wir die Unterscheidung gar nicht und trinken einfach, was uns schmeckt.
Storytelling ist kein Stahltank
Um noch einmal auf den Kunstmaler zurückzukommen (gottlob ohne uns vom Bier zu entfernen), der ganz alleine Künstler sein wollte. Ich bekam eine Ahnung, wie er sich fühlte, als ich Folgendes in einer Bierfachzeitschrift lesen musste:
„Dort Stahltanks zu lagern, wäre schönes Storytelling“, sagt der Brauerei-Chef.
Falsch. Storytelling wäre, zum Beispiel, das: Jemand denkt sich eine Geschichte aus, in der ausgedachte Figuren mit ausgedachten Konflikten konfrontiert werden, wobei die Konflikte im Verlauf der Geschichte aufgelöst werden oder auch nicht und die Figuren im Idealfall eine charakterliche Wandlung durchmachen. Das ist Storytelling. Ist es gut gelungen, ist es schönes Storytelling. Aber Stahltanks im Keller sind nur Metallgefäße im Tiefgeschoss, daran ändert selbst das verschwurbeltste Banaldeutsch der gedoptesten PR-Strategen nichts. Und das Fass davon, dass man statt ‚Storytelling‘ auch ‚Geschichtenerzählen‘ sagen könnte, wollen wir an dieser Stelle gar nicht erst aufmachen.
Noch mehr kreatives Storytelling habe ich für dieses Craftbuch kuratiert: