Skandal: Wieder kein Friedensnobelpreis für Stephen King

Jedes Jahr handeln Buchmacher in aller Welt den Namen Murakami ganz hoch, und jedes Jahr versammeln sich zur Ergebnisverkündung die japanischen Haruki-Murakami-Liebhaber in Haruki-Murakami-Liebhaber-Cafés. Erst in freudiger Erwartung, dann in mit Fassung getragener Enttäuschung.

Und jedes Jahr frage ich mich: Wie kommen sie bloß darauf? Die Buchmacher, die Fans, die Berichterstatter? Was hat sie bloß auf die fixe Idee gebracht, dass Haruki Murakami irgendwann, vielleicht schon bald, den Literaturnobelpreis gewinnen müsse, könne, würde? Das ist ungefähr so, als würde man ganz, ganz fest daran glauben, dass Stephen King reelle Chancen hätte. Dabei sind beider Werke sprachlich zu simpel gestrickt, inhaltlich zu nah an der Genreliteratur, kurzum zu volksnah, um jemals ernsthaft die ganz hohen Weihen der allerobersten Kunst- und Kulturrichter zu erfahren. So, d. w. m. j. w. n. s. d. (das wird man ja wohl noch sagen dürfen).

Damit kein Missverständnis aufkommt und ich nicht wegen Trollverdacht vorübergehend festgenommen werde: Ich würde sowohl Haruki Murakami wie auch Stephen King den Preis gönnen. Ich gönne ihnen alle möglichen Preise. Die Zugänglichkeit ihrer Werke empfinde ich nicht als Makel. Unter den Oberflächen ihrer Bücher brodelt es. Doch da schaut niemand hin. Zumindest niemand, auf den es in dieser Sache ankommt.

Von Skeptikern wird Murakami gerne vorgeworfen, seine Botschaften seien oberflächlich, nach Art von Kalenderblattsprüchen gar (das ist noch ein Rang unter dem beliebten Literaturbesprechungstotschlagargument, jemand schreibe „kolumnistisch“). Das liegt daran, dass er nur oberflächlich gelesen wird. Und das wiederum liegt daran, dass es bei ihm, wie bei King, an der Oberfläche zu viele Knalleffekte gibt. Wenn der akademische Berufsleser Knalleffekten begegnet, denkt er sich: „Aha, Unterhaltung!“ Und wenn er „Aha, Unterhaltung!“ denkt, denkt er im weiteren Verlauf der Lektüre gar nichts mehr. Er fährt alle Analysetools komplett runter (nicht bloß Standby).

Nichtsdestotrotz sind beide, King und Murakami, im Feuilleton ja gar nicht komplett schlecht aufgestellt, lobende Erwähnung finden sie immer wieder. Dies allerdings mit einer bedingungslosen literaturwissenschaftlichen Akzeptanz zu verwechseln, wäre ganz falsch. Sie erfüllen eine Quote. Mit ihnen kann der angegraute Feuilletonist seine Coolness demonstrieren. Es ist ein bisschen so, als würfe er sich in seine alte Nietenhose und bestehe darauf, manchmal auch ganz verrückte Hottentotten-Musik zu hören: „Hey, Kids, ich hab Carrie gelesen! Menstruation und Schweineblut und so, schon geschnallt, voll endknorke! Rock’n’Roll!“

Die Entscheidung in diesem Jahr für Bob Dylan ist keine berauschende, aber eine gute und einigermaßen richtige. Seine Lieder mögen am schönsten in den Interpretationen anderer funkeln, doch so einen Literaturpreis bekommt man ja nicht für Goldkehlchen, sondern für Goldköpfchen. Gänzlich kleinlich und unschicklich wäre es, nun genüsslich jedes Fehlverhalten Bob Dylans aufzulisten, wie es die Eingeschnappten bereits tun. Nur wer in 75 Jahren Lebenszeit, knapp 60 davon öffentlich, ohne Fehlverhalten ist, darf mit dem Finger zeigen.

Würdigere Kandidaten hätte es sicherlich gegeben, gibt es ja immer, auch welche, bei denen etwas mehr Eile geboten wäre (Don DeLillo, Leonard Cohen). Das Jahr 2016 ist schließlich nicht dafür bekannt, mit unseren Größten besonders zimperlich umzuspringen.

Der Sechsundvierzigjährige, der nach Harajuku ging, um Mädchen in Unterwäsche zu sehen, keine fand und darüber einen Blog-Eintrag mit einem bestsellerverdächtigen Titel schrieb

Ich wollte heute eigentlich zum Arzt gehen, um mir neue Mittel gegen den Verfall verschreiben zu lassen, habe mich dann aber doch entschlossen, mir lieber Damenunterwäsche anzusehen. Damenunterwäsche ist ja manchmal die beste Medizin.

In der Zeitung stand nämlich unlängst, die neueste japanische Mädchenmode sei es, die Unterwäsche drüber zu tragen. Das klang interessant und ein wenig geheimnisvoll (tragen sie dann zusätzlich noch Unterwäsche drunter?), und bevor ich mir selbst den Schlüpfer über die Jeans zog, wollte ich einmal sehen, wie es die anderen machen. (Seien Sie unbesorgt, ich scherze nur. Ich trage natürlich niemals Jeans.)

Interessierte sollten sich laut Zeitung auf den Weg nach Harajuku machen, wo man junge Dinger in freier Wildbahn erleben kann. Fehle einem für die freie Wildbahn die Ausdauer, so solle man dort dem Pop-up-Store des angesehenen Unterwäsche-drunter-Labels Very Brain einen Besuch abstatten. Ich hatte neulich schon die Tragbare-Schallplattenspieler-Ausstellung im Karottenturm zu Sangenjaya verpasst, deshalb wollte ich diesmal keine Zeit mit Arztbesuchen vertrödeln, man lebt schließlich nur einmal.

Als ich mich zuletzt genauer mit japanischer Mädchenmode auseinandergesetzt hatte, war gerade der sogenannte Waldmädchen-Look sehr angesagt, in Deutschland würde man es wohl Landhaus nennen. Ein ungewöhnlich züchtiger Bekleidungsstil. Man könnte sagen, dass gerade in der Züchtigkeit seine subtil codierte Subversion stecke. Das könnte man sagen, wenn man um jeden Preis klug klingen wollte. Ist aber natürlich sinnfreier Quatsch.

Und das Ganze ist nun auch schon wieder eine ganze Weile her. Auf dem Höhepunkt meiner Mädchenmodebegeisterung hatte ich mir mehrere Bildbände zum Thema gekauft, doch ich bin nicht konsequent am Thema geblieben. Sobald Mode in Bildbänden auftaucht, ist sie ja längst aus der Mode gefallen und in die Geschichte eingegangen. Bestenfalls. Andernfalls sitzt man auf einem Stapel dicker, teurer Bücher voller Abbildungen von Kleidchen, die weder historisch noch saisonal von Bedeutung sind. (Der, den Sie da sitzen sehen, bin ich.)

Im Very-Brain-Pop-up-Store angekommen, fragte ich mich zunächst, ob ich wirklich im richtigen Pop-up-Store angekommen war, oder ob sich die Mode vielleicht schon wieder geändert hatte. Nur sehr wenige Teile waren überhaupt auf den ersten Blick als Unterwäsche zu erkennen und noch weniger von denen waren so heiß, wie ich es nach dem Zeitungsartikel gehofft hatte (es war die Rede von der „Sexualisierung der Jugend“, also einem ganz neuen Phänomen).

Nach eingehenderem Studium der Kollektion begriff ich, was hier gespielt wurde: Es handelte sich größtenteils mitnichten um Unterwäsche im modernen Sinne, sondern um Imitation von Unterwäsche vergangener Jahre, circa Downton Abbey und früher, als ein Unterrock noch ungefähr das Volumen eines durchschnittlichen Burkinis hatte.

Also kehrte ich ein wenig enttäuscht nach Hause zurück, widmete mich wieder den weniger glamourösen Pflichten des Hausmannes: Kunststoffflaschenschraubverschlüsse reinigen, Weintrauben schälen, die Wäsche reinholen.

Und da war sie plötzlich! Auf meinem eigenen Balkon! Damenunterwäsche! Damenunterwäsche, wie ich sie meinte! Irgendwo zwischen schranktrocken und bügelfeucht, würde ich nach fachmännischer Befummelung sagen.

Ich hätte mir die zeitraubende Exkursion sparen können. Manchmal ist man wie vernagelt.

Wie ich einmal ohne Pokémon spazieren ging

(Ich sage gleich, nach der nächsten Klammer, etwas unglaublich Blödes, fange aber schon einen Satz später an, es zu relativieren. Diese Warnung nur, damit Lesende, die ungern unglaublich Blödes lesen, nicht schon nach dem ersten Satz mit dem Lesen aufhören.)

Ich hasse Pokémon Go. Ich hasse wohlgemerkt nur das Spiel an sich. Alles andere, was damit zusammenhängt, finde ich super. Ich finde es toll, dass so viele Menschen es toll finden. Ich freue mich, dass es Nintendo, einem der sympathischsten Großkonzerne der Welt, nach einigen Krisen hilft, sich gesundzuwachsen. Mir ist durchaus bewusst, dass Nintendo das Spiel weder selbst gemacht, noch selbst vermarktet hat, sondern es an eine Firma outgesourcet hat, die es an eine Firma outgesourcet hat, doch ich glaube ganz fest an den Trickle-up-Effekt.

Ich bin gerührt, wenn ich junge Pärchen beim gemeinsamen Pokémon-Jagen sehe. Ebenso beim Anblick verschmitzter älterer Damen, wenn sie ihr Handy aus der Handtasche zaubern, um kurz mal eine Kreatur einzusammeln, und es dann wieder mit einem zufriedenen Lächeln wegstecken. Es freut mich, wenn mir Gruppen kleiner Jungs mit konzentriertem Blick aufs Fon entgegenkommen. Besser als Rauschgift hinter die Augäpfel spritzen, denke ich dann. Ich bin noch immer voller Bewunderung für die junge Office Lady, die heute Morgen neben mir ein Pokémon aus dem fahrenden Zug heraus abgeknallt hat und sich danach weiterschminkte, als sei nichts gewesen.

Das war ungefähr zwanzig Minuten, bevor ich Pokémon Go zum zweiten Male (und endgültig) von meinem Telefon deinstallierte. So sehr mich die Begeisterung der anderen begeistert, mich lässt das Spiel kalt. Ich will keine Pokémon und keine Pokébälle, ich kann damit nichts anfangen. Liebe lässt sich nicht erzwingen. Phantomnostalgie, also die sentimentale Verklärung von Vergangenheitsphänomenen, die eigentlich gar nicht Teil der eigenen Vergangenheit sind, ebenfalls nicht. Ich muss schon Mitte 20 gewesen sein, als die Pokémon zum ersten Mal das Licht der Welt erblickten (es berührt mich nicht genug, um es genau zu recherchieren). Pokémon waren für Kinder, und in keinem Lebensalter hat man einen so festen Stock im geistigen Hintern wie mit Mitte 20. Da will man sich mit Kinderkram partout nicht auseinandersetzen. Ich habe das Phänomen nur am Rande wahrgenommen, und mehr als eine Randerscheinung wurde es mir auch nicht, nachdem der Stock hinten drin sich wieder gelockert hatte.

Wenn ich sage, mich lässt das Spiel kalt, widerspricht das den stärkeren Worten, die ich eingangs gewählt hatte. Hass ist bestimmt kein kaltes Gefühl, es brennt vor Leidenschaft. Tatsächlich kam zeitweise etwas wie Hass auf, als ich selbst mit dem Telefon in der Hand durch die Straßen von Meguro und Ebisu wandelte, auf der Suche nach Pokémonen und Pokéspots. Es war eher ein Kampf gegen Perspektiven und Displayeinstellungen als eine Jagd auf possierliche Kreaturen. Allerdings kann ich es wohl kaum dem Spiel ankreiden, wenn ich zu blöd bin es zu spielen, während der Rest der Erdbevölkerung von 7336 Millionen es offenbar nicht ist.

Leider fand ich keinen Anreiz, mich genauer mit der Handhabung des Spiels und der Technik meines Telefons zu befassen. Ich hatte gehofft, dieses Spiel schärfe meinen Blick für meine Umgebung, doch genau das Gegenteil war der Fall. Ich blendete alles aus, was nicht mit den Hinweisen auf dem Bildschirm zu tun hatte. Ich hatte gehofft, dieses Spiel würde mich süchtig machen, so wie es überall und von jedem versprochen wurde. Ich hatte schon lange nichts mehr gefunden, was mich süchtig gemacht hätte. Ich fand es auch hier nicht. Ich fragte mich nur, wann dieses Spiel denn endlich vorbei wäre.

Als ich entschieden hatte, dass das Spiel vorbei war, wenn ich es sage, war es mir wieder eine Freude, auf die Straße zu gehen. Freilich brauchte ich eine Ersatzbefriedigung, gewisse Spuren, Kratzer auf der Psyche, hatte das Spiel durchaus hinterlassen. Zuerst plante ich, statt Pokémon zu fangen Pokémon-Fänger einzufangen, natürlich nur mit der Kamera. Aber ich hatte mir vorgenommen, mit ekligen Hobbys wie Heimlich-fremde-Menschen-fotografieren frühestens mit 50 anzufangen, es ist ja gottlob nicht mehr lang. Dann merkte ich, dass mein Leben und Gehen bereits ausreichend gamifiziert sind, ich brauche keinerlei neue Anreize. Zum Beispiel bin ich ständig auf der Jagd nach Getränkeautomaten, die Pop verkaufen.

Gotcha:

Pop ist so exklusiv, dass es nur in Automaten erhältlich ist, und freilich auch nicht in jedem. Könnte ich jeden Tag mehrere Flaschen von trinken. Soll ich aber nicht.

Außerdem bin ich immer auf der Suche nach besonders köstlichen internationalen Namen japanischer Wohnhäuser. Ich selbst wohne im Lion’s Plaza, darunter würde ich es nicht machen. Dieses hier gefällt mir, weil es in unmittelbarer Nähe des Wohnhauses meiner Schwiegereltern ist:

Besser wäre es natürlich, wenn meine Schwiegereltern, also unter anderem der Opa meines Pokémons äh meiner Tochter, direkt im Maison Opa wohnen würden.

Maison Opa ist übrigens kein ausgewiesenes Seniorenwohnhaus. Dieses allerdings ist eines:

Nun schnalle ich wieder mein Pokémon in seinen Wagen, nehme einen kräftigen Schluck Pop und mache mich auf die Jagd nach weiteren Hütten und Palästen. Der Weg ist nicht immer leicht. Aber er lohnt sich.

Von dem Missverständnis, Fernsehen sei das neue Lesen; und von dem Irrtum, Internet sei das neue Fernsehen [nach kräftigem Durchatmen und einem langen, heißen Wohlfühlbad stark gekürzte Version]

Seit geraumer Zeit hört man es nun aus dem Blätterwald rauschen (ich nenne ihn noch immer so, weil Pixelwald so doof klingt): „Diese modernen, anspruchsvollen amerikanischen Fernsehserien, die sind … die sind …, mein lieber Scholli, die sind … DER NEUE ROMAN!“

Schon lange war mir angesichts dieser Unsinnsbehauptung nach einem #Aufschrei, aber ich halte halt nichts von Gebrüll. Doch jetzt kann ich nicht länger schweigen. Der letzte Tropfen für das Fass in meinem Kopf war eine Liste in einer Unsinnszeitung, welche die tollsten Schmöker für den Sommer benannte. Darunter auch der New-York-Schmöker City on Fire von Garth Risk Hallberg. Viel wurde über dieses Buch geschrieben, in 46 Sprachen und mehr. Und das höchste Lob, das dem Listenmacher in der Unsinnszeitung dazu einfiel, war, dass der Roman ihn irgendwie an eine HBO-Serie erinnere.

(Mal eben am Rande: Wann ist dieser vom Film schon länger bekannte Schwachsinn, englische Titel nicht mehr mitzuübersetzen, eigentlich im großen Stil auf den Buchmarkt übergeschwappt? Girl on a Train? Oder schon bei About a Boy? Gone Girl? Werden vor allem Titel von Girl-Books nicht mehr translated? Und werden bald auch spanische, chinesische, isländische Titel nicht mehr übersetzt? Oder gleich ins Englische, wie bei Filmtiteln längst Usus?)

Ich habe das City-on-Fire-Buch wohlgemerkt nicht gelesen, ich werde das vielleicht in fünf Jahren nachholen. Man hört ja nicht nur Gutes. Bei stark gehypeten Büchern, die mir irgendwie verdächtig vorkommen, wende ich seit einiger Zeit die 5-Jahre-Regel an: Wenn man in fünf Jahren noch vom Buch spricht, versuche ich es mal. Mir ist meine Zeit auf Erden zu kostbar, um sie mit jedem x-beliebigen Sommerschmöker totzuschlagen. Ich kannte mal einen, der lebte in der ständigen Angst, versehentlich mal ein Buch zu lesen, das nicht Epoche macht. Der las sicherheitshalber nur Bücher von Autoren, die schon seit mehreren Jahrzehnten tot waren. So lange kann ich häufig nicht warten. Manche Schriftsteller leben ja auch gegen alle Klischees recht gesund. Und selbst wenn welche doch standesgemäß leben (eine Flasche Rotwein statt Frühstück, und danach wird gesoffen), scheinen Schriftsteller eine überdurchschnittlich hohe Lebenserwartung zu haben, so nicht gerade etwas Dramatisches dazwischenkommt. Liegt vielleicht daran, dass ihrem Berufsalltag die Aspekte abgehen, die in den Alltagen anderer Berufe Magengeschwüre und Schlimmeres verursachen.

Mir geht es also nicht um dieses spezielle Buch, sondern um die Traurigkeit des genannten Komplimentes, das, glaube ich, symptomatisch ist: Da hat jemand, wenn er Literatur gegenübersteht, keinen anderen Referenzrahmen als die DVD-Komplettboxen in seinem Ikea-Regal. Und der fühlt sich dabei wahrscheinlich auch noch clever und modern. Man muss ihm und seinen Kumpels im Geiste leider sagen: Wer findet, dass Fernsehserien und Romane vergleichbar oder gar austauschbar seien, versteht weder etwas vom einen, noch vom anderen. Der hat keine Ahnung, dass es in der Literatur nicht nur um Storys geht, sondern auch um Sprache, unter anderem. Und dass es in Romanen Sprache nicht nur in Dialogen gibt. Wer nur liest, weil er sich vom Plot peitschen lässt, der darf sich gerne vom Roman abwenden, denn er hat eh vergebens gelesen. Der Plot ist das banalste Element eines guten Romans. Die blinde Plothysterie ist übrigens auch schuld daran, dass viele junge und greise Menschen nur noch so über Erzählungen sprechen können:

„James Bonds neuer Auftrag führt ihn in die Karibik.“
„Ey, hättest du nicht Spoiler-Warnung sagen können?!?!?!“

Gute Literatur ist nicht an Plot-Twists gelegen, sondern an überzeugenden Figuren und wertigen Themen. Figurenentwicklung ist etwas, das in Fernsehserien nicht stattfindet, gerade in offiziell anspruchsvollen nicht. Tony Soprano ist in der letzten Folge derselbe wie in der ersten. Er und andere seines Schlages mögen zwischendurch mal aus der Rolle ausbrechen. Doch sie alle haben einen Reset-Knopf, der jedes Mal gedrückt wird, bevor die Zuschauer Gefahr laufen, sich mit etwas neuem auseinandersetzen zu müssen. Die einzige nennenswerte Ausnahme scheint mir Buffy im Bann der Dämonen. Bis zum Ende der Serie hat wirklich fast jede Figur mindestens eine entscheidende Wandlung mit bleibenden Resultaten durchgemacht. Das scheint mir das Erstaunlichste an dieser ohnehin sehr erstaunlichen Serie. Viel erstaunlicher als die sonst gern positiv hervorgehobenen flotten Sprüche äh geistreichen Dialoge oder die gelegentlichen erzählerischen Experimente.

Fernsehserien stellen also keine Gefährdung für den Roman dar. Für den Kinofilm sind sie es, entgegen beliebter Zeitgeistmeinungen, ebenfalls nicht. Selbst wenn ihre Anmutung ein wenig ‚filmischer‘ geworden ist, fühlt sie sich nach wie vor in erster Linie dem Innenraum und der Großaufnahme verpflichtet. Das verdeutlicht ein langfristiger Selbstversuch in meinem Haushalt. Nach der Geburt des Kindes sahen seine Mutter und ich eine gescheite Weile lang ausschließlich einzelne Fernsehserienfolgen, weil uns für Längeres mal die Zeit, mal die Wachsamkeit fehlte. Als wir uns eines Abends doch mal wieder für einen fürs Kino produzierten Spielfilm entschieden hatten, war es eine ästhetische Offenbarung. Fernsehserien sind heute visuell bestimmt interessanter, als sie es vor 40 Jahren freitags um 20 Uhr 15 im ZDF waren. Deshalb war der empfundene Unterschied zwischen Fernsehen und Film keineswegs so, als würde man nach Jahren in der Besenkammer endlich auf ein großes, freies Feld treten. Gleichwohl war es so, als trete man nach Monaten im Wohnzimmer endlich mal wieder hinaus auf die Straße mit all ihren Möglichkeiten. Wir hingen als Fernsehenthusiasten ja selbst dem Irrglauben an, dass Fernseh- oder Kinoproduktion heute schauwertig keinen großen Unterschied mehr macht. Der Unterschied ist allerdings nach wie vor gewaltig genug. Wer es nicht glaubt, kann den Test mit einfachen Mitteln zu Hause selbst durchführen. Erst mal ein Kind machen (notfalls adoptieren, es muss aber so klein wie möglich sein), der Rest ergibt sich von alleine.

„Aber die Geschichten! Die Geschichten, vertrackt und trickreich über mehrere Staffeln erzählt, die sind doch viel komplexer als in Spielfilmen!“ Nein, sind sie nicht. Serien dehnen, verdünnen und repetieren ihre Geschichten lediglich so lange, bis der Einstellungsbescheid kommt. Dann muss plötzlich alles ganz schnell sinnvoll zu Ende gehen. Das tut es in den seltensten Fällen, weil Geschichten Fernsehautoren eben nicht so wichtig sind, wie ihnen oft von wohlmeinenden (und nicht sehr aufmerksamen) Zuschauern unterstellt wird. Heute rümpft man gern die Nase über Opas wöchentliche Fernsehserie, in denen verlässlich in 45 Minuten ein Mörder gefasst, ein Monster getötet, ein Konflikt gelöst wurde, und nächste Woche dann wieder von vorne. Tatsächlich ist diese Form des Geschichtenerzählens weitaus anspruchsvoller als das unverbindliche Strecken und Verstricken von Handlungssträngen, bis ohnehin jeder die Übersicht über jedes einzelne Detail verloren hat. In Opas Fernsehen musste jede Woche aufs Neue eine Geschichte mit Hand und Fuß erzählt werden, und die musste glaubhaft machen, dass es sich nicht um denselben Mörder, dasselbe Monster, denselben Konflikt wie letzte Woche handelte. Wer etwas von Literatur versteht (also anders als der gemeine Fernsehkritiker oder Sommerschmökerlistenanleger), der weiß, dass die Kurzgeschichte die Königsdisziplin ist. Roman kann jeder. Ein Roman darf mal durchhängen, sich vorübergehend verlaufen. Die Kurzgeschichte hingegen kann sich keine einzige Schwachstelle, kein falsches Wort leisten. Zugegeben, der Vergleich hinkt ein wenig, denn Literatur und Fernsehen sind ja eben nicht dasselbe, wie ich schon sagte, dumdidum.

Am liebsten ist mir heute das offiziell mittelmäßige Fernsehen. Also Serien mit maskierten und kostümierten Protagonisten, die man bei entsprechender Sozialisation aus Comicheften kennt. Ich würde gerne mehr Comics lesen, doch geht es nicht. Ich habe es verlernt, Bild und Text gleichzeitig die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken, und das sollte der ernsthafte Comicleser schon tun. Ich weiß nicht, ob ich ein neues Gehirn oder eine neue Brille brauche, irgendwas funktioniert da jedenfalls nicht mehr richtig. Film und Fernsehen sind zum Glück weniger anspruchsvolle Medien als das Comicheft. Sie sind so leicht konsumierbar, dass sogar ich es schaffe. Beim offiziell anspruchsvollen Fernsehen war schon seit Jahren nichts mehr dabei, was mich ähnlich dauerhaft bei der Stange halten konnte wie Grüner Pfeil und Roter Blitz und alle ihre Freunde.

Von Gotham allerdings musste ich mich relativ schweren Herzens trennen. Es stellte sich heraus, dass ich unnötig explizite Gewaltdarstellung (nicht zu verwechseln mit notwendig expliziter Gewaltdarstellung) und hysterisches Dauerfeixen nicht mehr so leichtfertig verknuse wie mit 16. Wer konnte das ahnen? Da bleibe ich lieber beim Original aus den 60ern. Genauso albern, aber weniger zynisch.

Mir ist bewusst, dass die genannten Serien keine große Kunst sind. Doch sind sie goldenes Handwerk, und das ist nicht nichts. Handwerk kann nur dann wirklich golden sein, wenn es mit Liebe verrichtet wird, und Liebe ist doch schön. Im Zweifel ist mir ein mit Liebe geschaffenes Werk lieber als ein mit kühlem Intellekt berechnetes. Im Idealfall natürlich gerne beides auf einmal. Aber wann bekommt man im Leben schon den Idealfall?

Mit dem, was die anderen Kinder in letzter Zeit offiziell anspruchsvoll fanden, hatte ich, wie gesagt, so meine Probleme. Breaking Bad habe ich ausgelassen, weil ich Drogenhändler so doof finde. Game of Thrones hätte ich vor dem Sehen gern gelesen, und die fünfjährige Probezeit hat das erste Buch der Reihe ja auch bestanden. Dann allerdings fängt man an zu lesen, und die Leute und Ortschaften haben alle so komische Namen, dass man sofort wieder 14 Jahre alt ist und im Rollenspielkeller sitzt und denkt: Mist – Paladin der siebzehnten Stufe, aber Mathe nicht gemacht. Hoffentlich lässt Nicky mich abschreiben. So was kann ich nicht lesen, da bekomme ich Beklemmungen. Es liegt nicht am Stoff, es liegt an mir.

Egal ob herrlich mittelmäßig oder aufdringlich anspruchsvoll – das beste Fernsehen wird heute von Fernsehsendern produziert. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es klingt. Eine ähnlich oft gehörte Unsinnsbehauptung wie die, dass das Fernsehen der neue Roman sei, ist die, dass Opas Fernsehsender einpacken können, weil die besten Serien jetzt von Internetfirmen produziert würden. Ich weiß nicht von welchen, in meinem Internet laufen sie wohl nicht. Dass, was ich da an Streaming-Produktionen sehe, kann für richtiges Fernsehen keine Konkurrenz sein. Die unsympathischen und langweiligen Menschen von Transparent hätte ich gerne nach zehn Minuten ausgeschaltet, aber meine Frau fand, wir sollten ihnen zwanzig geben. Die ersten drei Minuten von Lady Dynamite gehören zum unlustigsten, unoriginellsten, stümperhaftesten, hochnotpeinlichsten, was ich jemals gesehen habe. Da ich es zu meinem und ihrem Glück ohne meine geduldige Frau gesehen habe, kann ich den Rest nicht beurteilen. Daredevil und Bosch … ach, wer bin ich denn, dass ich jetzt jede nichtsehenswerte Fernsehserienimitation aus dem Internet mit Gift und Galle aufwerte? Die einzige, die ich dauerhaft gerne sehe, ist House of Cards. Und das liegt nun nicht daran, dass sie so atemraubend und anspruchsvoll wäre, sondern dass sie so ein angenehmes Hintergrundsummen für den Feierabend macht. Es passieren ungefähr zwei aufregende Dinge pro Staffel, das reicht. Das Leben ist schon aufregend genug.

Selbstverständlich warte ich noch nicht sehnsuchtsvoll auf die nächste Staffel von House of Cards, denn ich bin mit der letzten längst nicht durch. Das sogenannte Koma-Gucken (dt.: Binge-Watching) ist in meinem Haushalt streng untersagt. Mehr als eine Folge pro Tag ist nicht gut für die Konzentration, und eine ungeheure Respektlosigkeit gegenüber denen, die sich viel Mühe gegeben haben, jede Folge so schön wie möglich hinzukriegen.

So, was habe ich noch auf dem Zettel?

Aha, irgendwas mit E-Books, und etwas über die Popeligkeit des demonstrativen Garnichtfernsehens. Das lass ich jetzt mal weg, Sie haben ja bestimmt auch noch was vor.

Der Weg ins Glück führt steil bergab [Kaiho-Kolumne]

Proömium

Dies ist meine allerletzte Kolumne aus der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern. Eigentlich ist sie ein wenig geschummelt, denn sie sollte gar keine werden. Eigentlich ist dies ein Fragment einer (noch) längeren Geschichte, die ich einer dieser modernen Zeitschriften für junge urbane Eltern mit Bart anbieten wollte. Kurz nachdem ich überoptimistisch mit dem Schreiben angefangen hatte, merkte ich allerdings, dass ich genau wegen des im folgenden geschilderten Einschnitts in die Lebensumstände gar keine Zeit hatte zum Schreiben und Verfeinern und Polieren und dann alles noch mal. Drum habe ich einfach das, was ich schon hatte, in diese Abschiedskolumne gepackt, die ich den guten Menschen der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern etwas unüberlegt versprochen hatte.

Ich habe versucht, den im Text besungenen Hügel fotografisch festzuhalten, bin ihm aber nicht gerecht geworden. Weil trotzdem ein Bild an dieser Stelle schön wäre, füge ich eines des Stundenhotels ein, das die Skyline meines Wohnviertels geschmackvoll dominiert. Im Text findet dieses Bild allerdings keinen Widerhall. Nach der Fotografie geht ohne weitere Umschweife die eigentliche Kolumne los.

Seit Anfang März lebe ich in Tokio, der Heimatstadt meiner Frau, meiner obersten Wohlfühlstadt seit bald 20 Jahren. Die Stadt, an die meine 19 Monate alte Tochter Hana irgendwann Kindheitserinnerungen haben wird, hoffentlich angenehme.

In der Woche vor Ostern wache ich in drei Nächten hintereinander deutlich vor Morgengrauen auf und bin hellwach. Mir ist schwindelig, mein Magen hat sich verknotet, in meinen Beinen zetert ein diffuser Fluchtreflex, doch meine Knie sind für Flucht zu wackelig. Einschlafen kann ich nicht mehr.

Erdbeben sind nicht schuld, denn die potenziellen Erdbebengebiete sind weit weg. Ich bin für eine Woche wieder in München, um mit meiner alten Heimat letzte Formalitäten auszuhandeln.

Bevor ich temporär nach München zurückkehrte, hatte ich bereits die Befürchtung, mir könnte mulmig werden. Dass ich plötzlich doch die Richtigkeit meiner Entscheidung anzweifeln würde, auf Biergarten und Leberkäse nicht würde verzichten wollen. Meine tatsächliche Mulmigkeit allerdings, so merke ich, hat nichts mit dem Konflikt zwischen alter und neuer Heimat zu tun. München kommt mir schon nach kurzer Abwesenheit gespenstisch leer, leise und langsam vor.

Der Gedanke an unsere Wohnung in Japan kann es ebenfalls nicht sein, was mich mit Schrecken und Schlaflosigkeit erfüllt. Die drei Zimmer sind überraschend menschenwürdig geschnitten. Und obwohl man aus den Fenstern erwartungsgemäß nicht viel mehr sieht als die Dächer und Außenwände der Häuser nebenan, konnte die junge Hana gleich bei unserer ersten Besichtigung der Aussicht etwas abgewinnen. Sie streckte den Zeigefinger in Richtung Fenster und rief aufgeregt: „Piep-piep!“

Hin und wieder machen wir uns Sorgen, dass Hana ein wenig ist wie der kleine Junge aus dem Film The Sixth Sense. Sie deutet häufig auf Dinge, die wir nicht sehen können, und behauptet steif und fest, sie wären sehr wohl dort. Bei genauerer Überprüfung stellt man fest, dass da wirklich ein „Wau-wau!“ ist, in 200 Metern Entfernung, wenn man ganz genau hinsieht. Beim Piep-piep-Zwischenfall in unserer Tokioter Wohnung allerdings war ich schon drauf und dran sie zu maßregeln: „In diesem Moloch von einer Stadt gibt es keine Piep-piep! Hier piepen zwar Ampeln, Kühlschränke und Badewannen, aber sicherlich keine Vögelein.“ Doch als ich mich zu ihr herunterbeugte und aus ihrer Perspektive durchs Wohnzimmerfenster schaute, sah ich, dass dort tatsächlich Vöglein flatterten. An einem Baum, der aus dem Dach des Häusleins gegenüber wuchs. Sie zwitscherten, als wollten sie uns in ihrer Nachbarschaft begrüßen.

Sicherlich hatten wir in Deutschland für ungefähr dasselbe Geld deutlich mehr Platz. Doch dass Tokio nicht die paradiesischen Billigmieten von München zu bieten hat, haben wir gewusst und in Kauf genommen. Nicht gewusst hatten wir von dem Hügel, der zwischen unserem Bahnhof und unserem Wohnhaus liegt. Präziser liegt der Bahnhof auf dem Hügel und unser Haus an dessen Fuße. Es geht so steil bergauf beziehungsweise bergab, dass man es sich selbst in sportlicher Topform mehrfach überlegt, ob man nicht einen signifikanten, aber geringfügig weniger steilen Umweg nimmt, oder gleich den Bus. Doch auch den Hügel haben wir in unser Herz geschlossen. Er ist wie ein Symbol für all die Hindernisse, die wir bereits überwunden haben. Und eine Erinnerung daran, dass einige Hindernisse stets aufs Neue überwunden werden müssen.

Gegen unsere Nachbarschaft in Tokio ist München Flachland. Wo ich dort schon wach bin, bevor der Bäcker aufmacht, habe ich wenigsten Muße, ein paar meiner vielen vernachlässigten E-Mails zu lesen. In einer Nachricht erwähnt meine Literaturagentin, dass bald mit Geld von diesem, vielleicht auch von jenem Verlag zu rechnen sei. Mein erster Gedanke: „Ach, wie schön, Geld.“ Mein zweiter: „Oh, wie schrecklich, plötzlich auf dieses Geld angewiesen zu sein.“ Genau das ist nämlich der springende Punkt, der Grund für meine selbstdiagnostizierten Panikattacken. Bisher war ich finanziell nicht auf das gelegentliche Buch und den gelegentlichen Artikel angewiesen. Bisher war die Entlohnung dafür ein willkommenes Zubrot, ein Aufbessern der Urlaubskasse, ein Stern mehr beim nächsten Essen oder der nächsten Übernachtung. Das sieht nun anders aus. Da meine Frau in Japan einer anständigen Arbeit nachgehen wird, muss ich mit meinem ehemaligen Hobby nicht allein das Überleben der Familie sichern. Aber ich muss doch mehr beisteuern, als wir anfangs gedacht hatten. Zu behaupten, der Umzug sei ein bisschen teurer ausgefallen als berechnet, wäre stark untertrieben. Er ist bis jetzt mehr als doppelt so teuer ausgefallen, und die allerletzten Ausgaben sind noch nicht gemacht. Dass ich nun nicht etwa schreiben darf, sondern schreiben muss, ist das, was mich lähmt und am Schreiben sowie am Schlafen hindert. Das zumindest ist mein erster Verdacht.

Zu meiner Überraschung multiplizieren sich meine Ängste nicht, als ich wieder in Tokio lande und nun wirklich nicht mehr zurückkann. Nicht mehr zurück in die alte Wohnung, nicht mehr zurück in den alten Job, nicht mehr zurück in das alte Leben. Tatsächlich bin ich geradezu von Euphorie erfüllt, als ich mit meinem Rollgepäck den Hügel vom Bahnhof in mein neues Leben hinunterstolpere. Um zu begreifen, dass ich wirklich da bin, wo ich immer sein wollte, musste ich erst einmal dort ankommen. Was mir Angst bereitet hatte, war die Vorstellung davon. Die Realität scheint zu ertragen zu sein.

Wieder wache ich am nächsten Morgen zu einer Zeit auf, die eigentlich eher Nacht ist. Diesmal jedoch ist es nicht die Existenzangst, diesmal ist es der Tatendrang. Während Frau und Kind sich noch auf dem Futon rekeln, setze ich mich an den umgestülpten Umzugskarton, der vorerst mein Schreibtisch ist, und schreibe. Ohne Furcht und voller Zuversicht.

Und vor dem Fenster geht die Sonne auf, und die Vöglein sagen: „Piep-piep!“ Und bald wird auch Hana aufstehen, „Piep-piep!“ oder „Wau-wau!“ rufen und auf etwas deuten, was ich noch nicht sehen kann, was aber da sein wird.

Japan sucht die Superskandalnudel [Kaiho-Kolumne]

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Auf einer meiner ersten Reisen nach Japan dachte ich einmal, ich hätte SMAP gesehen. Ich hatte damals allerdings fast keine Kenntnis der Sprache und nur lückenhafte Kenntnis der Eckpfeiler der Gegenwartskultur des Landes. Soll heißen: Ich verstand nichts und wusste eigentlich gar nicht, wer oder was SMAP ist. Es ist schon interessant, welche Schlüsse sich das Gehirn manchmal zusammenreimt, wenn es sich ausschließlich auf visuelle Informationen verlassen muss. Die Situation war folgende: In einem mittelkleinen Plattenladen in Tokio trat eine Band vor ein paar höflich klatschenden Zufallszuhörern auf. Hinter ihnen hing ein Werbeplakat, auf dem irgendwas mit „SMAP!“ stand, und das wohl ein neues Album einer Popgruppe dieses Namens annoncierte. Also dachte ich mir, während ich mir die Band ansah: Das sind also SMAP. Falls die mal groß rauskommen, kann ich mich damit brüsten, dass ich sie bei einem ihrer ersten, bescheidenen Gigs in einem der unauffälligeren Läden der Stadt gesehen habe.

Ich habe mich dann fortan tatsächlich damit gebrüstet. Denn dass SMAP es geschafft haben, war mir irgendwann vage bewusst geworden. Man hat mir die Geschichte mal mehr, mal weniger abgenommen; je nachdem, wie sehr ich bei der Wahrheitstreue ins Detail gegangen bin.

Selbstverständlich war das alles ein riesengroßes Missverständnis meinerseits, wie ich später einsehen musste. Das Plakat hing nur zufällig dort, es war halt ein Plattenladen, und hatte nichts mit dem gerade im Laden auftretenden Akt zu tun. Wie der hieß, weiß ich bis heute nicht. Falls sie groß rausgekommen sind, habe ich es nicht mitbekommen, oder sie nicht wiedererkannt. SMAP, so weiß ich inzwischen, waren schon damals die ganzheitliche Personifizierung der japanischen Unterhaltungsindustrie und hätten bestimmt kein intimes Ladenkonzert geben können, ohne eine Massenpanik auszulösen. Als Boyband waren sie gestartet, als Herrenband sind sie noch immer dick im Geschäft. Doch die Musik ist nebensächlich angesichts der Koch-, Quiz-, Talk- und Mischmasch-Shows, die die SMAPs gemeinsam oder getrennt voneinander im Fernsehen moderieren, ganz zu schweigen von ihren mannigfaltigen Auftritten in Kinofilmen, Fernsehserien und Werbekampagnen.

SMAP waren zuletzt mehr noch als sonst in den Nachrichten aller Medien präsent, als herauskam, dass sich einige von ihnen von ihrem langjährigen Management trennten. Eine Teiltrennung vom Management schien nicht praktikabel für die Band als Ganzes, so machten schnell Gerüchte um eine komplette SMAP-Zerschlagung die Runde. Einige Leitmedien berichteten darüber in den Hauptnachrichten. Andere Leitmedien fragten kritisch, ob so was in die Hauptnachrichten gehöre. Schweigen mochte niemand. Premierminister Abe äußerte den Wunsch, SMAP mögen zum Wohle der Nation zusammenbleiben. Die Bandmitglieder sagten schließlich zu allgemeiner Erleichterung: „Wir schaffen das!“

Als das nationale Klatschgewitter über SMAP hereinbrach, war ich hocherfreut. Nicht, dass ich ihnen etwas Böses wünsche. Ich bin aus dem Alter raus, in dem man sich an negativer Energie berauscht. Als Fernsehpersönlichkeiten finde ich die Smappys nicht unangenehm, mit ihrer Musik bin ich nach wie vor nicht vertraut. Wahrscheinlich gefiele sie mir nicht, aber damit können vermutlich beide Parteien leben. Der Grund, warum ich die negative Aufmerksamkeit für SMAP begrüßte, war der, dass sie zumindest für einen Moment die negative Aufmerksamkeit von TV-Talent Becky abzog. Die quirlige britisch-japanische Unterhaltungskünstlerin war nämlich gerade arg in die Boulevard-Schusslinie geraten, aufgrund von Dingen, die sich eventuell in einem Hotelzimmer mit einem verheirateten Mann zugetragen haben. Becky war mir stets wichtig, und sie ist es noch mehr, seit meine deutsch-japanische Tochter Hana auf der Welt ist. Der Umzug unserer Familie nach Tokio steht unmittelbar bevor, und mein geheimer Plan war es immer gewesen, Hana an die japanische Unterhaltungsindustrie zu verkaufen oder zumindest auszuleihen, falls es mal wirtschaftlich eng wird. Bitte verraten Sie es nicht meiner Frau, es soll eine Überraschung werden. Becky schien mir da immer ein gutes Vorbild. Sie scheint aufrichtigen Spaß an den Nichtigkeiten zu haben, die sie tut, und trotzdem ein ganz aufgewecktes, vernünftiges Persönchen zu sein. Sollte dieser Skandal ihr nachhaltig schaden, stehen meine Argumente auf unsicherem Grund.

Leider kochte die Becky-Sache wieder hoch, nachdem der SMAP-Krach abgeklungen war. Jetzt setze ich alle meine Hoffnungen in die Baseball-Legende Kazuhiro Kiyohara, die letztens wegen Drogenbesitzes verhaftet wurde. Entsprechende Gerüchte hatte es um den Mann immer gegeben, man hatte ihn schon früher mit Yakuza beim Golfspielen erwischt, und er hatte einst in einer SMAP-Talkshow gestanden, tätowiert zu sein, was in Japan im Grunde genommen ein Blanko-Schuldgeständnis für alles Mögliche ist.

Also, liebe Geier, stürzt euch auf Kiyohara, wenn ihr euch unbedingt stürzen müsst. Lasst Becky in Ruhe. Wir brauchen sie noch. Ich brauche sie noch.

Nachtrag aus der Gegenwart

In einem zweistündigen Event-Interview im Fernsehen wurde die Causa Becky inzwischen weitgehend beigelegt. Selbstverständlich in einer SMAP-Talkshow, und selbstverständlich ging es in ca. 90 von 120 Minuten in erster Linie darum, was vor dem Interview von den Beteiligten gegessen wurde, wo die Zutaten geerntet und wie sie zubereitet wurden. Konsens in der Bevölkerung ist, dass Becky sich ordentlich genug geschlagen hat, um ihr mehr oder weniger zu vergeben.

Kazuhiro Kiyohara ist mit vier Jahren auf Bewährung davongekommen.

Endlich: Ip Man gegen Ninja

Es ist jetzt schon so lange her, dass ich eine Scheibe nur für mich allein in den heimischen Blu-ray-Player legen konnte, dass ich befürchtete, als ich es neulich doch einmal wieder tat, ich könnte ungefähr so eine Botschaft auf dem Bildschirm angezeigt bekommen:

Warning: There was a problem with your disc. This is not a Biene Maja disc. Are you sure you want to continue? [Yes] [No] [Hü-hüpf]

Der Film, den ich mir anstatt Willi zieht aus oder Knacks im Schneckenhaus an meinem freien Vormittag gönnen wollte, war Ip Man 3. Natürlich nicht den ganzen Film auf einmal, so frei sind meine freien Vormittage nun wieder auch nicht, irgendwann muss ich schließlich diese blöden Bücher schreiben, so lautet die Abmachung. Mein Plan war: Eine Hälfte jetzt, wo die Familie aus dem Haus ist, eine Hälfte später, wenn die Familie im Bett ist. So muss niemand etwas davon mitbekommen, dass ich noch immer einen freien Willen habe, ahahaha!

Nur für die, die sich nicht gewohnheitsmäßig mit Kung-Fu-Legendenbildung und Kung-Fu-Kino auseinandersetzen: Ip Man war ein chinesischer Kung-Fu-Meister, der heute vor allem als Lehrer von Bruce Lee bekannt ist. In den letzten Jahren vermehrt Gegenstand von Spielfilmen, die drei mit Kampfkunstkinosuperstar Donnie Yen sind darunter die beim einfachen Volk beliebtesten, wenn auch nicht die künstlerisch gelungensten.

In der Nacht nach dem freien Vormittag dann allerdings, als die Möglichkeit gekommen war, den Film unbemerkt fortzusetzen, dachte ich plötzlich: Ach, ich würde jetzt lieber etwas weniger Primitives und Blödsinniges als Ip Man 3 sehen. Also habe ich mir Ninja III: The Domination angesehen.

Die Handlung dürfte bekannt sein: Christie ist Telekommunikationsentstörungstechnikerin bei Tag, Aerobic-Trainerin bei Nacht, und nach Bestrahlung durch einen Telespielautomaten wird sie vom Geist eines echten Ninja besessen (basierend auf einer wahren Begebenheit).

Nur für alle, die nicht wissen, was ein echter Ninja ist: Franco Nero ist ein echter Ninja.

Ninja III: The Domination ist so faszinierend, dass ich, anders als geplant, nicht nur kurz vorm Schlafengehen reinschaute, sondern gleich den ganzen Film durchnahm. Das hatte natürlich Konsequenzen, zum Beispiel konnte ich am nächsten Morgen um fünf nicht mit voller Konzentration Biene Maja sehen. Wie schön, dass ich die Folge Der Schmetterlingsball schon ungefähr 487 Mal in den vergangenen Tagen gesehen hatte (Lieblingsfolge meiner Tochter, wegen: „Flap-flap!“).

Ninja III: The Domination ist außerdem so absurd, dass man erst mal gar keine Meinung dazu haben kann. Im Gegensatz zu Ip Man 3, der so absurd ist, dass man dazu schon eine Meinung hat, bevor der Film halb rum ist.

Bei Ninja III: The Domination handelt es sich um eine Produktion der Cannon-Studios, die ihre bedeutendsten Werke in den 1980ern schufen, vor allem in den Bereichen des Ninja- und Lambada-Films. Obgleich ich von Alters Wegen genau in die Generation Cannon passe, habe ich mich erst in den letzten Jahren ausführlicher mit ihrem Oeuvre befasst, im Zuge meiner phantomnostalgischen Lebensphase (nostalgische Gefühle für etwas, das eigentlich gar kein Teil der eigenen Biografie ist, siehe hier, irgendwo unten, glaube ich) und bestärkt durch die großartige, großartige, großartige (sagte ich schon: großartige?) Dokumentation Electric Boogalooo.

Als Teenager war ich zu qualitätsbewusst und hatte von Cannon nur die ganz großen Tentpole-Flagship-Milestone-Event-Blockbuster wie Masters of the Universe mitgenommen.

Die gingen meist finanziell in die Hose, ganz anders als die preiswerteren Ninja- und Modetanzfilme des Studios. Mit Ninja III: The Domination ist Cannon eine kongeniale Quasi-Symbiose seiner Kernkompetenzgenres gelungen.

Die Ip-Man-Filme mit Donnie Yen waren von Anfang an eine ideologisch fragwürdige Angelegenheit. Ihre latente Fremdenskepsis konnte im ersten Film noch schöngeredet werden, schließlich spielte er in den 1940ern, und die Fremden waren die Japaner, und die waren ja nun wirklich die Bösen. Im zweiten Teil wird das Feindbild mit Hongkongs britischen Kolonisten schon etwas verzerrter, aber mit viel gutem Willen kann man die finale ‚Können wir uns nicht einfach alle vertragen?‘-Ansprache mildernd anrechnen. Ip Man 3 überspannt den Bogen deutlich. Alle Ausländer sind hinterhältig und gemein, manche obendrein noch dumm und feige, werden unwidersprochen als „fremde Teufel“ bezeichnet, die es zu vertreiben gelte. Mir ist durchaus bewusst, dass ‚fremde Teufel‘ ein geflügelter Ausdruck im Chinesischen ist. Wenn er allerdings in einem Film aus dem 21. Jahrhundert fällt und die gute und weise Hauptfigur dazu nur zustimmend lächelt, dann ist das arg fahrlässig, selbst wenn der Film im finsteren 20. Jahrhundert spielt. Ich muss mich korrigieren: Das ist nicht fahrlässig, das ist mutwillig und kalkuliert. Dieser Film-Ip-Man soll der überlebensgroße Volksheld werden, der alle Chinesen heim ins Reich holt.

Viele Anhänger des Hongkong-Kinos sehen die Annäherung der Volksrepublik an die Sonderverwaltungszone eher als Fluch denn als Segen. Sie befürchten staatliche Zensur oder zumindest den vorauseilenden Gehorsam vor potenzieller staatlicher Zensur genauso wie vor dem angenommenen Geschmack des Festlandpublikums (alles Reisbauern und Wanderarbeiter, die nur Furzwitze und 3D-Effekte verstehen). In meiner Sichtweise hingegen überwiegt das Segenreiche: die größeren Budgets, das größere Reservoire an Talenten, Themen und Orten. Etablierte Regisseure wie John Woo oder Johnnie To haben im Zeitalter der chinesisch-chinesischen Koproduktion kreativ eher zugelegt als nachgelassen. Sicherlich gibt es auch junge Talente, aber junges Kino verfolgt man in meinem Alter nicht mehr.

Gleichwohl möchte ich nicht leugnen, dass es ihn gibt, den gesamtchinesischen Parteipropagandakintopp, und Ip Man 3 ist das hässlichste Beispiel dafür (zumindest unter den Machwerken, die man außerhalb Chinas überhaupt zeigen kann, ohne von der ganzen Welt ausgelacht zu werden).

Nun gibt es selbstverständlich noch die Auffe-Fresse-Fraktion, die nölt: „Mönsch, das ist doch reine Unterhaltung! Hauptsache auffe Fresse!“ Wir wollen gar nicht wieder davon anfangen, dass es reine Unterhaltung nicht gibt, und dass die, die am vehementesten das Gegenteil behaupten, genau die sind, die man am genauesten beobachten sollte (oh, jetzt habe ich doch wieder davon angefangen). Leider hat Ip Man 3 keinerlei Ausweichqualitäten, auf die man sich konzentrieren könnte im Versuch, den Propagandaquatsch auszublenden. Als Biopic taugt keiner der Donnie-Yen-Filme, denn die sind in etwa so authentisch biografisch wie diese Romane, in denen Elvis Presley Kriminalfälle löst. Eine kompetente Würdigung von Ip Mans Wing-Chun-Stil findet schon gar nicht statt, hier wird eher Drahtseilakrobatik als Kampfsport geboten. Mich stört das nicht, aber Auffe-Fresse-Puristen haben damit häufig Probleme. Donnie Yen ist zweifelsohne und mit Recht der weltgrößte Martial-Arts-Star über 50 und unter 60. Aber seinen sportlichen Zenit hat er, völlig verständlich, deutlich überschritten. Er sollte sich schleunigst nach anderen Arten von Rollen umsehen (das Talent dafür hätte er), bevor er endet wie Jackie Chan oder Jet Li.

Und jetzt kommt der Hammer

Äh … ich muss Ihnen etwas sagen … meine ganze, etwas übereifrige Beschwerde bezieht sich nur auf die erste Hälfte des Films. Ich schrieb zu früh, ich war sehr aufgebracht, die Pferde sind mit mir durchgegangen. Inzwischen habe ich mir zuerst widerwillig, dann recht angetan den Rest des Films angesehen. Nach einer ersten Hälfte, die alles falsch macht, folgt eine zweite, die alles richtig macht (wenn auch nicht alles Falsche wiedergutmacht): charakterbetont, gefühlvoll (also schnulzig, das ist ja nichts Schlimmes, ist halt Kino) und ordentlich auffe Fresse. Die Story über die fremden Teufel, die den chinesischen Kindern (Kindern!) die Schule stehlen wollen (die Schule!) wird einfach sang- und klanglos abgebrochen (vielleicht der längste McGuffin der Welt). Danach geht es um die Krebserkrankung von Ip Mans Frau (eine sträflich vernachlässigte Figur in den ersten beiden Filmen) und, wie in jedem Martial-Arts-Film, um die Rivalität mit einem anderen Kung-Fu-Meister. In dessen Darsteller Max Zhang, der drolligerweise bereits eine ähnliche Rolle im überlegenen Ip-Man-Konkurrenzfilm The Grandmaster spielte, hätte übrigens Donnie Yen schon einen würdigen (wenn auch selbst nicht mehr ganz jungen) Nachfolger gefunden. Am schönsten und heftigsten auffe Fresse gibt’s von ihm. In echt hätte er wohl den Donnie windelweich vermöbelt, aber in der großchinesischen Filmwirtschaft hat man Respekt vorm Alter, so bleibt Ip Man siegreich.

Vom Vorwurf der rasenden Fremdenfeindlichkeit kann man den Film freilich nicht ganz freisprechen, nur weil sie in der zweiten Hälfte irgendwie vergessen wurde. Dennoch wird sie ein ganz klitzekleines bisschen abgemildert, wenn sich der ausländische Oberschurke (Mike Tyson natürlich) immerhin als halber Ehrenmann erweist, als er zu seinem Wort steht und sich nach fair verlorenem Kampf einfach so aus dem Film verzupft. Es ist nicht viel (Tysons Rolle ist ohnehin nicht viel, die Marketingkampagne ist eine Lügenmarketingkampagne), doch es ist ein Strohhalm, an den sich der Apologet, dem es sehr nach Auffe-Fresse durstet, notfalls klammern kann.

Eigentlich möchte ich nur richtigstellen: Es könnte sein, dass Ip Man 3 in mancher Hinsicht (nicht in jeder) doch ein besserer Film ist als Ninja III: The Domination. Ganz sicher bin ich mir aber nicht. Und die Beste bleibt natürlich Biene Maja.

Purple Rain mit Papa

Zwei Aspekte haben mich an vielen Nachrufen auf David Bowie sehr gestört. In nicht wenigen war die Behauptung zu lesen, mit ihm sei nun wirklich der Letzte der „ganz Großen“ gestorben. Gemeint war wohl der Letzte der ganz großen Rock- und Popstars, und damit gemeint war wohl der Letzte der ganz großen männlichen und weißen Rock- und Popstars. Ansonsten wären mir ganz spontan noch Prince und Madonna eingefallen, und weniger spontan wahrscheinlich noch weitere.

Nun bin ich inzwischen konservativ genug, um gelegentlich mit den Augen zu rollen, wenn reflexartig jeder Zeitungsmeldung Sexismus, Rassismus, Ageismus, Ableismus oder Shapismus angedichtet wird, so sie es auf 10 Zeilen nicht schafft, jeden Standpunkt der Welt zu berücksichtigen und jeden Menschen der Welt persönlich anzusprechen. (Sollte ich einen -ismus übersehen haben, entschuldige ich mich in aller Form, das hätte niemals passieren dürfen.) In diesem Fall fand ich die Ignoranz weiter Teile der Musik- und Tagespresse allerdings durchaus zum Ohrenschlackern, unter Umständen sogar zum Aufschreien. Nicht nur sexistisch und rassistisch, sondern auch noch stinkefaul und inkompetent, denn selbstverständlich haben auch etliche große weiße Männer Bowie überlebt. Irgendwo in einem Kornfeld steht Neil Young und sagt mit leisem, hellem Stimmchen: „Hallo?“ (Er meint natürlich: „Hallo? Und was ist mit Bob? Und Leonard? Und Bruce? Und so weiter?“)

Der zweite Aspekt, der mich an vielen Nachrufen störte, war die respektlose Verfehlung des Themas. Vermutlich denkt man als ewigjugendlich-rebellischer Musikjournalist: „Ach, sich nur von Station zu Station in Werk und Leben des Verstorbenen zu hangeln ist langweilig und boring. Ich erzähle lieber von mir, mir, mir, und wie viel mir, mir, mir dieser … äh … Dingsbums bedeutet hat.“ Das gehört sich nicht. So viel Respekt sollte man vor Verstorbenen schon haben, dass man sich selbst für einen kurzen Augenblick zurücknimmt und vom Verstorbenen erzählt, und nicht von den Postern im eigenen Jugendzimmer.

Gleichwohl werde ich es jetzt genau so machen, wenn ich einen vom Prince erzähle. Allerdings tue ich es in meinem eigenen kleinen, unbedeutenden Blog, und nicht im Hauptteil einer überregionalen Tageszeitung. Selig ist der, der den Unterschied kennt.

Zum ersten Mal nahm ich mit dem Lied, vielleicht in erster Linie mit dem Video, 1999 Notiz von Prince. Das Lied gefiel mir sehr gut, die Keyboarderinnen gefielen mir viel besser. Wie sie angezogen waren, wie sie sich bewegten, und wie sie guckten. Wie sie Keyboard spielten, konnte ich nicht beurteilen.

Das erste Prince-Album, das ich mir kaufte, war selbstverständlich Purple Rain. Den Film zum Album sah ich zusammen mit meinem Vater im Kino, was keine gute Idee war. Wir waren früher öfter zusammen ins Kino gegangen, Walt Disney und Bud Spencer, doch mit der Pubertät (meiner) schlief dieser Brauch erwartungsgemäß ein. Purple Rain war der unglückliche Versuch, daran etwas zu ändern. Sicherlich gibt es 80er-Jahre-Filme, die noch ungeeigneter sind, sie als unsicherer Teenager zusammen mit dem Vater anzuschauen. 9 ½ Wochen fällt mir spontan ein. Ansonsten allerdings nichts. Wir sind dann erst wieder zusammen ins Kino gegangen, als ich über 30 war (Herr der Ringe). Über Purple Rain haben wir nie richtig gesprochen. Erwischten wir gemeinsam Prince hin und wieder im Fernsehen, brummte mein Vater nur: „Den gibt’s immer noch?“

Mein liebstes Prince-Album war und ist Around the World in a Day. Weil ich mir mit ‘Condition of the Heart’ jeden jugendlichen Liebeskummer noch tiefer reinreiben konnte. Weil ‚Raspberry Beret‘ zu jeder Jahreszeit so frühlingshaft ist. Weil das Titelstück und ‚Paisley Park‘ so schön hippiemäßig sind, ohne ekelhaft hippiemäßig zu sein. Weil ich mir vorstellen konnte, das Geschlechtsverkehr irgendwie so wie ‚Temptation‘ sein muss. Und das Leben wie ‚Pop Life‘ und ‚The Ladder‘. Und Amerika wie ‚America‘. Nur zu ‚Tamborine‘ ist mir nichts eingefallen. Aber einen Aussetzer hat ja jede Platte.

Zu dieser Zeit fragte mich ein Schulkamerad: „Hörst du eigentlich jeden Tag Musik von Prince?“

Ich sagte: „Ja klar hör ich jeden Tag Musik von Prince!“

Die Antwort war reiner Reflex gewesen. Ich rechnete schnell nach, und stellte fest: Puh, es kommt hin, ich höre wirklich jeden Tag Musik von Prince.

Bis ich das nicht mehr tat. Graffiti Bridge von 1990 war das letzte Album meiner lückenlosen Prince-Phase. Ich verlor vorübergehend das Interesse, weil seine Musik wieder schwärzer wurde, und ich nicht. Wie viele rockorientierten weißen Männer wurde auch ich dann erst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter etwas funkier. Tatsächlich brach in den letzten Monaten so etwas wie meine zweite Prince-Phase an. Wegen Überseeumzug beschloss ich, meine Vinyl-Sentimentalität abzuwerfen und stattdessen eine CD-Sentimentalität zu kultivieren. Ich kaufte mir die Prince-Alben, die ich schon hatte, noch mal in kleiner und holte bei der Gelegenheit gleich einige der Alben nach, die ich ihrerzeit nicht mehr gekauft hatte. Die Genialität von Prince offenbart sich, genau wie die von Woody Allen, ja gerade in den schwächeren Werken. Die sind immer noch stärker als die starken Werke der meisten Mitbewerber. Überhaupt haben Prince und Woody Allen vieles gemeinsam. Neben dem geballten Sexappeal ist das vor allem das bewundernswerte Arbeitsethos. Ich glaube nicht, dass Prince wirklich ein Perfektionist war, wie ihm oft so gemein nachgesagt wird. Perfektionisten sind langweilige Erbsenzähler und Erbsenpoliere, die nie etwas gebacken bekommen, weil Perfektion eben unerreichbar ist, und wenn man das merkt, lässt man vor Schreck alle Erbsen fallen und fängt mit Zählen und Polieren wieder von vorne an. Prince derweil hat einiges gebacken bekommen, und langweilig war er ganz bestimmt nicht.

In die Nachbemerkungen zu meinem gottlob noch nicht gedruckten Roman Shinigami Games hatte ich zuletzt diese leichtfertigen Worte geschrieben:

Irgendwann zwischen dem Ende von ‚Yoyogi Park‘ und dem Anfang von ‚Roppongi Ripper‘ hatte ich aufgehört, beim Schreiben Musik zu hören. Zuerst aus Vergesslichkeit, dann aus Prinzip. Am Ende von ‚Shinigami Games‘ habe ich wieder zaghaft damit angefangen, so schnell kann das gehen. Fast ausschließlich Prince und David Bowie. Ich hoffe, das ist kein böses Omen für Prince.

Ich glaube, es war kein böses Omen. So wichtig nehme ich mein Hörverhalten in so hoher Gesellschaft nicht. Deshalb möchte jetzt enden, muss aber eines noch loswerden: „Ja, Papa, den gibt’s immer noch.“

Nagoya, mon amour fou [Kaiho-Kolumne]

In der (gerade noch so) aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Japan sucht die Superskandalnudel zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung.

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Neulich ist mir aufgefallen: Ich war schon lange nicht mehr in Nagoya. Als Spötter könnte man nun fragen: Warum auch? Nagoya hat den Ruf, das Hannover Japans zu sein. Etwas provinziell, etwas eigenschaftslos, ein Ort für Dienstreisen ohne Verlängerung. Dieser Wahrnehmung möchte ich zugleich beipflichten und ihr widersprechen. Nagoya ist tatsächlich so etwas wie das japanische Hannover. Allerdings hängt schon bei Hannover die allgemeine Wahrnehmung schief. Hannover ist schön, gemessen an seiner Größe überraschend urban, und von der subkulturellen Agilität könnte sich München gleich ein paar Scheiben abschneiden und wäre immer noch weit hinterher. Mein letzter Besuch Hannovers bestand aus Spaziergehen mit meinen Eltern. Mein vorletzter bestand aus dem Besuchen eines Punk-Konzerts mit einem PKW voller aufgekratzter betrunkener Jugendlicher. Für beides und vieles dazwischen bietet Hannover die ideale Kulisse.

Ich weiß nicht viel über die Underground-Szene Nagoyas, doch ich war von Anfang an angetan von der Unkompliziertheit und Urbanität der Stadt. Dieser Anfang war 2005, als in Nagoya die Weltausstellung Expo stattfand (fünf Jahre nach Hannover, drolligerweise). Genau die wollte ich mir anschauen, weil ich gerade in der ungefähren Gegend war und Gutes darüber gehört hatte (im Gegensatz zu Deutschland hört man in Japan manchmal Gutes über Großveranstaltungen). Meine Abfahrt nach Nagoya hatte sich jedoch verzögert, wodurch mir kaum genügend Zeit für eine ganze Weltausstellung geblieben wäre, wenn ich am selben Tag wieder abreisen wollte. Deshalb entschloss ich mich, die Expo sausen zu lassen und einfach planlos durch die Stadt zu laufen. Eine Stadt, die mir auf Anhieb gut gefiel und zum Weiterlaufen einlud. Danach gefiel sie mir so gut, dass ich beschloss, sie zur Basis meiner nächsten Japan-Reisen zu machen, denn ich war Tokio ein wenig überdrüssig geworden (unser Verhältnis ist inzwischen gekittet und unsere Liebe stark wie nie). Nagoya war mir die perfekte Alternative. In Osaka verlaufe ich mich immer. Sapporo und Fukuoka sind ein bisschen weit weg von allem. Gegen Kobe ist nichts einzuwenden, es hat mich aber nicht ganz mit dem gleichen warmen Bauchgefühl empfangen wie Nagoya. Und Kyoto … Kyoto ist natürlich schön. Es ist verboten, etwas anderes zu sagen. Wäre es nicht verboten, könnte man zugeben, dass Kyoto nur in seinen schönen Ecken schön ist. Wunderschön. Dazwischen ist die Stadt aber recht unattraktiv, was gerade an den strengen Bauvorschriften liegt, die verhindern sollen, dass Kyoto hässlich wird. Hässlichkeit kann ja ein Vorteil sein, eine eigene Form der Attraktivität. Kein Schwein hat irgendwelche Vorschriften erlassen, die Tokio vor der Hässlichkeit bewahren sollten. Das Resultat ist ein ganz wunderbares Monstrum. Kyoto hingegen ist außerhalb seiner ausgewiesenen Schönheitsgegenden recht fad. Nicht hübsch, nicht hässlich. Da kann man auch gleich in Nagoya bleiben, wo es eher so aussieht, wie es in einer japanischen Großstadt aussehen sollte.

Wie genau bin ich neulich dazu gekommen, seit längerem mal wieder an Nagoya zu denken? Für eine meiner Online-Präsenzen stellte ich einen Adventskalender mit Japan-Fotos zusammen, und dabei stieß ich auch auf Zeugnisse meiner Nagoya-Phase. Sofort überkam mich wieder die alte Liebe. Und doch stellte ich am Ende fest, dass ich kein einziges Nagoya-Foto für den Kalender ausgewählt hatte. So sehr ich diese Phase genossen habe, so wenig habe ich es geschafft, meine Liebe in überzeugende Beweisfotos zu verwandeln.

Eine Stadt ist eben mehr als ihre Sehenswürdigkeiten, mehr als der Glanz ihrer Oberfläche, oder die Abwesenheit oberflächlichen Glanzes. Manchmal ist ihr ganz besonderer Reiz schwer abbildbar, bezifferbar, beschreibbar. Manchmal ist es eben das Gefühl, das einen dort überkommt, das Je ne sais quoi. Das Gefühl, nach Hause zu kommen, obwohl man nie dort gelebt hat. Und so stimmt es: Nagoya ist das Hannover Japans. In anderen Worten: Die wohl unterschätzteste Stadt des Landes. Und sie wird es bleiben, denn sie ist etwas für den besonderen Geschmack. Man hat ihn, oder man hat ihn nicht. Man versteht es, oder man wird es nie verstehen.

Bring mich zum Kopf von Godzilla [Kaiho-Kolumne]

In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Nagoya, mon amour fou zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung.

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Es ist eine Unsitte unter Bewohnern und Besuchern gewisser Städte bei jeder Begegnung mit vermeintlich Exzentrischem der Welt lauthals zu verkünden: „Nur in New York!“ Beziehungsweise: „Nur in Berlin!“ Oder eben: „Nur in [Städtenamen selbst einsetzen]!“ Meistens sind die so geadelten Phänomene keineswegs sonderlich ortsgebunden, und der „Nur in XY!“-Rufer beschreibt weniger die Exzentrizität der gemeinten Stadt als vielmehr die Begrenztheit seines eigenen Horizontes. Ich bemühe mich also, nicht jedes Mal „Nur in Tokio!“ zu krakeelen, wenn ebendort eine bemerkenswerte Person, ein bemerkenswertes Ereignis oder ein bemerkenswertes Nudelgericht meinen Weg kreuzt.

Bei meinem letzten Besuch sah ich allerdings ein Hinweisschild an einem Gebäude, das man so wahrscheinlich tatsächlich „nur in Tokio!“ finden wird (und dass man schon zu lange dort ist, merkt man daran, dass man es zunächst kein bisschen seltsam findet):

1. Stock: Läden und Restaurants, 8. Stock: Café Bon Jour und Godzilla-Kopf

Ich muss zugeben, dass ich nicht gänzlich zufällig an dem Schild vorbeigekommen bin. Ich hatte es zwar nicht explizit gesucht, aber doch das, was es annoncierte: den Godzilla-Kopf. Der wurde vor nicht allzu langer Zeit auf dem Vordach eines Hotels in Kabukicho installiert, in Lebensgröße über das Vergnügungsviertel wachend, wenn nicht über die gesamte Stadt.

War meine Vorfreude groß, so wich sie zunächst einer milden Enttäuschung, als ich die Skulptur das erste Mal mit eigenen Augen sah. Es ist wie bei vielen Berühmtheiten, die man nur aus den Medien kennt. Sieht man sie auf der Straße, denkt man: Ich hatte ihn mir irgendwie größer vorgestellt. Dabei ist es tatsächlich so, wie die japanische Tagespresse es angekündigt hatte: Man muss Godzilla nicht lange suchen, wenn man sich Kabukicho nähert. Er ist schwer zu übersehen auf der Vordachterrasse des Gracery-Hotels. Und trotzdem ist der erste Anblick unspektakulär. Im ohnehin bunten, reklameüberfrachteten Straßenbild könnte der Saurier nichts weiter als eine weitere Werbefigur sein. Der Eindruck bestärkte sich noch dadurch, dass Sony gerade zum Zeitpunkt meines Besuches eine Werbebanderole unter dem Viech angebracht hatte, die ein neues Godzilla-Videospiel ankündigte. Einerseits: Wenn nicht hier, wo dann? Andererseits verlieh die Werbung dem Kunstwerk etwas Flüchtiges und Vulgäres. Heute Godzilla, morgen Naruto, übermorgen Kleenex. Dabei sollte Godzilla doch hier sein, um zu bleiben.

Die Enttäuschung wich zum Glück wieder einer erhabenen Freude, als ich dem besagten Schild in den achten Stock gefolgt und ganz nah bei Godzilla war. Aus unmittelbarer Nähe ist er so imposant wie gewünscht, gegen ihn sieht der Rest der Stadt klein aus. Sein Kopf ragt aus dem Dach, als hätte er es gesprengt. Er krallt sich an dessen Rand mit fürchterlichen und wunderbaren Klauen. Am Sockel erinnern Reliefs an seine schönsten Filmmomente.

Als ich vollends zufrieden wieder gehen möchte, pfeift mich der uniformierte Godzilla-Aufpasser zurück. Habe ich etwas falsch gemacht? Steuere ich den falschen Ausgang an? Nein, der ernste Herr bedeutet mir, eine verborgene Stelle am hinteren Teil der Skulptur anzufassen. Das tue ich, und daraufhin röhrt aus Godzillas Maul das charakteristische Godzilla-Röhren. Das Pärchen, das genau dort gerade steht, bekommt einen riesen Schrecken. Der Aufpasser und ich lachen verschwörerisch. Bald lachen wir alle, denn Godzilla ist unser Freund, und das macht uns alle zu Freunden.

Godzilla ist endlich ein originäres Wahrzeichen für Tokio. Denn wollen wir mal ehrlich sein: der Tokyo Tower ist charmant in seiner stählernen Archaik, aber letztlich nur vom Eiffelturm abgekupfert. Die Rainbow Bridge ist doch sehr kalifornisch. Der Skytree etwas zu streberhaft in seinen Ausmaßen und Anmaßungen, außerdem architektonisch so beliebig gefallsüchtig, dass er genauso gut in Schanghai oder Dubai stehen könnte. Godzilla ist ein stimmiges Symbol für Tokio: ein liebenswertes und etwas unförmiges Monster, von keiner Krise kleinzukriegen. Eine überdimensionierte Schöpfung, die sich immer wieder neu erfindet. Godzillas Symbolgehalt geht dabei über die Hauptstadt hinaus. Sein erster Filmauftritt ist längst als Klassiker kanonisiert, und trotzdem ist er nach wie vor aktiver Teil der Popkultur. Wer könnte also besser dieses Neben- und Miteinander von Tradition und Moderne vertreten, das Japan so gebetsmühlenhaft nachgesagt wird? Darüber hinaus ist die atomar verstrahlte Echse ein treffliches Energie- und Umwelt-Mahnmal in Post-Fukushima-Zeiten. Möge ihr Röhren noch lange aus Kabukicho heraus in die Welt tönen.