In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Gebratene Ente unter anonymen Genitalien zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung. (Ja, ich habe zum Thema Esskastanienpüreegebäck in diesem Blog schon einmal gearbeitet, aber es ist ja auch ein Thema, dass uns alle irgendwann betreffen kann, deshalb lässt es sich gar nicht oft genug beleuchten. Dass sich die Schilderungen gleicher Ereignisse meines Privatlebens von Text zu Text ein wenig unterscheiden, liegt an gelebter künstlerischer Freiheit und Lügenpresse.)
*** Will man in Deutschland Japanern begegnen, ist eine der sichersten Anlaufstellen die Baumkuchenbäckerei, die es bestimmt in jedem Ort gibt, der auf der Romantikstrecke der führenden japanischen Tourismusunternehmen steht. Ich bin von Haus aus kein Kuchenexperte, deshalb hatte ich keine größeren Gewissensbisse, dass ich den Baumkuchen allenfalls dem Namen nach kannte, bis ich mit einer Japanerin liiert war. Diese Japanerin wiederum war schwer schockiert von meiner Unkenntnis, hielt sie doch Baumkuchen für so stark mit der deutschen Volksseele verbunden wie Volkswagen und Sauerkraut. Als sie zum ersten Mal die Baumkuchenrepublik Deutschland bereiste, war sie ausgestattet mit einem Reiseführer, der gefüllt war mit Abbildungen von Lebensmitteln, von Weißwurst bis Happy Hippo, mit Kontrollkästchen daneben, nach Verzehr anzukreuzen. Beim Abhaken des Baumkuchens in der entsprechenden Spezialkonditorei fühlte ich mich mehr als Tourist als sie, waren die japanischen Kunden doch stark in der Überzahl. Die Beliebtheit des Baumkuchens in Japan ist vermutlich weniger romantisch oder lukullisch begründet, als man annehmen möchte. Durch seine lange Haltbarkeit lässt er sich halt auch ohne Blitzversand in fernere Regionen exportieren und muss dort nach Erhalt nicht sofort blitzverzerrt werden. Inzwischen sind so viele Baumkuchen nach Japan ausgewandert, dass sie dort ihre ganz eigene Kultur entwickelt haben. Es ist eine Kultur, die sich in erster Linie im Untergrund abspielt; nämlich in den Glamour-Gourmet-Untergeschossen großstädtischer Kaufhäuser. Dort lässt sich sehen und kosten, dass die japanischen Baumkuchenbäcker mit dem deutschen Gebäck längst getan haben, was japanische Innovatoren gerne mit Importen tun: nicht einfach nur so gut imitieren, dass es so gut wie gar nicht mehr vom Original zu unterscheiden ist, sondern derart weiterentwickeln, dass das Original kaum noch zu erkennen ist. So sei dem japanischen Baumkuchen-Enthusiasten angeraten, vor dem Deutschlandbesuch die Erwartungen etwas herunterzuschrauben. Hat man hier nur die Wahl zwischen Baumkuchen mit Baumkuchengeschmack als ganzer Stumpf, als in Scheiben geschnittener Stumpf oder als in mundgerechte Happen gehackter Stumpf, so gibt es neben der größeren Formenvielfalt im Fernen Osten auch eine größere Geschmacksvielfalt, zum Beispiel Baumkuchen mit Tomaten- oder Spinatgeschmack. Und selbstverständlich ist das alles übersichtlicher portioniert. Eine einzelne deutsche Baumkuchenportion könnte schließlich einer ganzen japanischen Familie als Tagesproviant dienen. Meine Unkenntnis in Sachen Baumkuchen war die erste, aber nicht die letzte Backwerk-Irritation zwischen mir und meiner japanischen Liaison, der ich zwischenzeitlich meinerseits das Eheversprechen gegeben und ihrerseits abgerungen habe. Zu späte Zweifel an meiner Heiratsfähigkeit hegte sie, als sich herausstellte, dass ich den Mont-Blanc nicht kannte. Den Berg schon, den Füllfederhalter auch, jedoch nicht den Kuchen. Dabei hatte ich ihn selbst entdeckt, zumindest für mich. Bei einem einsamen Frühstück in einem Tokioter Ketten-Café hatte ich gegen mein Naturell einen Kuchen zum Nachtisch bestellt. Auf den Namen hatte ich nicht geachtet, sondern bloß mit dem Finger auf das Exemplar in der Vitrine gedeutet: „Den da bitte.“ Also mit derselben Kompetenz geordert, mit der ich auch in Deutschland Kuchen bestelle. Dieser bestand im Wesentlichen aus Schlagsahne und aufgetürmten, in etwa bergförmigen Esskastanienpüree und schmeckte mir sehr gut. Rückblickend war dieser Ketten-Café-Mont-Blanc sicherlich nicht der Gipfel unter den Genüssen seiner Art, doch mich hatte er überzeugt. So sehr, dass ich meiner Frau davon erzählte. Da ich den Namen nicht wusste, beschrieb ich das Produkt. Offenbar nicht sehr gut, denn sie kam nicht dahinter, was ich meinte. Etwas später sah ich den Mont-Blanc wieder, im Untergrund, also in einer dieser großstädtischen Edel-Bäckereien eines Kaufhaus-Kellers. Ich brachte ihn mit nach Hause und übergab ihn mit großem Brimborium meiner Gattin, die sofort aus allen Wolken fiel, weil ich um so einem Allerweltskuchen so ein Theater gemacht hatte: „Das ist ein Mont-Blanc!“, rief sie. „Den kanntest du nicht?!“ „Wie sollte ich den kennen? Ich kenne ja kaum die Namen von deutschen Kuchen …“ „Das IST ein deutscher Kuchen!“ Ich bezweifelte das ganz stark und das Gespräch wurde zu einem fruchtlosen Nein-Doch-Pingpong-Match, dessen Entscheidung vertagt wurde. Tatsächlich sprachen wir das Thema fast genau ein Jahr lang nicht mehr an. Bis ich an ein Magazin kam, das in Tokio kostenlos an ausländische Touristen verteilt wurde. Darin war ein Artikel mit der Überschrift: Tastes of Tokyo. Dreimal darf man raten, welcher Kuchen dort in Text und Bild gewürdigt wurde. Ich präsentierte das Magazin meiner Frau stolzer, als ich ihr je eine meiner Tokyo-Marathon-Medaillen präsentiert hatte. Hier war der Beweis: der Mont-Blanc ist durch und durch japanisch, eine Kreation Tokios. Noch genauere Recherche lässt daran allenfalls milde Zweifel aufkommen. Tatsächlich handelt es sich ähnlich wie bei Tempura und Popmusik um eine ausländische Erfindung, die von Japan eingemeindet und perfektioniert wurde. Das Grundrezept lässt sich in ein italienisches Kochbuch von 1475 zurückverfolgen, doch der Mont-Blanc, wie wir (bzw. die Japaner) ihn heute kennen, entstammt der gleichnamigen Konditorei in Jiyugaoka, einem Viertel Meguros. Ein ganz goldiger und sehr beliebter Laden mit Warteliste und Tischbeinen in bodenschonenden Söckchen, wo man die Haus-Kreation noch heute verköstigen kann, selbstverständlich in allen möglichen Geschmacksrichtungen. Als meine Frau und ich das schließlich taten, war unser Streit längst vergessen. Sie beschäftigte jetzt der Gedanke, warum der Mont-Blanc sich bislang in Deutschland nicht durchsetzen konnte. Inzwischen ist sie bei einer Verschwörungstheorie angelangt, die etwas mit einer unterstellten deutschen Abneigung gegen Esskastanien in Süßspeisen zu tun hat. Ich arbeite derweil meine jüngste reichtumgarantierende Geschäftsidee aus: Baumkuchen mit Mont-Blanc-Geschmack.Archiv des Autors: Andreas Neuenkirchen
Wie mir einmal Steve Strange kein Autogramm gab und ich mit Nazi-Jürgen zu entarteter Musik tanzte
Zu den großen Enttäuschungen meiner Kindheit gehört, dass Steve Strange, der Sänger der Band Visage, keine Notiz von mir nahm. Umgekehrt sah das ganz anders aus. Einmal hatte ich genug Geld gespart, um einen selbstadressierten, ausreichend frankierten Briefumschlag an die deutsche Vertretung der Plattenfirma von Visage zu schicken, mit der Bitte um ein Autogramm, die Adresse hatte ich aus der Jugendillustrierten Bravo. Wochen, die sich wie Monate anfühlten, später kam tatsächlich Post, tatsächlich mit einer Autogrammkarte von Steve Strange. Sozusagen. Ich mag heute nicht das cleverste Bürschchen sein und war es damals erst recht nicht, doch schon damals durchschaute ich, dass es sich um lieblosen Schmu handelte. Die Unterschrift war in einem vollkommen unnatürlichen Blau auf das Bild gedruckt, ebenso wenig handgeschrieben wie das Bild handgemalt war. Es handelte sich noch nicht mal um ein anständiges Fotos, sondern um eine Reproduktion des Covermotivs der Single Fade to Grey, des größten Hits der Band (nicht des einzigen, fühle ich mich noch heute genötigt zu ergänzen, um die Gruppe vor Spöttern zu verteidigen).
In derselben Lebensphase hatte ich auf gleichem Wege eine Autogrammkarte der Rockabilly-Showband Stray Cats angefordert, die zwar eine andere Musik als Visage spielte, aber nur unwesentlich weniger Make-up auftrug. Dieser Antrag wurde zu meiner vollsten Zufriedenheit bearbeitet. Ich bekam ein ehrliches Arbeiterklassefoto der drei Musiker mit Motorrad und glamourös-verdreckter Straßenkulisse, auf dem offensichtlich jemand handschriftlich unterschrieben hatte. Ob es wirklich Brian Setzer, Lee Rocker und Slim Jim Phantom gewesen waren, die sich für mich Zeit genommen hatten, oder nur ihre Sekretärin, wie meine zynischen Eltern mutmaßten, ist natürlich schwierig nachzuweisen. Ich frage mich, was die Sekretärin der Stray Cats heute macht. Ich weiß immerhin, wie ich sie mir vorstelle, zu ihrer aktiven Zeit. Sie trägt Petticoat und Pferdeschwanz, und wenn sie ihre Hornbrille abnimmt, ist sie plötzlich unglaublich sexy. Allerdings, was sie gar nicht weiß: mit der Brille ist sie noch viel sexier. Als die Jahre ins Land gingen und die Stray-Cats-Unterschriften immer mehr verblassten, zog ich sie mit dem Kugelschreiber eigenhändig nach. Und das ist der Grund, aus dem ich die Episode überhaupt erwähne: ich bin wahrscheinlich nicht der kompetenteste und seriöseste Autogrammsammler, also habe ich es über kurz oder lang auch verkraftet, dass ich von Steve Strange nur eine offizielle Fälschung erhalten habe. Außerdem war Steve Strange Betreiber der elitären Londoner New-Romantic-Disco Blitz, in die nicht jeder reingelassen wurde. Da finde ich es heute sogar besonders goldig, dass so einer nicht jedem Bauerntrottel ein echtes Autogramm gibt. In den Blitz-Club bin ich nie reingekommen, in den Partykeller des Schullandheims Willingen im Sauerland hingegen schon. Während eines schulischen Zwangsaufenthalts, aufgekratzt von Wandertouren und zu viel Coca-Cola, führte ich dort mit meinem Schulfreund Nazi-Jürgen einen selbstkreierten Ausdruckstanz zu meiner Visage-Kassette auf. Er bestand aus ausschweifenden Arm- und Beinbewegungen und simulierten Zeitlupen. Nazi-Jürgen hatte damals noch nicht diesen Beinamen, und Jürgen hieß er schon gar nicht. Er unterschied sich von anderen Kindern dadurch, dass er große Teile seiner Freizeit in einem Auffanglager der seinerzeit noch nicht verbotenen Wiking-Jugend verbringen musste. Wir wussten damals ja von nichts, deswegen hatten wir anderen Kinder zu seiner seltsamen Freizeitgestaltung kein angespannteres Verhältnis als zu der Freizeitgestaltung der ein oder zwei Exoten, die aktive Pfadfinder-Fähnlein waren: klang langweilig, hat uns nicht weiter interessiert. Was Nazi-Jürgen und mich neben der Freizeitgestaltung unterschied, war, dass Nazi-Jürgen viel beliebter bei den anderen Kindern war als ich. Typisch Deutschland. So wurde mir nach dem Tanz zugeraunt, Nazi-Jürgen wäre irgendwie cool gewesen, aber ich hätte mich „voll lächerlich“ gemacht. Dabei hatte ich den Tanz erfunden und Nazi-Jürgen hatte sich nur drangehängt, quasi Mitläufer, beziehungsweise Mittänzer! Meinen Geist konnte das nicht brechen, zumindest nicht ganz, er ist hart wie Kruppstahl. Noch heute, wenn keiner außer meiner Tochter guckt, lege ich manchmal eine meiner Visage-Platten auf (ich habe selbstverständlich alle, auch die neuen) und tanze meinen Visage-Ausdruckstanz, nur für sie. In meinen eigenen vier Wänden kann mir kein Nazi-Jürgen die Show stehlen. Und wenn ich die hysterische Freude im Gesicht meiner Tochter sehe, dann weiß ich: das ist das Alleraufregendste, was sie seit ungefähr einer halben Stunde gesehen hat. Vielleicht werde ich ihr irgendwann die Bewegungen beibringen, wenn sie auf eigenen Beinen stehen kann. Wie ein weiser Wing-Chun-Lehrer und sein unbeherrschter Schüler voll rohem Potenzial, als zwei Silhouetten auf einer Tempelmauer vor Sonnenuntergang. Und dann wird sie selbst eines Tages für ihre Kinder den Visage-Ausdruckstanz ihres Vaters tanzen. Und so wird der Geist von Steve Strange über Generationen in dem Geist unserer Familie weiterleben. Ich möchte dahingehend aber nicht jetzt schon Erwartungsdruck aufbauen. Steve Strange starb am vergangenen Donnerstag in Ägypten. Andreas Neuenkirchen tanzt inzwischen am liebsten zu Night Train. Nazi-Jürgen lebt heute unter seinem Mädchennamen in Berlin und ist laut Wikipedia „ein deutscher politischer Autor, der der Neuen Rechten zugeordnet wird“. Laut seiner eigenen Homepage stimmt das aber nicht und Wikipedia ist ganz, ganz doof.Die verschuldeten Idole von Galapagos [Kaiho-Kolumne]
In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Eine Geschichte zweier Kuchen zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung.
*** Erfinden Japaner etwas, was in Japan ganz wunderbar gedeiht, aber im Rest der Welt keinerlei Überlebenschancen hat, spricht man vom Galapagos-Syndrom, in Anlehnung an die gleichnamige Inselgruppe mit ihrem weltweit einzigartigen Tierleben und Pflanzenvorkommen. Meistens sind damit international nicht kompatible und schwer adaptierbare Technologien gemeint. Es fällt allerdings nicht schwer, den Begriff auf kulturelle und wirtschaftliche Eigenheiten Japans auszuweiten. Zum Beispiel auf den Musikmarkt. Man stelle es sich einmal vor: Japaner kaufen CDs. Deutsche übrigens auch, rund 70 Prozent der bezahlten Musik hierzulande wird weiterhin auf Polycarbonat ausgeliefert. In Japan sind die häufig totgesagten Datenträger jedoch noch beliebter: sie machen 85 Prozent des Musikmarktes aus – mit steigender Tendenz, denn der Downloadmarkt ist mittlerweile rückläufig. Ein krasser Gegensatz etwa zu den USA oder Schweden, in denen Compact Discs nur mehr 40 beziehungsweise 20 Prozent der Verkäufe ausmachen. Japans Alleinstellung hat zwei Gründe: Sammelleidenschaft und AKB48. Egal, ob das dritte Best-of-Album einer vor zwei Monaten gegründeten Boyband oder die hundertste Neuveröffentlichung von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band: alles wird schön verpackt, in Übergröße, mit Glitzerschmuck, Bilderbuch und Bonus-DVD, nicht selten bekommt man beim Kauf an der Kasse noch ein Poster in die Tüte und beim Verlassen des Warenhauses einen Button in die Hand gedrückt. Es gibt fast mehr anzuschauen als anzuhören. Das Prinzip solcher Sonderausgaben ist zwar in Deutschland nicht unbekannt, hier wirken sie jedoch häufig so liebevoll gestaltet, als hätte sie sich ein berufsmüder Vermarkter noch schnell zwei Minuten vor dem Wochenende ausgedacht. In Japan wirken sie so, als hätte eine Gruppe von Enthusiasten genau das Produkt entworfen, das sie selbst kaufen würden. Es funktioniert, ich spüre es am eigenen Leib (in erster Linie durch den leichter zu tragenden Geldbeutel). Schnürt unsere japanische Verwandt- und Bekanntschaft Carepakete, lässt meine Frau sich mit Vorliebe Lebensmittel einpacken. Ich mir CDs. Japans erfolgreichste Mädchenformation AKB48, nach letzter Zählung mit 79 Köpfen weit über das im Namen festgelegte 48er-Limit hinausgeschossen, legt auf den allgemeinen Verpackungswahn noch einen drauf. Ihre CDs beinhalten nicht nur die üblichen Sammlerstücke zum Anschauen, Anheften und Aufkleben, sondern auch Tickets für Auftritte und Stimmzettel zur Wahl des beliebtesten AKB-Mädchens, die zweimal jährlich in der altehrwürdigen Kampfsportarena Nippon Budokan ausgetragen und vom Fernsehen übertragen wird. Je mehr Einfluss man auf die Wahl nehmen möchte, desto mehr Stimmzettel sind vonnöten. Nicht wenige kaufen für diesen Zweck gerne mehr CDs, als für den reinen Musikgenuss genügen würden. Fraglich, ob sich dieses Konzept international adaptieren ließe und Fans dieselbe CD mehrfach kauften, um sicherzugehen, dass ihr Favorit die Wahl zum süßesten Boy von Sportfreunde Stiller gewinnt. Die sogenannten Idole (japanisiert idoru) sollen Popstars zum Anfassen sein. AKB48 nehmen das mitunter ganz wörtlich. Nicht unbedingt im unsittlichen Sinne, aber inzwischen doch unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen. Regelmäßig ließen sie ihre Fans für Händeschüttel-Sessions anstehen, bis im Mai ein Teilnehmer die Säge zückte und zwei Mitglieder verletzte. Danach wurde das öffentliche Händeschütteln ausgesetzt. Inzwischen findet es wieder statt, mit einem Sicherheitsbeamten pro Mädchen, Sicherheitsabstand und Sicherheitsbarriere zwischen den Schüttelnden. Man könnte raunen, hier offenbare sich die Schattenseite des Idol-Kults. Dabei offenbart sich nur die Schattenseite der Menschheit. Jemand, der den Drang verspürt, andere mit einer Säge anzugreifen, braucht sicherlich nicht eine händeschüttelnde Sing- und Tanztruppe als Auslöser. Mit ihrem eigenwilligen Gesamtkonzept, bei dem es mehr um Pop als um Pop-Musik geht, ebnen AKB48 den Weg für andere, noch eigenwilligere Gruppen des Idol-Genres, denen wohl ebenfalls das größere internationale Publikum (und Verständnis) vorenthalten bleiben wird. Im September stellten sich die Margarines der Öffentlichkeit vor, deren Alleinstellungsmerkmal ist, dass für sie die fetten Jahre vorbei sind. Jedes der neun Mitglieder ist hoch verschuldet. Insgesamt beläuft sich das Minus auf 127 Millionen Yen, teils aus Studentendarlehen, teils einem kostspieligen Lebenswandel verdankt. Im Internet kann der Fan mitverfolgen, wie viel davon durch die Pop-Arbeit schon getilgt wurde. Für den Dezember ist ein Album angekündigt. Wie tröstlich, dass man in Japan mit Musik noch Geld verdienen kann. Selbst wenn es dabei nur am Rande um Musik geht.Das war mein Jahr auf Facebook – danke, dass du ein Teil davon warst, Bruce Lee
Im letzten Jahr gab es einschneidende Veränderungen in meinem Leben, zum Beispiel bin ich Facebook beigetreten. Vorher hatte ich meine Verweigerung zu einer Lebenseinstellung hochgejubelt, möglicherweise war sogar einmal die Rede davon, man dürfe mir jederzeit die Kehle durchschneiden, wenn ich doch bei diesem Quatsch erwischt werden sollte. Das nehme ich hiermit zurück: bitte nicht mehr die Kehle durchschneiden. Ich bin Facebook beigetreten, weil ich gehört hatte, dass man damit explosionsartig mehr Bücher verkaufen kann. Das hat sich nicht bestätigt, dafür weiß ich jetzt viel mehr über die Trinkgewohnheiten und das Intimleben meiner Kindheitsfreunde und Arbeitskollegen. Es hat sich also trotzdem gelohnt. An meinen hauptsächlichen Facebook-Erkenntnissen möchte ich Sie an dieser Stelle teilhaben lassen.
Ich weiß nicht, wofür „Gruppen“ da sind Ich freue mich zwar, dass mir die anderen Mitglieder des Bruce-Lee-Fanclubs jeden Morgen ein paar Hundert Fotos von Bruce Lee auf die Startseite klatschen, zum Beispiel solche: Aber ich weiß nicht warum. Ich bezweifle, dass es inzwischen noch „seltene“ Fotos von Bruce Lee gibt (und falls es sie jemals gab, ist damit seit Facebook Schluss). Und bevor noch mal jemand ganz aufgeregt das Bild postet, auf dem der erwachsene Bruce Lee (gestorben 1973) und der erwachsene Michael Jackson (geboren 1958) Arm in Arm stehen: das ist ungefähr so authentisch wie das Foto, auf dem Gandhi und Justin Bieber sich in den Armen halten. Liest wahrscheinlich eh wieder keiner, und nächste Woche ist das Bild wieder mindestens fünfmal drin. Selbstverständlich werde ich aus dem Bruce-Lee-Fanclub niemals austreten, das ist eine Ehrensache. Anders sieht es bei diesen ganzen Gruppen für „Autoren“ aus. Bislang konnte mich keine halten. Es scheint zwei Arten davon zu geben: solche, die Eigenwerbung zulassen, und solche, die das nicht tun. In der ersten Kategorie gibt es nichts als Eigenwerbung, die exakt niemanden erreicht, weil in diesen Gruppen nur Mitglieder sind, die sich ausschließlich für ihre eigene Eigenwerbung interessieren. In den Gruppen, die Eigenwerbung nicht zulassen, gibt es zwei Arten von Beiträgen: Eigenwerbung und weinerliche Beschwerden über diese Eigenwerbung inklusive der Androhung, alles hinzuschmeißen, wenn die Mitglieder nicht sofort Vernunft annähmen. Freilich stellen die Beschwerdeführer selbst ebenfalls keine gehaltvolleren Beiträge ein. Ich würde gerne einer Autorengruppe beitreten, in der man ab und an gängige Recherchefragen in die Runde werfen kann und prompt eine kompetente Antwort bekommt, zum Beispiel: Weiß hier jemand, ob in den 70ern Passagierschiffe zwischen Südkorea und Hongkong verkehrten, und was eine einfache Fahrt gekostet hat? (Ernsthaft, weiß das jemand?) Falls irgendwer eine entsprechende Gruppe kennt: es wäre schön, wenn ich bei eurer Bande mitmachen dürfte. Gegen Politik lässt sich wohl nichts machen Ein bisschen angewidert bin ich davon, wie politisch es auf Facebook zugeht. Die politische Positionierung spielt für meine Anwiderung keine Rolle. Vor meiner aktiven Zeit war ich der Auffassung, Facebook sei eine Software zur Verbreitung von Katzen- und Frühstücksbildern, und das ist ganz genau das, was ich dort sehen möchte. Seien Sie unbesorgt: es gibt politische Räume in meinem Leben, ich bin weder Verweigerer noch Verdrossener. Meine Facebook-Startseite ist allerdings keiner der Orte, an denen ich die neuesten Variationen der immer gleichen Verschwörungstheorien zu Schweinesystemen und Schurkenstaaten von Antifa und Pegida lesen möchte. Kann ich aber wohl nicht ändern. Ebenso wenig kann ich daran ändern, jeden Tag ein paar Mal von immer denselben Pappenheimern zu lesen zu bekommen, wie bekloppt und inkompetent die bei Spiegel Online sind. Ja, Herrschaftszeiten, dann lest und verbreitet den Quatsch halt nicht! Mach ich doch auch nicht. Apropos „nicht lesen“: dem Aufruf von neulich, man solle alle seine Freunde rauswerfen, die Pegida und die sogenannte Bild-Zeitung „geliket“ haben, bin ich trotz grundsätzlichem Verständnis nicht nachgekommen. Ich habe nicht mal geprüft, wer das wäre, aus zweierlei Gründen. Der erste Grund ist selbstverständlich Angst. Es könnte ja jemand dabei sein, den ich wirklich kenne, nicht nur in Spaß. Da sage ich hinterher lieber, ich hätte von nichts gewusst, so deutsch bin ich. Der zweite Grund ist, dass manche Pappenheimer aus den richtigen Gründen das Falsche tun. Als ich noch im journalistischen Tagesgeschäft war, brachten nicht wenige durchaus redliche Kollegen jeden Morgen die Bild-„Zeitung“ mit ins Büro, zur Feindbeobachtung und Volksmundbelauschung. Ich fand diesen Ansatz damals schon falsch und empfinde noch heute so. Gute Journalisten müssen nicht jeden Tag lesen, was böse Journalisten schreiben. Es reicht, hin und wieder die Boulevard-Schlagzeilen am Kiosk zu überfliegen oder mal ein Exemplar aus dem Automaten zu klauen. Finanzieren sollte man den Feind nicht. Außerdem bezweifle ich, dass John le Carré jede Woche Jerry Cotton liest, um kriminalliterarisch auf dem Laufenden zu bleiben. Ich werde also dubiose „Likes“ nicht ohne Weiteres ahnden. Wer allerdings Bild und Pegida aus anderen Gründen als beruflichem Interesse oder ähnlichem folgt, darf gerne freiwillig gehen. Sehr wohl habe ich nach jüngsten Ereignissen in Paris ein paar Unholde unkommentiert rausgeworfen, die unvertretbare Sympathien oder Antipathien kundtaten, außerdem habe ich ein paar Wackelkandidaten auf die Bewährungsliste in meinem Kopf gesetzt. Undemokratisch, jemanden ohne Warnung und Begründung rauszuwerfen? Mir doch egal, auf Facebook wird gemacht, was ich sage. Ehe ich mich noch mehr aufrege, schnell noch ein Bild von Bruce Lee, das beruhigt mich immer. Auf Facebook vernachlässigt man den Rest des Internets Ich neulich so zu einem: „… und dann gab es kürzlich auch noch einen Mini-Weihnachtskrimi von mir, der als Gratis-E-Buch erschienen ist.“ Der eine so: „Ach, davon hast du aber gar nichts in deinem Blog geschrieben, oder?“ Ich: „Oh … muss ich vergessen haben. Ich habe es aber auf Facebook gepostet …“ Einer: „Du bist bei Facebook?!“ (Wetzt so das Messer, ich so voll schnell weg) Es stimmt, ich lagere vieles von dem Quatsch (und einiges an handfesten Informationen), das früher in den Blog gekommen wäre, auf Facebook aus. Nicht nur weil man dort schneller und offensichtlicher geliebt wird, sondern vor allem, weil es leichter ist. Man muss nicht ständig die spitzen Klammern für die HTML-Tags suchen und die Bilder gesondert hochladen und man kann es mal eben mit dem Handy auf dem Klo machen. Trotzdem geht es natürlich nicht an, dass ich denen, die weiterhin tapfer nicht auf Facebook sind, einfach so ein neues Büchlein verschweige. Für Büchlein bin ich schließlich da. Also: Anfang November letzten Jahres ist mein E-Büchlein Bescherung in Kabukicho erschienen, man kann es auch antizyklisch lesen, außerdem ist es auch fürs nächste Weihnachtsfest wieder gültig. Es enthält die titelgebende Kurzgeschichte, jene ist ein Prequel zur Inspector-Sato-Reihe, ein paar Worte zur selbigen und eine Leseprobe aus dem nächsten Band, Roppongi Ripper. Oh, ich glaube, den hatte ich an dieser Stelle auch noch gar nicht erwähnt. Kommen Sie doch einfach zu Facebook, so oder so.Begnadigt: Helene Fischer, Ernst Stavro Blofeld und die Nusswut-Frau
Kurz vor Weihnachten begnadige ich drei von der Öffentlichkeit Verurteilte, die jetzt lange genug gelitten haben.
1. Helene Fischer. Helene Fischer ist jemand, von dem ich so richtig erst Notiz genommen habe, seit ich ein bisschen bei den sozialen Medien, also Facebook, mitmache. Das tue ich seit nicht mal einem Jahr. Mir war der Name natürlich schon vorher hier und da mal untergekommen, aber ich hätte nicht mit absoluter Sicherheit sagen können, ob es sich bei Helene Fischer um eine Fußballspielerin, eine Familienministerin oder eine Fernsehansagerin handelt. Dass ich inzwischen so viel über Helene Fischer weiß, liegt daran, dass in den sozialen Medien, also Facebook, so viel über Helene Fischer geschrieben wird. Und zwar, so scheint es, ausschließlich von Menschen, die Helene Fischer nicht leiden können. Neulich ging sogar die Aufforderung um, man solle sofort alle Freunde entfreunden, die Pegida und/oder Helene Fischer „geliket“ haben. Die einen sind Nazis, da ist Entfreundung eine Selbstverständlichkeit. Aber die andere ist doch bloß eine Schlagersängerin, wenn ich das richtig verstehe. Schlager mag ich nicht. Reggae mag ich auch nicht. Trotzdem käme ich nie darauf, jeden zu entfreunden, der Jimmy Cliff „geliket“ hat. Jetzt höre ich schon das Gegenargument: „Jahaha – aber wenn du Helene Fischer begnadigst, kannst du auch gleich Unheilig begnadigen! Das ist doch genau der Toleranzwahn, den die-da-oben und ihre Systempresse uns verordnen wollen!“ Ich sage: No, no, no, my darling, ich lasse mir nicht mit der Neoliberalismuskeule kommen. Es verläuft ein gar nicht so feiner Grat zwischen der aufrichtigen Schlagersängerin Helene Fischer und dem unaufrichtigen Schlagersänger Unheilig (ich gehe grammatisch mal davon aus, dass das in Festbesetzung inzwischen nur noch dieser eine Typ ist). Nicht, weil Unheilig einmal in der Gothic-Szene angefangen und irgendwelche Subkulturen verraten und verkauft hätte. Schlager ist ja auch nicht gerade Hochkultur, und die Gothic- und Schlager-Subkultur hatten in ihren unpraktikablen Romantik-Vorstellungen schon immer viele Berührungspunkte. Unheilig ist nicht zu begnadigen, weil Unheilig so tut, als wäre Unheilig etwas Besseres, Poetischeres, Gediegeneres, Geschmackvolleres als gemeiner Schlager. Helene Fischer hingegen bekennt sich zu ihrem Genre. Es ist ein Genre, das man nicht schätzen muss. Die Konsequenz daraus ist, dass man sich nicht weiter damit beschäftigt. Dünkel oder gar Verachtung sind unangebracht. Die Lieblichkeit eines typischen Schlagers ist schließlich nicht mehr Pose als die Rotzigkeit eines typischen Punkrock-Songs, und musikalisch ist Helene Fischer sicher nicht anspruchsloser als GG Allin. Unterm Strich kommt bloß „Geschmackssache“ dabei heraus. Über Geschmack lässt sich zwar herrlich streiten, aber, ach, es ist so ermüdend. Also: Helene Fischer, begnadigt. Genauso wie: 2. Ernst Stavro Blofeld. Ich lese gerade Ian Flemings James-Bond-Romane, einige erstmals, manche erneut. Das ist kein Vergnügen, ich bin mir gar nicht sicher, warum ich mir das antue. Seien wir ehrlich: Ohne die viel erfreulicheren Filme würde keiner von denen heute noch aufgelegt. Ich bin mir außerdem nicht sicher, ob ich alle schaffen werde, deshalb konzentriere ich mich zunächst auf das Hauptwerk, den Blofeld-Zyklus. Dass der gerade wieder dank der Gerüchte, Christoph Waltz könnte der nächste Film-Blofeld sein, verstärkt im öffentlichen Interesse steht, ist reiner Zufall, ich schwöre. Man lebt nur zweimal ist der Roman, den James Bond größtenteils als Japaner verkleidet unter Japanern verbringt, selbstverständlich von authentischen Japanern unerkannt. Im viel erfreulicheren Film gibt es diesen unglücklichen Passus ebenfalls, er fällt dort allerdings gnädigerweise kürzer aus. Man lebt nur zweimal ist ebenfalls der Roman, bei dem ich mich dabei ertappte, wie ich Blofeld plötzlich zuzischte: „Töte ihn! Töte ihn! Lass ihn in deinem geheimen Todesgarten elendig verrecken!“ Ich gehöre normalerweise nicht zu den Literaturrezipienten, die sich aus Radaulust oder einer merkwürdigen Auffassung von Nonkonformismus auf die Seite der Bösen schlagen; da könnte ich ja gleich Nazi werden. Aber meine Fresse – was ist dieser literarische Ur-Bond für ein stumpfer, ungehobelter Vollpfosten. Ein weinerlicher Alkoholiker, ein Anti-Intellektueller, ein Anti-Gentleman, kurzum ein Unsympath. Er ist noch nicht mal der wohlfeile Genussmensch, für den ihn viele dank der erfreulich weißgewaschenen Filme halten. Tatsächlich macht er sich ausdrücklich nichts aus Feinschmeckerei. Dass er dennoch ab und an feinschmeckt, liegt einzig daran, dass der Geheimdienst Ihrer Majestät für seine Spesen aufkommt (so im Roman Im Geheimdienst Ihrer Majestät nachzulesen). James Bond ist nichts anderes als eine gehässige, kleine Beamtenseele. Ich bin überzeugt: Ian Flemings James Bond würde Pegida „liken“ (Helene Fischer weiß ich nicht). Die Abneigung gegen diesen James Bond eint also Blofeld und mich. Er kann kein ganz schlechter Mensch sein. Seine Beziehung zu Frau Bunt ist außerdem um einiges anrührender und interessanter als Bonds langweilige Vielweiberei. Ich begnadige ihn hiermit und hoffe, dass das James-Bond-Universum noch zu meinen Lebzeiten in der rechtefreien Zone ankommt, damit ich endlich mein revisionistisches Blofeld-Epos angehen kann, möglicherweise in Versform. (Kleine Randnotiz und Werbeunterbrechung: Mein liebster Bond-Romanautor ist übrigens Raymond Benson. [Was da gerade so gebumst hat, war ein Fleming-Purist, der mit verkrampfter Hand über der Herzgegend zu Boden gegangen ist.] Benson hat zwar nicht die literarische Bauernschläue, die bei Fleming bei aller Dumpfheit manchmal durchblitzt, dafür machen seine Romane von vorne bis hinten Spaß. Bei Spaßliteratur kein unwesentlicher Faktor. Noch mehr Spaß als seine Bond-Romane machen mir allerdings seine Romane um die Eigenkreation The Black Stiletto.) 3. Die Nusswut-Frau. Alle haben sich sehr aufgeregt oder sich sehr mokiert, je nach Tagesform, als sich neulich eine südkoreanische Fluglinienaufsichtsrätin im Vorfeld eines Fluges von New York nach Südkorea sehr darüber aufregte, dass ihr in der ersten Klasse Nüsse erstens in einem Plastiktütchen und zweitens ungefragt serviert worden waren, was einiges an personellem Heckmeck und eine Flugverspätung zur Folge hatte. Alle, nur ich nicht. Denn eines steht fest: sie hat ja recht. In der ersten Klasse sollte nichts in Plastiktüten serviert werden, und ungefragt sollte gar nichts in gar keiner Klasse serviert werden. Dass man sich darüber aufregt, wenn das nicht klappt, regt mich nicht auf. Mich regt auf, dass man sich darüber aufregt, dass sich darüber jemand aufregt. Ich bin kein Erster-Klasse-Passagier und werde in diesem Leben wohl keiner mehr (es sei denn, das mit dem Blofeld-Versepos klappt; aber dann werde ich wahrscheinlich gleich im Privatjet mein Kätzchen kraulen [das ist kein Euphemismus für etwas Unanständiges, sondern eine hochwertige cineastische Anspielung]). Dennoch bin ich immer gerne dazu bereit, für etwas mehr Klimbim etwas tiefer in die Tasche zu greifen. Dann erwarte ich allerdings auch, dass das Klimbim es emotional wert ist (materiell ist es das nie, doch ich bin ja kein Materialist). Wenn dann eine ungewollte Nuss in Plastik kommt, stimmt mich das missmutig. Ich habe schließlich kaum andere Sorgen. Was einen Schatten auf diese schöne Geschichte von zivilem Ungehorsam wirft, ist die Zickigkeit, mit der die Nusswut-Frau mutmaßlich zu Werke gegangen ist (wir müssen uns, wie bei allen Weltnachrichten, auf Hörensagen verlassen; wir waren schließlich nicht dabei). Zickigkeit steht selbstverständlich auch in meinem Gesetzbuch unter „V“ wie „Verbrechen“. Eine Erste Klasse ist keine Einbahnstraße – sie fordert nicht nur Erste-Klasse-Flugpersonal, sondern auch Erste-Klasse-Fluggäste. Und erstklassig hat sich die Nusswut-Frau nun ganz und gar nicht aufgeführt (nach allem, was man so hört). Aber genau das ist ja die Natur einer Begnadigung: Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Also: Nusswut-Frau begnadigt, wenn auch knapp. Die Verspätung des Fluges wurde für dieses Urteil nicht berücksichtigt. Herrschaftshimmelszeiten, das waren 11 Minuten! Das mag für einen Regionalzug inakzeptabel sein. Bei Interkontinentalflügen wage ich zu bezweifeln, dass 11 Minuten ohne vorherige Nusswut überhaupt auffallen.Luther, Twin Peaks, hallo Jar Jar Binks (oder: ah, la nostalgie, cette petite mort)
[Sicherheitshinweis: Wie jeder aussagekräftige Sekundärtext geht auch dieser auf den Inhalt seines Primärtextes ein. Oder, im Mimimi-Memmen-Duktus: Spoiler-Warnung.]
Keine Fernsehnachricht hat mich in diesem Jahr so begeistert wie die Ankündigung der vorletzten Woche, es solle zwei neue Folgen Luther geben. Zwei richtige neue Folgen, Folgen aus der Zukunft, keine sinnlose Prequälerei, wie es wohl mal angedacht war. Womit ich nicht sagen möchte, dass alle Prequels sinnlos wären. Allenfalls die allermeisten. Ausnahmen gibt es bestimmt. Wir machen weiter nach einer kurzen Werbeeinblendung. Wie jeder Mensch mit einem schlagenden Herzen in der Brust liebe ich Luther, obwohl ich einsehe, dass die Serie logisch und psychologisch nicht immer auf dem solidesten Fundament steht und wohl keine Auszeichnungen für Originalität erhalten wird (wie sagte neulich jemand hier im Internet: finally, a cop show!). Sie ist halt eine Naturgewalt, und Naturgewalten halten sich nicht lange mit Kleinigkeiten wie Psychologie und Originalität auf. Mir persönlich ist naturgewaltiger Thrill jederzeit lieber als Fakten-Fakten-Vorabendkrimi. Das Versprechen zweier neuer Luther-Folgen ist wie ein Versprechen, dass nun doch noch alles gut wird. Dass die dritte Staffel doch nur die dritte Staffel war, und nicht das Schlusskapitel, als die sie uns zunächst um die Ohren gehauen wurde. Wir erinnern uns an das Ende mit Schrecken: Luther hatte gerade begonnen, zarte Bande zur klugen, attraktiven, charmanten, furchtlosen Mary zu knüpfen, nur um dann letztendlich doch mit der durchgeknallten Mörderin Alice durchzubrennen. Mary war übrigens entgegen anders lautenden Gerüchten ganz und gar keine langweilige Figur. Es sei denn, man definiert ‚langweilig‘ als: jeder, der kein durchgeknallter Mörder ist. Als wäre dieser Unsinn nicht Unsinn genug, hatte es dem Herrn Serienerfinder und Alleinautor Neil Cross kurz vorher gefallen, mit DS Ripley eine der niedlichsten Nebenfiguren des Ensembles einfach so abzuknallen. Nur, weil Cross seinem Stoff nicht traute (zu Unrecht), und meinte, dass die Serie schon lange keinen ‚Zoe-ist-tot‘-mäßigen Knalleffekt mehr hatte (brauchte sie auch nicht). Zoes Tod in der ersten Staffel war das zentrale Thema der Geschichte. Ripleys Tod in der dritten Staffel ist kaltherziger Unfug, die Geschichte hätte in jedem Aspekt auch ohne funktioniert. Es wurde theoretisiert, Ripleys Tod solle verdeutlichen, dass der Vigilant mit der Schrotflinte, der dafür verantwortlich ist, in echt keiner von den Guten ist. Ich sage: Das wird auch so klar. Die Entführung und angedrohte Ermordung einer hochschwangeren Unschuldigen hat da ausreichend starke Signalwirkung. Doch der tote Ripley ist nicht das Hauptproblem, sondern die quicklebendige Alice. Nicht, dass Missverständnisse aufkommen: Alice ist eine pfiffige Figur und wird von der putzigen Ruth Wilson sehr drollig gespielt. Sie hätte ihre eigene Serie verdient. Aber in Luther ist sie ein Störenfried geworden. Ein faules Requisit, das immer dann rausgeholt wird, wenn Luther sich selbst nicht mehr helfen kann. Sie bombt ihn aus der Haft. Sie tötet stellvertretend den Mörder seiner Frau. Sie tötet den Mörder von Luthers Freund und Kollegen. Sie tötet den Kindermörder, den Luther nur beinahe getötet hat. Die Intention ist klar: Alice symbolisiert Luthers allerdunkelste Seite. Sie ist der veräußerte Schweinehund, den er selbst noch nicht mal dann von der Kette lässt, wenn er Ganoven vom Balkon schubst. Diese Reduzierung allerdings wird Alice‘ Potenzial nicht gerecht. Sie sollte mehr als ein Stellvertreter-Symbol für einen Charakterzug einer anderen Figur sein. Außerdem kann man das, was Luther beinahe tut, und das, was Alice tatsächlich tut, schwerlich auf dieselbe Argumentationskette ziehen. Alice tut, was sie tut, weil sie kein Gewissen hat. Luther hingegen besteht aus so gut wie nichts anderem als Gewissen. Ob man seine Mittel gutheißt oder nicht: Luther kämpft gegen das Böse. Alice kämpft nur gegen die Langeweile. Wenn nun Luther am Ende der (gottlob vermeintlich) letzten Folge mit Alice Hand in Hand in den Sonnenaufgang spaziert, dann ist das entweder ein Faustschlag ins Gesicht der treuen Zuschauer, oder zumindest eine gepfefferte Backpfeife, je nach Interpretationsansatz. Interpretationsansatz ‚Faustschlag in das Gesicht des Zuschauers‘: Nach diesem Ansatz hat das Hand-in-Hand-mit-Alice-Ende zu bedeuten, dass Luther nie der war, für den wir ihn gehalten haben. Nie der, für den wir immer wieder eingeschaltet haben. Wenn er mit der durchgeknallten Mörderin durchbrennt, dann war er nie die solitäre stählerne Faust der Gerechtigkeit, sondern nur einer von viel zu vielen. Einer von all diesen öden, blöden Adrenalin-Junkies. Und so einem haben wir unsere Aufmerksamkeit geschenkt? Das hat er nicht verdient. Das haben vor allem wir nicht verdient. Interpretationsansatz ‚Backpfeife in das Gesicht des Zuschauers‘: Luther war sehr wohl die längste Zeit der, für den wir ihn gehalten haben. Doch auch ein Mann aus Stahl setzt irgendwann Rost an und wird gebrochen. Er musste einfach zu viel einstecken und wusste nicht mehr, was er tat. Das mag realistisch sein, aber Realismus sollte beim Fernsehen nicht von zentraler Bedeutung sein. Als halbstarker Rabauke hat man für Happy Ends nichts als Spottlieder übrig und gefällt sich darin, die Dunkelheit zu preisen, als wohne ihr eine größere Wahrheit inne als dem Hellen. Mit dem Sammeln von Lebenserfahrungspunkten allerdings schwinden diese Flausen aus den Köpfen und es kommt die Erkenntnis hinein: Wir schalten den Fernseher ein, um das Licht zu sehen. Eine Figur, die uns über drei Staffeln bei allen gelegentlichen Meinungsverschiedenheiten ein Freund geworden ist, wollen wir am Schluss nicht als gebrochenen Schwachkopf sehen. Ich entscheide mich dennoch für diesen zweiten Interpretationsansatz, denn der kann durch die neuen Folgen in Würde widerrufen werden. Wollen wir nicht alles, was geschehen ist, überbewerten. Wir kennen schließlich alle solche Tage: zu wenig geschlafen, zu schlecht gegessen, die Freundin wurde entführt, man selbst des Mordes an einem Kollegen beschuldigt, eine Kugel ins Bein geschossen – da kann es schon mal zu Kurzschlusshandlungen kommen. Ein starker Kaffee, eine Mütze Schlaf, den Verband gewechselt – und Luther ist wieder der Alte. Ich bin guter Hoffnung, dass es so in den neuen Folgen kommt. Bei der anderen großen Fernsehankündigung dieses Jahres habe ich größere Skepsis. Als ich zum ersten Mal davon hörte, dass Twin Peaks zurückkommt, wurden sofort Erinnerungen an die Große Enttäuschung von 1999 wach. Drei Tage und drei Nächte lang lief damals der Download von Star Wars – Episode I: The Phantom Menace über den Uni-Server, und als man dann endlich im Freundeskreis einen Computer gefunden hatte, der so was abspielen kann … ach, Sie wissen schon. Heute sind die Internetverbindungen schneller, aber die Menschen nicht kreativer. Selbstverständlich werde ich mir die neuen Twin Peaks-Folgen ansehen, und wenn sie gut geworden sind, werde ich zufrieden lächeln. Aber zu großen Hoffnungen mag ich mich nicht hinreißen lassen. Nach dem indiskutablen Inland Empire, den lieb- und einfallslosen Video-, Musik- und Werbewerken der letzten Jahre und seiner beängstigenden wie enttäuschenden Begeisterung für esoterisches Meditationsgedöns halte ich die Hoffnung auf ein überzeugendes neues Werk von David Lynch für in etwa so berechtigt wie die Hoffnung auf ein überzeugendes neues Werk von Dario Argento. Ich muss außerdem kleinlaut gestehen, dass das gute alte Twin Peaks in zumindest meinen Augen nicht sonderlich gut gealtert ist. Ich habe damals alles mitgemacht: Private Guck-Partys mit Kirschkuchen und Kaffee organisiert, Quizpreise bei offiziellen Twin-Peaks-Mottopartys in Großraumdiskotheken abgeräumt, und ich hatte das Print-Magazin Wrapped in Plastic noch abonniert, als das letzte Secret Diary of Laura Palmer längst verramscht war. Als ich jedoch zur DVD-Veröffentlichung der Serie vor ein paar Jahren die alte Jugendliebe noch einmal neu entflammen wollte, bin ich auf halbem Wege wieder ausgestiegen. Und das obwohl ich stets der stolzen Außenseitermeinung war, dass die zweite Staffel besser gelungen war als die erste; gerade weil so versponnen. Lynch guckt man ja wohl wegen des Lynchigen, nicht weil man wissen will, wer wen wie wo warum umgebracht hat. Dafür gibt es Vorabendkrimis. Überhaupt wird es so langsam ein bisschen viel mit diesen Nostalgiefortsetzungen. Den Star Wars-Trailer von neulich erspare ich Ihnen an dieser Stelle, sie kennen ihn bestimmt bereits auswendig. Star Wars kann mir eh gestohlen bleiben, ich möchte mein Krieg der Sterne zurückhaben. Der Trailer gibt da Anlass zur Hoffnung, das will ich nicht bestreiten. Doch auf Trailer ist immer seltener Verlass. Die Älteren erinnern sich bestimmt noch an die für Prometheus und Guardians of the Galaxy. Da stellte sich dann später auch heraus, dass es sich bloß um Filme handelte. Immerhin sieht der Star Wars-Trailer danach aus, als hätte man komplett neues Material gedreht. Ganz anders als ein gewisser anderer Nostalgiefortsetzungstrailer, der so aussieht, als hätte man die ersten vier Filme nur neu zusammengeschnitten und die beliebtesten Bonmots von anderen Schauspielern einsprechen lassen. Überhaupt, Nostalgie. Mit ihr ist es wie mit dem Sterben. Genauer: wie mit den fünf Sterbephasen nach Kübler-Ross. Die ersten beiden Phasen habe ich hinter mir: Die des Nicht-Wahrhaben-Wollen („Nostalgisch? Ich doch nicht! So was passiert nur den anderen!“) und die des Zornes („Ich werde nie zu einer dieser bescheuerten Drei-Fragezeichen-Playback-Lesungen gehen!“). Ich bin jetzt in der Phase des Verhandelns (was nicht heißt, dass ich jemals zu einer dieser bescheuerten Drei-Fragezeichen-Playback-Lesungen gehen werde): Nostalgie lasse ich dann zu, wenn sie sich auf Dinge bezieht, zu denen ich eigentlich gar keinen starken biografischen Bezug habe. Quasi Phantomnostalgie, eine Nostalgie der verpassten Gelegenheiten. Großen Spaß habe ich auf meine alten Tage zum Beispiel mit den Filmen der Reihe Mad Mission, die ich in jungen Jahren zwar wahrgenommen, aber zunächst nicht angesehen hatte. Würde jemand in Hongkong diese Serie mal fortsetzen, rebooten oder reimaginieren, würde ich in Sekunden zur glucksenden kleinen Fanperson. Bis dahin gefallen mir die amerikanischen Remakes mit Vin Diesel und Paul Walker allerdings auch ganz gut.Nudeltechno in der Stadt, die ziemlich früh zu Bett geht [Kaiho-Kolumne]
Hatte ich ganz vergessen zu erzählen: Weil es eines Abends beim Stammtisch der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern so gemütlich war, habe ich mich breitschlagen lassen, fortan eine Kolumne für das Vereinsblatt Kaiho zu schreiben. Und irgendwann werde ich auch Mitglied, versprochen.
An dieser Stelle werde ich die Kolumnen mit Zeitverzögerung zweitverwerten. Immer dann, wenn es im Heft eine neue zu lesen gibt, darf alle Welt hier einen Blick auf die alte werfen. Im aktuellen Kaiho lesen geneigte Mitglieder dieser Tage die neuesten Folge Die verschuldeten Idole von Galapagos. *** Vor ein paar Jahren verbrachte ich einige Nächte in einem Hotel in Ikebukuro. In einer dieser Nächte bezeugte ich, wie eine verhältnismäßig junge Dame mit karibischem Teint, einem roten Glitzerkleid und einem passenden Hut mit beeindruckender Krempe an die Rezeption trat. Sie wirkte ein bisschen, als sei sie gerade frisch aus dem New Yorker Studio 54 herausgetreten, und sie fragte die Rezeptionistin, wo man hier nach der besten Clubbing-Gelegenheit suchen müsse. Die Rezeptionistin geriet daraufhin gehörig ins Schwimmen. Das mochte ganz unterschiedliche Gründe gehabt haben. Vielleicht war gerade Clubbing gerade ihr Kompetenzgebiet nicht. Vielleicht nahm sie das „hier“ zu lokal, schließlich ist der Glanz von Ikebukuro als Ausgeh-Ort schon fast so lange verblasst wie der des Studio 54 (das stört freilich nicht, wenn man den ganz besonderen Schimmer verblassten Glanzes zu schätzen weiß). Vielleicht hatte sie bei ihrem Hadern aber auch nur die Gesetzeslage im Sinn. Dann hätte ihre Antwort mit einem Blick auf die Uhr lauten müssen: „Ach, das lohnt jetzt sowieso nicht mehr. Gehen Sie lieber morgen gleich nach dem Abendessen los.“ Das Motto der Stadt, die niemals schläft, entlehnen Anhänger diverser Großstädte überall auf der Welt regelmäßig vom rechtmäßigen Besitzer (New York) und veredeln damit ihre eigenen Lieblingsstädte. Ich habe nicht selten gehört, wie das unüberlegt sogar über die japanische Hauptstadt gesagt wurde: Tokio – die Stadt, die niemals schläft. Dabei wäre ein viel passenderer Slogan: Tokio – die Stadt, die ziemlich früh zu Bett geht. Oder falls es unbedingt schlaflos klingen muss: Tokio – die Stadt, die früh aufsteht und keinen Mittagsschlaf braucht. Wenn allerdings in anderen Weltstädten das Nachtleben vornehm spät beginnt, müssen Tokios Nachtfalter schon wieder die Flatter machen. Denn Aufgrund eines Gesetzes, das im Nachkriegsjapan der Prostitution Einhalt gebieten sollte, darf in japanischen Clubs ohne Sondergenehmigung nur bis Mitternacht getanzt werden. Also eine Zeit, zu der westliche Clubber erst so langsam anfangen, sich die Schuhe zu schnüren. Inzwischen glaubt kaum mehr jemand, dass Tanzen die Einstiegshandlung zur Prostitution ist, doch das Gesetz blieb bestehen. Vermutlich, weil es einfach vergessen wurde. Jahrzehntelang hatte sich niemanden daran gestört – in den Clubs wurden die Nächte durchgetanzt, die Justiz hatte Wichtigeres zu tun. Seit einigen Jahren aber hat man wieder ein strengeres Auge auf das veraltete Spättanzverbot. Um Ruhestörung zu unterbinden, sagt die Polizei. Weil anständige Clubs leichter zu maßregeln sind als unanständige Rotlichtbetriebe, mutmaßen Polizei-Skeptiker. Es ist durchaus keine Unmöglichkeit, eine Sondergenehmigung zu bekommen. Doch das wollen die meisten Club-Betreiber nicht, denn damit würden sie automatisch den fuzoku eigyo zugerechnet, einem dehnbaren Sammelbegriff für irgendwie anrüchige Erwachsenenunterhaltung. Es wäre wie ein Eingeständnis, dass das Gesetz doch irgendwo recht hat. Immerhin, inzwischen bröckelt die Rechtslage. Eine baldige Reform ist sehr wahrscheinlich, schon jetzt gibt es kreative Wege der Umgehung. Seit 2013 werden Techno-Udon-Partys immer beliebter. Dabei wird gemeinschaftlich der Teig für Udon-Nudeln geknetet, mit Füßen, auf einer Tanzfläche, zu Techno-Beats. Das darf bis spät in die Nacht gehen, denn gegen nächtliche Speisezubereitung gibt es kein Gesetz. Selbstverständlich werden die Nudeln am Ende der Veranstaltung sofort zubereitet und verspeist. Tanzen beziehungsweise Kneten macht halt hungrig. Trotz juristischem Entgegenkommen und kreativen Umwegen wird Japan in Sachen Club-Kultur wohl noch einige Zeit Entwicklungsland bleiben. Kurios, wenn man bedenkt, wie meilenweit Japan in anderen Aspekten der Popkultur und des modernen Lebens die Nase vorn hat. Selbst wenn nachts getanzt werden dürfte – wie sollte man hin- und wieder wegkommen? Die öffentlichen Verkehrsmittel machen selbst in Millionenstädten zu Mitternacht Schicht im Schacht, mit Nachtbussen wird nur zögerlich experimentiert (und das gegen den lautstarken Widerstand der Taxiunternehmer). Dabei ist das Tanzen in der Stadt noch immer sehr viel leichter und freier als das Tanzen am Strand. In den Strand-Clubs der Shonan-Region darf Musik seit kurzem nur aus offiziell von regionalen Ämtern verteilten und voreingestellten Lautsprechern kommen. Und auch das nur, wenn es sich nicht um ‚Club-Musik‘ handelt. *** Aktueller Nachtrag: Nach (aber vermutlich nicht wegen) des Erscheinens dieser Kolumne wurden die Gesetze gelockert. Inzwischen darf länger getanzt werden, wenn es im Tanzschuppen heller als in einem Kino ist.Wie ich Diablo 4 rettete
Vor rund zwei Jahren habe ich mir ein Computerspiel gekauft, und jetzt komme ich endlich dazu, es zu spielen. Denn Diablo III ist das perfekte Spiel für Säuglingseltern. Man kann schnell mal eine Runde einschieben, wenn sich das Kind gerade zu seinem nächtlichen Halbstundenschlaf hat bewegen lassen und der andere Elternteil das unter der Dusche feiert. Gottlob ist das Spiel nicht gut genug, um größeren Trennungsschmerz auszulösen, wenn man sich nach dieser kurzen Zeit der inneren Einkehr und des Monsterzerhackens wieder anderen Herausforderungen stellen muss.
Das ist zwar praktisch, aber in einem gewissen Sinne auch ein bisschen schade. Die vorherigen Diablo-Spiele konnte man schließlich ganze Semesterferien am Stück durchspielen, ohne dass es stinklangweilig wurde. Mag sein, dass der verflossene Reiz und der gedämpfte Enthusiasmus ein bisschen damit zu tun hat, dass 44 eben doch nicht die neue 27 ist. Andererseits komme ich jetzt in genau den Lebensabschnitt, in dem ich mich intellektuell merklich zurückentwickle und mit Wonne jede Prätention fahren lasse (bitte verraten Sie meiner Frau nicht, wie viele Batman-Comics ich mir in den letzten Tagen heimlich heruntergeladen habe). Ich bin mir sicher, dass es nicht an mir liegt, sondern an Diablo 3. Um die Reihe vor sich selbst retten, habe ich einen Fünf-Punkte-Plan aufgestellt, der bei der Produktion des nächsten Spiels befolgt werden muss. Bevor es losgeht, muss ich mich schon für den ersten Punkt entschuldigen. Es wurde schon so viel über diesen Aspekt gemeckert, dass man sich als Troll fühlt, noch einmal damit anzukommen. Andererseits ist der Troll ja aus der Fantasy kaum wegzudenken, und die Kritik bleibt berechtigt. Wer also den Elefanten im Zimmer, wie man im anglofonen Raum sagt, bereits bemerkt hat, kann gleich zum zweiten Punkt springen. 1. Der Elefant Der Immer-Online-Zwang selbst für Spieler, die einen heiligen Eid geschworen haben, niemals, niemals, niemals mit anderen Kindern zu spielen, muss weg. Er machte Diablo III für Tage nach der Veröffentlichung unspielbar, sorgte auch danach noch für massive technische Probleme, ist eine Ressourcen fressende, unfreundliche, gruselige Gängelung ehrlicher Käufer. So geht man nicht mit Kunden um, Kunden sind schließlich Könige, und Könige können selbst entscheiden, wann sie online sein möchten. 2. Nicht das Rollenspiel in ‚Action-Rollenspiel‘ vergessen Liebe Diablo-Entwickler: wir sind zwar blöd, aber nicht so blöd, wie ihr zuletzt wohl gedacht habt. Die Diablo-Spiele betonten die Action in ‚Action-Rollenspiel‘ immer stärker als das Rollenspiel, und das war auch gut so. Wir wollen bloß keine verzweigten Dialog-Bäume, Mitentscheidungspflicht in Handlungsdingen oder Open-World-Unsinn. Die Action war immer die Suppe von Diablo. Doch die Rollenspielelemente, in erster Linie also die sorgsame Pflege und Weiterentwicklung der eigenen Spielfigur, waren stets das Salz. Durch die weitere Reduzierung, vulgo Runterdummung, der rollenspielerischen Elemente in Diablo III schmeckt die Suppe etwas fade. Diablo III ist kaum mehr als ein aufwendig getarntes Arcade-Spiel. Das kann man mal kurz zwischendurch schlürfen, aber es ist kaum ein Hauptgang, wenn ich meine Suppen-Metapher mal überstrapazieren darf. Ich möchte nächstes Mal beim Stufenaufstieg wieder mehr entscheiden dürfen als die Schnellzugriffstaste für die zwangszugeteilte neue Fertigkeit. Ich möchte außerdem mehr Charakterklassen zur Auswahl haben. Oder zumindest welche, die sich unterschiedlich spielen. Habe es bisher als Dämonenjägerin und Mönchin (oder heißt das dann Nonne?) versucht und spielerisch keinen Unterschied feststellen können. Wenn ich mich recht erinnere, war es noch in Diablo II ein ganz anderes Erlebnis, ob man den Barbaren oder die Geisterbeschwörer gab. In diesem Sinne: 3. Mehr bessere Story Man kann an der Handlung von Diablo ff. nicht viel aussetzen, weil man sie gar nicht kennt, wenn man ehrlich ist. Oder hat irgendjemand jemals zugehört, wenn irgendwer im Spiel geredet hat? Hat sich jemals jemand die ganzen Auftragsbeschreibungen und anderen Textbeiträge, die man irgendwann zufällig in irgendwelchen Untermenüs findet, wirklich durchgelesen? Hab ich mir gedacht, ich auch nicht. Irgendwas mit Gut und Böse halt, Dunkelheit, Höllenfürsten, hu. Das Spiel ist auch ohne Kenntnis der Handlung spielbar. Daran sollte man nicht rütteln. Andererseits könnte man sich ja mal eine ausdenken, die zum Mithören und Mitlesen zwingt – nicht, weil man sonst nichts verstünde, sondern weil man sich wirklich dafür interessiert? Ich selbst habe übrigens eine geldwerte Story-Idee für ein neues Diablo-Spiel, die ich allerdings ohne Geld niemandem verrate. Es ist eine Idee, die den Spielfluss so unberührt lässt, wie es sich für ein Diablo-Spiel gehört, aber trotzdem mindestens eine garantiert unerwartete, schockierende Wendung hat (kurz vor Showdown, würde ich vorschlagen). Dafür allerdings müsste man sich … 4. Einfach mal was trauen Das ästhetische, spielerische und erzählerische Konzept der Diablo-Spiele zu ändern, wäre ein Wagnis. Greift man zu tief ein, maulen die Mäuler: „Pfui Teufel, das ist kein Diablo mehr!“ Macht man derweil weiter wie bisher, skandiert der Wutgamer zu recht: „Unter den Talaren / der Muff von 17 Jahren!“ Behutsame Innovation ist angezeigt. Warum kann man nicht eine andere Perspektive als die ständige Schrägvonoben-Sicht zumindest anbieten? Traditionalisten müssten das Angebot ja nicht annehmen. Möglicherweise ist das technisch ganz furchtbarer Mehraufwand, doch das darf als Gegenargument nicht zählen bei einer Serie, die nur alle Jubeljahre unter viel Premium-Event-Getöse eine neue Folge vom Himmel auf den Markt rieseln lässt. Notfalls kann man ja am Umfang schrauben. Ich habe nie verstanden, warum die Diablo-Fortsetzungen ausgerechnet mit dem Mehr an Umfang gegenüber dem Vorgänger protzten. Quantität ist doch nun wirklich nicht das, was zählt. Gerade bei einem inhärent sehr repetitiven Konzept wie dem der Diablo-Reihe finde ich die Aussicht auf „jeder Nebenauftrag viermal so umfangreich wie das gesamte letzte Spiel!“ eher abschreckend, so viel Zeit habe ich nicht, hatte ich auch präfamiliär nicht. Und warum muss es überhaupt diese durchgenudelte Europäisches-Mittelalter-Fantasy sein? Die ist doch alt. Warum nicht Tempel, Kirschblüten, fliegende Schwertkämpfer, Cowboys, Indianer und Astronauten? Warum sollte Diablo 4 nicht Diablo 4000 AD sein? Und dann wäre da noch dieses Thema, fast so leidig wie Punkt 1: 5. Erst veröffentlichen, wenn es in allen Darreichungsformen fertig ist Hand aufs Herz: niemand spielt freiwillig Computerspiele. Die Dame und der Herr von Welt werden immer die hedonistisch korrekte Konsole dem lustfeindlichen Heimcomputer vorziehen, wenn sie die Wahl haben. Wenn es allerdings zur Veröffentlichung der PC-Version eines lang herbeigehofften Titels nur heißt, die Konsolenversion erscheine „vielleicht höchstwahrscheinlich ganz bestimmt eventuell irgendwann“ greift man vorsichtshalber doch zu diesem vulgären Relikt des 20. Jahrhunderts. Erscheint schließlich die Konsolenversion und gurren alle Vögelchen, sie sei viel besser als die PC-Version (ist sie das jemals nicht?) und laufe sogar ohne Internet (aha! es ist also kein Ding der Unmöglichkeit!), tut sich eine innere Leere auf. Da fällt mir noch ein Unterpunkt ein: Ein Add-on muss wieder Add-on sein. Es wurden einige Äuglein gerieben, als die Diablo III-Erweiterung Reaper of Souls für die Xbox erschien und nur im Bundle mit dem Originalspiel zum Vollpreis erhältlich war. Meine Äuglein waren unter den geriebenen, denn ich muss hier eine schreckliche Verfehlung gestehen: Ja, ich gebe zu, ich habe mir Diablo III zähneknirschend für die Xbox noch einmal gekauft (nicht nachmachen, Kinder, das ist sklavenkapitalistisches Unfugsverhalten für Lämmer und andere Opfer, und ich schäme mich dafür jeden Tag), weil meine Abneigung gegen den Heimcomputer inzwischen so groß ist, dass ich daran nur noch sitzen mag, wenn Bücher ins Reine getippt oder Urlaubsfotos manipuliert werden müssen. Ein drittes Mal kaufe ich mir das Spiel allerdings nicht, Add-on hin oder her. Und überhaupt – Reaper of Souls. Irrer Titel. Wie viele Sekunden haben zwei Zwölfjährige denn darüber gebrütet? Ist ihnen nichts mit ‚Oblivion‘ oder ‚Reckoning‘ eingefallen?Oh, apropos Xbox, da wäre ein weiterer Unterpunkt: Charaktere wollen frei sein sein. Warum darf meine Computer-Dämonenjägerin nicht auf der Xbox spielen? Portieren von Figuren zwischen Systemen sollte heutzutage möglich sein, andere Spiele haben es auch hinbekommen (behaupte ich zumindest, selbst wenn mir gerade keines einfällt), und Online-Features scheint Diablo III ja zu haben.
Danke fürs Zuhören, alles andere kann so bleiben. (Dieser Beitrag verzichtet auf Illustrationen, weil es im Internet schon genügend Bildschirmaufnahmen von Diablo-Spielen gibt. Sie sehen eh alle gleich aus.)Ich würde so gerne mal wieder ein Buch kaufen
Und zwar bei dir, lieber stationärer Buchhandel. In letzter Zeit kaufe ich Bücher wieder verstärkt übers Internet. Dabei teile ich sie, all die romantischen Vorstellungen, von denen jetzt überall wieder so viel zu lesen ist (pikanterweise gerade im Internet): die von der kleinen, freundlichen, mit Liebe sortierten Buchhandlung an der Ecke ebenso wie die von dem sonnenlichtdurchfluteten City-Megastore mit Cappuccino-Sitzecke und mehrsprachiger Monsterauswahl. Beides toll, in der Theorie. Ich hätte auch durchaus keine Gewissensbisse, den Internethandel nicht mehr genügend zu unterstützen, wenn ich meine Bücher nicht dort bestellte, wo ich meine Windeln abonniere (also nicht direkt meine Windeln … Sie verstehen schon). Ich unterstütze den Internethandel schon in genügend anderen Bereichen, da kann ich Kulturgüter gern an kulturell wohlfeileren Orten kaufen. Denn die romantische Vorstellung vom Kulturgut Buch teile ich auch, immer noch, trotz der ganzen Lehrerkinder-, Katzenberger-, Torwart- und „Glaub an dich, dann glaubst du an dich“-Bücher da draußen. Die segensreiche Preisbindung kann man meinetwegen gerne auf andere Kulturgüter (Musik, Film, Hörbuch) ausweiten, den Kulturschaffenden und somit auch den Kulturkonsumierenden wird es nützen. Ich hatte in den letzten Jahren durchaus schöne Erlebnisse in real existierenden Buchhandlungen, bin selten ohne Transaktion aus einer hinausgegangen – ob in Bangkok, Barcelona, London, Paris, Seoul, Singapur, Taipeh oder Tokio.
Warum nur kommt das in München, Rothenburg oder Bremen nicht vor? Wieso finde ich dort weder die Dinge, die ich suche (und das ist wirklich selten allzu extravagant; ich bin simpler gestrickt, als ich es selbst wahrhaben möchte), noch Dinge, die ich spontan begehren kann? Die Bücher, die ich mir zuletzt in den Buchhandlungen der zuvor genannten internationalen Angeber-Städte gekauft habe, waren teils genau die, die meiner vorformulierten Kaufabsicht entsprachen, teils verheißungsvolle Zufallsentdeckungen, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte, weder aus der Presse noch von Algorithmen oder Verlagsvorschauen. Letzteres, weil sie von Verlagen stammten, die ich nicht ohne Weiteres auf dem Schirm hatte. Das wird in einer deutschen Mainstream-Buchhandlung nicht passieren (und nur um solche, vorgeblich breit aufgestellte Buchhandlungen geht es mir – dass es ganz wunderbare fachgebietspezialisierte Läden gibt, stelle ich nicht in Abrede), denn dort wird nichts ins Regal gestellt (geschweige denn auf den Tisch gelegt), was kleiner ist als Heyne. Die Hälfte aller Bücher sieht aus wie Dan Brown, und die Hälfte davon ist bei genauerer Betrachtung auch Dan Brown. Die andere Hälfte ist Pirincci und Sarrazin, also etwas, was ich bei einem Händler mit Gehirn und Gewissen gar nicht sehen möchte. Bei den Kettengeschäften ist das so, weil sie mit den Kettenverlagen kuscheln, beziehungsweise die mit ihnen. Bei den Kleinen ist das womöglich so, weil sie um ihre Existenz bangen und sich Bestseller im Zweifelsfall besser verkaufen als gute Bücher. Dafür vollstes Verständnis, macht den Zustand aber nicht besser. Es ließe sich bestimmt ein Mittelweg finden. Vielleicht mal ein oder zwei Bücher ins Sortiment nehmen, mit denen keiner rechnet. Das wäre ein Anfang, und es wäre bestimmt immer noch genug Platz für Darm mit Charme. Am Rande sei darauf hingewiesen, dass ich in den meisten der im ersten Absatz erwähnten Auslandsstädte die Landessprache gar nicht genügend beherrsche, um in ihr andere als Miffy-Bücher fließend zu lesen (Abb. unten). Meine wunderschönen Einkaufserlebnisse beziehen sich also im Zweifelsfall lediglich auf die Abteilungen für englischsprachige Bücher in den betreffenden Häusern. Daraus lässt sich der Schluss ziehen: Deren Fremdsprachenabteilungen sind liebevoller bestückt als die Landessprachenabteilungen hiesiger Buchläden. Der Fairness halber sei gesagt, dass es sich in der Mehrzahl nicht um irgendwelche Buchläden handelte, die ich dort besuchte, sondern um bibliophil bekannte Vorzeigegeschäfte. Aber gerade drum sollte man sich an ihnen ein Beispiel nehmen. Wenn man nicht von den Besten lernt, wird’s nicht besser. Es geht nicht darum, dass jeder Buchhändler jede Underground-Veröffentlichung aus jedem Independent-Knochenbrecher-Verlag vorrätig und im Schaufenster haben sollte. Es geht darum, kleinere Verlage, die genauso professionell arbeiten und anbieten wie jede Random-House-Abteilung, überhaupt in Betracht zu ziehen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass das außerhalb von Spezialgeschäften geschieht. Ich demonstriere es gern einmal am eigenen Beispiel. Dabei begebe ich mich auf dünnes Eis, denn es klingt leicht jammerlappig, wenn sich Autoren über mangelnde Präsenz der eigenen Titel bei einzelnen Händlern beschweren: „Buhhuhu – die halten meine Bücher in Geiselhaft! Da muss schnell eine Petition/ein offener Brief/der Staat her!“ So ein Blödsinn. Hat’s ein Händler nicht, geht man halt zum nächsten. Ist ja nicht so, dass beim Handel mit Büchern in Deutschland irgendjemand auch nur annähernd ein Monopol hätte (die gegenteilige Unsinnsbehauptung wird auch durch ihre gebetsmühlenartige Wiederholung nicht wahrer; zu meiner Überraschung hat zuletzt ausgerechnet die Taz versucht, ein bisschen empirische Vernunft in eine Debatte zu bringen, in der die meisten nur diffus gefühlsduseln). Trotzdem kann es anstrengend sein, Händler um Händler abzuklappern, bis man ein Buch findet, das nicht von Dan Brown ist und in etwa vielleicht sogar dem Buch entspricht, nach dem man gesucht hat. Ich also bin wie jeder andere Autor auch: wenn ich in einer Buchhandlung bin, schaue ich erst mal unauffällig, ob meine eigenen Bücher vorrätig sind. Drei sind bislang veröffentlicht: eines in einem sehr großen Verlag, eines in einem relativ kleinen Verlag mit kuscheliger Anbindung an einen größeren Verlag, und eines in einem kleinen Verlag, der alles ganz alleine stemmen muss. Das Buch aus dem großen Verlag finde ich so gut wie immer. Das aus dem relativ kleinen Verlag mit guten Beziehungen finde ich angesichts des etwas abseitigen Themas überraschend häufig, auch wenn ich meistens etwas länger suchen muss. Das aus dem kleinen Verlag so gut wie nie. Es geht mir, wie gesagt, nicht um die himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass gerade mein Buch gerade nicht bei Hugendubel auf dem Tisch am Eingang liegt (da liegen ja meist eh die Mängelexemplare und scheinreduzierten Kochbücher). Es geht um das strukturelle Problem, dass dieses Buch – und andere Bücher anderer Autoren, anderer Verlage – im Handel komplett unsichtbar ist, abgesehen vom Internet-Handel. Da hilft auch nicht das ständig breitgetretene Argument, der Buchhandel könne ja jedes lieferbare Buch in Windeseile bestellen. Ich will gar nicht erst davon anfangen, dass man immer wieder auf Mitarbeiter trifft, die das offenbar nicht können. Oder davon, dass es schon etwas anderes ist, ob man ein Buch am nächsten Tag an die Wunschadresse geliefert bekommt, oder nach Feierabend noch mit dem Abholschein in die Stadt hetzen muss, bevor das Ladenschlussgesetz seine hässliche Fratze zeigt. (Ja ja – früher ging es auch ohne Internet und Lieferung frei Haus und ständige Verfügbarkeit von allem. Genauso wie es früher auch ohne Telefon/Heizung/Penicillin ging. Ansprüche ändern sich nun mal mit den Möglichkeiten, darüber gibt es kein Mokieren.) Es geht darum, dass ein Kunde nicht nach einem Buch fragen kann, von dem er gar nicht wissen kann, dass es existiert. Man muss es so sagen: der große, böse Internet-Handel ist ein Segen für liebenswerte, kleine Verlage und deren liebenswerte, kleine Autoren. Egal, was die Verschwörungstheoretiker gerade behaupten: Algorithmen unterscheiden nicht zwischen opportun und inopportun, allenfalls zwischen gut lieferbar oder nicht so gut lieferbar. Da stehen klein und groß gleichberechtigt nebeneinander. Ist dies also ein Plädoyer für den hemmungslosen Internet-Kaufrausch? Nein, ich plädiere dafür, dass der stationäre Handel gefälligst ordentlich arbeitet und zumindest ansatzweise die Vielfalt des deutschen Buchmarktes darstellt, verdammt noch eins. Dann klappt’s auch wieder mit uns. Ich komme demnächst zu einem unangekündigten Kontrollbesuch vorbei. Ich will, dass sich bis dahin was geändert hat. Und ich will, dass ich dann mit mindestens einem Buch (kein Kochbuch, kein Mängelexemplar) den Laden verlasse. Davon haben wir beide etwas, lieber, noch immer hochgeschätzter stationärer Buchhandel.Fußball-Krimi: Deutschland gegen Argentinien jetzt wieder 0:0
Gestern nach Redaktionsschluss ist noch was passiert, was ich für meinen WM-Report nicht mehr berücksichtigen konnte, Sie wissen schon. Im Fußballjargon nennt man es wohl harakiri.
Ich sage es gleich: ich habe den sogenannten Gaucho-Tanz nicht gesehen und habe nicht vor das nachzuholen, ich bin eh total im Rückstand mit Internetvideos (hab noch nicht mal das gesehen, wo sich die ganzen Leute küssen). Ich muss also mit Hörensagen arbeiten, was mir für einen glasklaren, messerscharfen Durchblick vollkommen ausreicht. Gehört habe ich, dass das Ganze wohl auf einem traditionellen Fanritual basiert, das immer durchgeführt wird, wenn einer gewinnt und einer verliert, mit angepassten Variablen. Tradition ist freilich kein Freifahrtschein für jeden Mist. Diesen speziellen Mist finde ich generell albern aber vertretbar, in diesem speziellen Fall allerdings ein wenig unglücklich (vollwertige Empörung spare ich mir lieber für Raketeneinschläge und Lebensmittelskandale auf). Denn selbstverständlich sehen Sieger nicht so aus wie jemand, der sich über Verlierer lustig macht. Bei solchen Gesten macht es durchaus einen Unterschied, von wem und in welchem Rahmen sie kommen. Genauso stimmt es, dass ein Gaucho-Tanz kein Hitlergruß ist, noch nicht mal im Ansatz. Die Erklärungs- und Beschwichtigungsversuche der Anhänger, die sich ihre Freude am Fußball nicht nehmen lassen mögen, kann ich gut verstehen, denn sie erinnern mich an mich, wenn Morrissey oder Michel Houellebecq mal wieder den Mund aufmachen. Schon während sie Luft holen, formuliert man ein stilles Stoßgebet: Bitte, bitte … nichts über Hühnerhaltung, Massenmord, Sextourismus oder den Islam. Aber es kommt, wie es immer kommt, und hinterher sagt man: Aber … aber … sie singen doch so engelsgleich (Morrissey) und schreiben so schöne Bücher (beide). Und diese Rechtfertigungen sind gar nicht ganz so halt- und hilflos, wie sie klingen. Manche Menschen können sich halt in unterschiedlichen Foren und Formen unterschiedlich gut ausdrücken. Mir ist in meinem persönlichen Umfeld kein leidenschaftlicher Mensch bekannt, der sich beim Vertreten seiner Ansichten nicht schon einmal im Ton vergriffen hätte. Selbstverständlich hat Morrissey prinzipiell recht damit, dass Tierleben gewürdigt und geschützt gehören. Selbstverständlich hat Houllebecq ganz allgemein recht damit, dass Religion auch Nachteile und Prostitution auch Vorteile hat. Was habe ich schon Witze über Japaner gemacht. Was hat meine Frau schon Witze über Deutsche gemacht. Gottlob war das Fernsehen nie dabei. Wenn gar nichts anderes hilft, kann man auch mal Kunst von Künstler trennen: Er ist zwar ein Arsch, aber ich freue mich schon aufs nächste Lied/Buch/Spiel; das kann er wie kein zweiter. Darüber hinaus ist stets zu bedenken: Es gibt nichts Langweiligeres, als sich nur mit Menschen zu befassen und zu umgeben, die alles genau so sehen, formulieren und machen wie man selbst. Das macht träge und einfältig. Jetzt spielen also Schweini, Poldi und wie sie alle heißen in derselben Liga wie Morrissey und Michel Houellebecq? Weltmeister der kulturellen Kommunikation? Wollte ich das damit sagen? Keine Ahnung, aber was ich auf jeden Fall sagen muss: Meine Fresse, was waren die Argentinier für schlechte Verlierer! Im Grunde ist ihnen jeder Spott von jedem zu gönnen. Die haben mit der Unsportlichkeit angefangen. So, wie Messi bei der Siegerehrung geguckt hat, guckt man einfach nicht bei einer Siegerehrung. So sehen keine traurigen Verlierer aus, so sehen bockige Kleinkinder aus. Trotzdem zeigt die deutsche Mannschaft keine Größe, wenn sie genauso kleinkindisch kontert. Ich hätte einen Vorschlag zur Güte: Wir haben uns ja nun schon alle genug gefreut, das kann uns keiner mehr nehmen. Erklären wir doch einfach das Finale für ungültig und Holland zum Weltmeister. Oder (besser) Costa Rica. Argentinien und Deutschland schicken wir ohne Abendessen auf ihre Zimmer, wo sie mal über die ganze Sache nachdenken können. Zur Aufheiterung spricht das Wort zum Donnerstag Onkel Mo, hier mit Tante Pam: