Mein erstes Mal in Japan (2): Rockkonzert

Es ist mir ein Bedürfnis, zweierlei zu meinem Maid-Café-Eintrag von neulich nachzureichen. Beim ersten handelt es sich um die Schilderung einer Begebenheit, die ich mir zwar unmittelbar nach meinem Besuch als interessant notiert, aber bei der Schönschrift dann doch vergessen hatte. Und zwar: Gerade als ich das Lokal verließ, kam eine neue Gäste-Clique herein – und die bestand nahezu komplett aus jungen Frauen. Unverdächtigen, recht attraktiven jungen Frauen. Ich will nicht behaupten, dass dadurch auf einen Schlag das Geschlechterverhältnis im Café kippte, aber die Männerquote von zuvor 100% (Personal freilich nicht mitgerechnet) wurde doch beträchtlich gesenkt.

Der zweite Nachtrag ist das Eingeständnis einer faustdicken Lüge meinerseits. Das verräterische Herz böllert nun doch zu heftig gegen die Dielen. Ich habe geschrieben, dass ich am Abend des Tages meines Café-Besuches im Fernsehen eine Folge der Serie ‚Maid Deka‘ gesehen habe. Sie haben es bestimmt längst bemerkt: Das kann gar nicht sein! ‚Maid Deka‘ läuft doch freitags, und das Foto aus dem Maid Café ist eindeutig auf den 2. September 2009 datiert! Und das war ein Mittwoch!

Ja, ich gebe zu, ich habe die Wahrheit für einen dramaturgisch geschmeidigen Abgang geopfert. Und ich würde es wieder tun.

Ich habe die besagte Fernsehserie zwar das eine oder andere Mal gesehen, aber eben nicht an jenem Abend. Tatsächlich habe ich mich nach dem crazy Café keineswegs geschont und ins Private zurückgezogen, sondern – Kaiserüberleitung – habe mich eine weitere persönliche Japan-Premiere getraut: Mein erstes Rockkonzert.

Ticket

Dass ich zuvor kein solches auf japanischem Boden besucht habe, liegt freilich weder an Scham noch an Desinteresse, sondern wirklich lediglich daran, dass gute Reisezeit und gute Konzertzeit nicht immer Schnittmengen haben. Aber diesmal gibt es ein Konzert, das mich interessiert und das günstig liegt: Die Nachfeier zum Erscheinen des Independent-Samplers ‚Kill Your T.V. 09‘ mit mehreren darauf vertretenen Bands, im wesentlichen Gitarrenbands der brummigen Sorte. Es soll im ‚nest‘-Abteil des Club-Komplexes Shibuya O-WEST stattfinden. Auf der Website von Shibuya O-WEST ist eine Karte mit der Lage des Etablissements einzusehen: Püppileicht. Man muss nur scharf am Shibuya 109 vorbei, dann die nächste rechts oder links (je nachdem, an welcher Seite man scharf vorbeigegangen ist), und eigentlich ist man schon da. Das Modekaufhaus Shibuya 109 ist nicht zu übersehen, wenn man in Shibuya ist. Ein kunterbunter Monolith, fliegt man als Tourinaut vorbei, staunt man: „Mein Gott … es ist voller Menschen!“ Vor allem junge Menschen. Betritt man es als über 25-jähriger, sterben bei jedem Besuch ein paar Gehirnzellen. Schuld ist neben der optischen Reizüberflutung die ohrenbetäubende Musik, die die jungen Kunden nicht davon abhält ununterbrochen miteinander zu telefonieren. Bei jungen Menschen sterben die Gehirnzellen übrigens auch, aber in dem Alter ist das ein natürlicher und notwendiger Aspekt der Assimilation, damit man den Rest des Lebens besser meistern kann. Das nur am Rande, ich betrete es ja gar nicht, sondern gehe scharf links daran vorbei. Als hätte ich es geahnt, führt mich die nächste Straße rechts keineswegs zum Ziel. Japaner und ich haben gemein, dass wir leicht zu verstehende Karten komplizierten Karten vorziehen. Wir haben nur eine unterschiedliche Vorstellung davon, wie sich ‚leicht zu verstehen‘ definiert. Ich meine, eine Karte ist gut, wenn jede noch so unwichtige Straße darauf eingezeichnet ist, damit man sich daran orientieren und Abbiegungen abzählen kann. Japaner meinen, eine Karte ist gut, wenn nur die Straßen eingezeichnet sind, die man wirklich benutzt auf dem Weg zum Ziel. Kurzum: Es handelte sich bei der Straße, die ich auf der Karte für ‚die erste rechts nach Shibuya 109‘ hielt, keineswegs um die erste rechts. Sondern ungefähr um die 127. rechts. Die anderen 126 waren nur nicht auf der Karte eingezeichnet, weil man sie ja nicht nehmen muss. Ich verfranse mich ganz schlimm in den Love-Hotel-Hügeln von Shibuya und finde O-WEST erst durch Zufall, als ich längst auf dem Heimweg bin und eigentlich gar keine Lust mehr habe. Habe ich dann aber doch wieder, Erfolgserlebnisse lassen Glückshormone sprudeln.

Das ‚nest‘ ist ein angenehm kleiner Club im siebten Stock. Die Unisex-Klos ein Stockwerk tiefer lassen sich über eine Brooklyn-mäßige Außentreppe erreichen. Die coolsten Kids stehen natürlich nicht im Club, sondern auf dieser Treppe, rauchen und telefonieren. ‚Kids‘ ist richtig, denn das Publikum ist zu einem sehr großen Teil sehr jung, oder scheint zumindest so. Man möchte sich das ein oder andere Mal direkt runterbeugen, die Hände auf die eigenen Oberschenkel legen und fragen: „Ja, darfst du denn schon so lange aufbleiben?“ Aber dann fällt einem ein: Ist ja gar nicht spät, so ein Punkkonzert geht in Japan schließlich schon um 18 Uhr 30 los, damit jeder noch gut per Bus und Bahn nach Hause kommt. Als Tourist gefällt mir der frühe Anfang, als Berufstätiger dächte ich wohl anders. Aber die meisten hier sind eh zu jung für Berufe.

Die erste Band habe ich wegen Orientierungsschwierigkeiten verpasst, aber ich komme genau rechtzeitig zu dem Auftritt, der mir ohnehin Hauptanliegen war: Mass of the Fermenting Dregs, ein Girl-Rock-Duo mit Quoten-Boy am Schlagzeug. Eigentlich finde ich die gar nicht gut, aber ich wollte das Konzert nutzen, mich eines besseren belehren zu lassen, denn ‚ALLE‘ finden die gut. Die hochgelobten beiden EPs der Band sagten mir nicht viel, ich fand den Sound dünn und die Kompositionen wenig bemerkenswert. Vielleicht aber, so der Gedanke, sind sie live besser, wäre bei dieser Art von Musik kein Einzelfall. Und genau so kommt es: Live hat der Sound mehr Bass und Brett, die Musik haut einem wunderbar eine runter. Sängerin Natsuko Miyamoto interagiert begeistert mit dem Publikum, Gitarristin Chiemi Ishimoto bleibt weitgehend stumm und schüttelt genreimmanent ihr Haar. It’s a beautiful noise, um es mit Metal-Legende Neil Diamond zu sagen.

Da dieses Konzert in der englischsprachigen Veranstaltungspresse der Leserschaft recht warm ans Herz gelegt wurde, wundert es mich ein wenig, dass ich einer von nur sehr wenigen offensichtlichen Ausländern bin. Zwei Amerikaner halten sich an ihren Bierdosen fest (an meiner wär unangenehmer), ein sympathisches italienisches Biker-Paar im fortgeschrittenen Alter kauft euphorisch nach jeder Band den Merchandising-Stand aufs neue leer. Ein Merchandising-Produkt, das ich in Deutschland selten bei Independent-Konzerten sehe, das hier aber sehr beliebt scheint, ist das Handtuch mit Aufdruck. Außerdem anders: Zu Stoßzeiten stehen die Kaufinteressierten gesittet an, anstatt die Verkäufer als brüllende Menschentraube kollektiv zu zerquetschen.

Sagte ich gerade etwas von Bierdosen? Gut möglich, denn Bier wird an der Theke in Dosen verkauft. Hat der japanische Musikliebhaber seine Dose ausgetrunken, wirft er sie in den dafür vorgesehenen Behälter. Man stelle sich das mal in Deutschland vor: Ein Rockkonzert, bei dem pfandloses Dosenbier verkauft wird. Vielleicht würde gar nichts passieren.

Angenehm ist, dass die Menschen wirklich zum Feiern der Musik und Musiker hier sind. In Deutschland scheint dieser Tage die Hälfte der Gäste nur deshalb ein Konzert zu besuchen, um es von vorne bis hinten mit dem Handy oder der Spiegelreflexkamera abzufilmen oder abzufotografieren. Ich finde es bedauerlich, dass die deutschen Konzertveranstalter derart eingeknickt sind vor der Technik und inzwischen so gut wie alles durchgehen lassen. Sie werden sagen: „Ach, wir können den Leuten doch nicht ihre Telefone nehmen!“ Ich sage: Könnt ihr wohl! Könnt sie nehmen, zu Boden schmeißen, drauftreten, und den ehemaligen Handy-Besitzer ohne Becherpfand nach Hause schicken.

Mag sein, dass das Fotografieren und Mitschneiden bei Michael Jac Madonna noch heute verboten ist. Aber bei den Kurkonzerten, auf denen ich mich bewege, herrscht inzwischen überall gestresstes und stressiges Knipsen und Filmen, ohne dass es uniformierte Stiernacken mit Funkgerät juckt. Man weiß heutzutage ja auch gar nicht mehr, was man überhaupt darf oder nicht darf. Das liegt an der Abschaffung der vorproduzierten Eintrittskarte. Früher hatten Konzerteintrittskarten vorne drauf ein farbiges Bild eines Monsters mit einer Axt oder einer Gitarre, und auf der Rückseite standen allerlei kleingedruckte Verbote. Heute gibt es Konzertkarten nur noch als Print-on-Demand-Abreißzettel mit Künstlername, Ort, Datum und Uhrzeit. Man macht sich nicht die Mühe, alle Verbote in die Druckmaschine einzugeben.

Glauben soll man bitte nicht, dies sei der Beginn eines Lamento darüber, dass es sie nicht mehr gäbe, die schönen Dinge. Es gibt im Gegenteil immer mehr schöne Dinge, man muss nur die Augen ein bisschen aufsperren, dann sieht man sie. Der Verlust der bibliophilen Konzertkarte ist zu verkraften, wenn man aus dem Pinnwand-Alter raus ist. In Sachen musikalischer Stilrichtungen werde ich mit zunehmendem Alter immer offener, in Bezug auf die Präsentation von Musik zunehmend puristischer. Was mich am Tod des Tonträgermarktes ein wenig traurig stimmt, ist der Verlust von Plattengeschäften. Auf Platten selbst, ob groß oder klein, schwarz oder silbern, kann ich aber gut verzichten. Der Cover-Artwork-Unsinn und Sammler-Editionen-Schwachsinn kaschiert nur, ist eitles Blendwerk, hat nichts mit Musik zu tun. Ach, da höre ich schon wieder einen heulen: „Aber … aber … Plattencovers sind doch eine Kunstform, noch dazu eine in der Kunstformengeschichte sträflich vernachlässigte!“ Darauf sage ich: Vernachlässigt – papperlapapp! Jedes Jahr müllen Hunderte Plattencover-Ausstellungen ansonsten grundanständige Museen zu, in den Museumsshops liegen Tausende Plattencover-Bildbände (Zahlen geschätzt), man komme mir nicht mit der Rede von der vernachlässigten Kunstform. Ich mag das nicht mehr sehen. Irgendwann ist eine Banane nur Banane. Liegt ja außerdem auch ohne Platte jedem Künstler frei, Kunstwerke im Format 30 x 30 cm zu schaffen. Wenn die gut werden, schaue ich sie mir an. Musik aber kaufe ich wegen der Musik.

Mehr noch als mich die Filmerei auf Konzerten stört, quält mich die Frage, was die Filmer hinterher damit anfangen. Kann mir keiner erzählen, dass man sich das unscharfe, übersteuerte Gewackel jemals wieder ansieht. Früher, zu BRD-Zeiten, als alles noch verboten war, konnte man mit solchen Aufnahmen Geld machen. Aber heute würde niemand in einer Jugendzeitschrift annoncieren: „Biete einen Videomitschnitt eines kompletten Konzertes der französischen Kneipensängerin Berry, aufgenommen am ersten Herbstabend 2009 in München, also als sie noch cool war, bevor ‚ALLE‘ sie gut fanden. Auf der Tonspur ist es mir gelungen, die Bestellvorgänge an der Theke besser herauszuarbeiten als den Gesang der quirligen Grinsekatze aus dem schönen Paris, und die Farben schwanken zwischen ausgebrannt und verwaschen, weil die Lichtverhältnisse bei Konzerten Laienfilmer und ihre Ausrüstung regelmäßig überfordern. Abzugeben gegen 200 Mark in Briefmarken, eine Videokopie des Spielfilms ‚Ein Zombie hing am Glockenseil‘ (höchstens 5. Generation) und eine Bravo-Kissogram-Karte des New-Romantic-Paradiesvogels Steve Strange.“ Würde heute keiner machen. Hätte nämlich schon jemand gratis bei Youtube hochgeladen, woraufhin es bald ein angemeldeter Nutzer mit fünf Sternen bewertet und folgenden Kommentar dazu geschrieben hätte: „alter kuck mal der ausschnitt von die alte HECHEL ROFL HECHEL ;-p“ Kurze Zeit darauf wiederum hätte ein Youtube-Systemadministrator Video und Kommentar gelöscht, weil sich eine US-amerikanische Hausfrau und Mutter, die in dieser Eigenschaft auch Mitglied eines diesbezüglichen Interessendurchsetzungsverbandes ist, beschwert hätte, dass das Video wegen dem Ausschnitt von die Alte not appropriate for family viewing sei. Sowas könne man vielleicht im liederlichen Paris oder im roten München tragen und zeigen, aber in den USA weckt der Anblick schlimme Erinnerungen an das dunkelste Kapitel der jüngeren US-Geschichte. Ich sage nur: Garderobenfehlfunktion.

Aber ich schweife ein wenig ab. Wir sind nicht im liederlichen Paris, und nicht im roten München, sondern im griebigen Tokio.

Die Bands nach Mass of the Fermenting Dregs spielen in der Mehrheit etwas, für das ich jetzt mal den Begriff Krawatten-Punk als geflügeltes Wort etablieren möchte, also harte aber disziplinierte Musik, dahinter stecken mehr Gedanken als nur ‚Rülps‘, die Frisur sitzt. Baller-Musik für Kunststudenten, wie es mir gefällt. Mindestens einmal ins Publikum springen ist für jeden Act Pflicht. Da hin und wieder doch mal jemand ein Foto knipst, lege auch ich meine Scheu ab und knipse Gitarrist und Sänger der letzten Band, nachdem sie ins Publikum gesprungen sind um dort weiterzuspielen. Wie Laien-Konzertfotos so sind, sind auch meine nichts geworden. Eines sei hier abgebildet, die Pfeile markieren Musiker.

Rock
Diese letzte Band, die ich für mudy on the 昨晩 halte (bin mir aber nicht sicher und nach fruchtloser Recherche zunehmend unsicherer), übertreibt es ein wenig mit der Publikumstuchfühlung. Ständig dieses Geschrei: „Shibuyaaa!“ Beim ersten Mal schreie ich begeistert zurück: „Yeeeaaah!“ Will sagen: „Yeah! Ich bin auch Shibuya! Ich sage es laut und stolz!“ Aber irgendwann wird aus dem Shibuyaaa-Gegröle doch nur lästige Anbiederung. Wir wissen schließlich, wo wir sind, und dass wir die Coolsten sind, weil wir da sind, wo wir sind.

Falls es sich bei der anbiedernden Gröl-Bande nicht um mudy on the 昨晩 handelte, und davon gehe ich beinahe aus, bitte ich mudy on the 昨晩 in aller Form um Entschuldigung. Liebe mudy on the 昨晩, ihr seid bestimmt ganz toll und gar nicht anbiedernd.

Bonus-Track
Mein zweites Mal in Japan: Rockkonzert

Mir hat das Kill-Your-T.V.-Konzert so viel Spaß gemacht, dass ich am nächsten Tag noch mal hingehe. Ist ein anderes Konzert unter anderem Motto, aber ebenfalls im Shibuya-O-WEST-Komplex und zufällig ebenfalls mit einer Band als Headliner, die auch auf der Compilation von gestern vertreten ist: OGRE YOU ASSHOLE. Ich hielt den Namen zuerst für einen typisch japanischen Unsinnsnamen, er geht aber zurück auf ein Zitat aus dem amerikanischen Filmklassiker ‚Die Rache der Eierköpfe‘.

Diesmal findet alles im ‚crest‘ statt im ‚nest‘ statt. Der Club ist noch etwas kleiner, dafür ist ein lauschiges Alternativ-Café vorgeschaltet. Wieder sind viele Kinder da, nicht wenige sehen so aus, als würden sie ihre Freizeit eher in der außerschulischen Handarbeits-AG als auf Punkkonzerten verbringen. Und gerade dieser Umstand rührt mich sehr. Hier scheint es kein Coolness-Diktat zu geben. Alle stehen ja offenbar auf die gleiche Musik, also können sich auch alle verstehen. Da muss keiner keinem die Unterhose langziehen oder den Kopf in der Kloschüssel waschen.

Die erste Band ist ein ganz erstaunliches Trio mit zwei Schlagzeugen und zwei Macbooks. Ihre Musik setzen D.V.D in Echtzeit als Computergrafiken um, die hinter ihnen auf einer Leinwand zu sehen sind. Zuerst denke ich: Ach, so ein Konzept-Scheiß. Aber dann bin ich hin und weg. Als dramatischer Höhepunkt wird per Musik Pong gespielt.

Hernach spielen die liebenswerten Uri Gagarn ein kräftiges Krawatten-Punk-Set mit verschmitzten Ansagen. Das wird mit CD-Kauf belohnt. Hinterher muss ich feststellen, dass das wieder so eine Band ist, die live mehr bringt.

OGRE YOU ASSHOLE sind leider ein zu souveräner Headliner. Die können schon was, aber um es britisch zu vergleichen: Es klingt zu häufig doch zu sehr nach Coldplay als nach Sex Pistols. Ich weiß, das ist gemein, ich bin sonst auch nicht so. Aber nach zwei überaus sympathischen und einigermaßen originellen Bands ist die Pop-Punk-Routine von OGRE YOU ASSHOLE doch etwas enttäuschend. Ich fordere: Uri for headliner!

MP3 rettet das Album-Format

Ich weiß noch nicht, ob digitale Musik die Musikindustrie vernichten wird oder nicht, ich bin doch kein Hellseher, fragen Sie mich später noch mal. Eines aber weiß ich: Musik-Downloads sind ein Glücksfall für das klassische Album-Format. Finde ich. Und ich bin der einzige realistische Maßstab, den ich ansetzen kann, alles andere wäre reine Spekulation. Ich gehe doch nicht extra in den Keller und werf das Internet an, um mir dann ein einziges Lied runterzuladen. Was soll ich mit dem machen? Das fliegt dann irgendwo rum, und am nächsten Tag weiß ich gar nicht mehr, dass ich es habe.

Mein unterbezahlter Dateimanager sagt mir, dass ich im Jahre 2004 ernsthaft mit dem Kauf rein digitaler Musik begonnen habe. Damals habe ich mir auch ein paar einzelne Lieder gekauft, es waren sentimentale Lieder, es gab Gründe, frage nicht. Jedenfalls wollte ich daraus eine Abspielliste mit sentimentalen Liedern erstellen, denn sentimental geht immer, dachte ich, die Liste wird Ausmaße annehmen, mein lieber Scholli, und die kann ich dann immer hören, wenn ich mich in tröstendem Selbstmitleid suhlen möchte.

Heute, rund 5 Jahre später, ist sie 3 Lieder lang. Wenn Sie es für Ihre Hausaufgaben genau wissen müssen: ‚Tiny Tears‘ von Tindersticks, ‚Dry Your Eyes‘ von The Streets und ‚Someday We’ll Know‘ von New Radicals.

Nicht, dass ich mir nie andere sentimentale Lieder heruntergeladen hätte, aber sie waren immer in einem Albumzusammenhang. Und wenn ich den Albumzusammenhang habe, brauche ich keinen anderen Zusammenhang. Wenn mir was gefällt, klicke ich auf ‚Album kaufen‘. Man kann doch In-Unserer-Schnelllebigen-Zeit nicht jeden Song einzeln evaluieren und dann womöglich noch Abspiellisten erstellen, damit es sich lohnt. Wer hat denn dafür Muße?  

Früher, als Musik noch in erster Linie auf physischen Tonträgern verkauft wurde, habe ich mir durchaus hin und wieder Singles gekauft, Vinyl wie CD. Inzwischen kommt das gar nicht mehr in die Tüte. Muss auch nicht, denn seit physische Tonträger marginalisiert sind, sind Alben richtig gut geworden. Früher hatte sogar jedes insgesamt geniale Album ein oder zwei Gurkenlieder gehabt. Das traut sich heute kein ernst zu nehmender Künstler mehr. Sonst laden sich die ‚Kids‘ nur einzelne ‚Songs‘ runter, und die Gurken bleiben liegen.  

Glücklicherweise sind Alben im Zuge der totaldigitalen Revolution auch wieder kürzer geworden. Die CD hatte da viel kaputt gemacht. Weil rund 80 Minuten drauf passten, waren viele Künstler und sogar einige ihrer Kunden der Meinung gewesen, man müsse die Zeit vollmachen, wolle man die Kunden nicht verschaukeln bzw. sich vom Künstler verschaukelt fühlen. Deshalb wurde die Welt verseucht mit unwürdigen Neuabmischungen eigentlich unverbesserlicher Meisterlieder, ermüdendem Instrumentalquatsch, Demoversionen, die niemanden was angehen, und Gurkenliedern 2.0, die in der Frühzeit der Tonaufnahme auf keine Single-B-Seite gekommen wären. Inzwischen sind beglückend viele Alben sogar inklusive Frühkäufer-Bonus-Material wieder bei einer Dreiviertelstunde angekommen. Genau die richtige Zeit um einen einzulullen, aber nicht lang genug, um einen zu langweilen.

Natürlich kann mit der neuen Darreichungsform auch Schindluder getrieben werden. Das äußert sich in der Unsitte, drei Knallerlieder auf einem Album nach vorne zu packen, und der Rest ist Schnarch. Sowas hat es früher nicht gegeben, gibt es aber heute ziemlich häufig. Es ist mir zwar peinlich, aber um der Aufklärung Willen gebe ich zu, dass ich im Sommer 2008 auf das Sommer-Hit-Wunder The Ting Tings hereingefallen war, weil mir die ersten drei Lieder ihres Albums beim Reinhören recht gut gefallen hatten. Also das ganze Album runtergeladen, das ganze Album gehört, und schnarch. Und jetzt hockt es auf meiner Festplatte und verhöhnt mich. Denn die drei guten Lieder waren freilich auch nicht gut. Ohrwürmer halt. Wie Würmer so sind, erst ganz lustig, dann doch nur Aasfresser.

Aber der Kunde ist nicht blöd. Fällt er einmal drauf rein, fällt er vielleicht auch noch ein zweites Mal drauf rein (dumdidum, The Kills, Midnight Boom, dumdidum), aber ein drittes Mal sicher nicht. Die Anzahl der Alben, die ich versehentlich wegen ihrer betrügerischeren Dramaturgie komplett gekauft habe, ist geringer als die der Lieder in meiner Sentimental-Abspielliste.

Hin und wieder äußern sich auch Musiker zum Thema Song-vs.-Album im volldigitalen Zeitalter. Man sollte nicht auf sie hören. Musiker wissen gemeinhin weniger über Musik als Musikhörer, denn die müssen schließlich damit leben. Billy Corgan, heute einziges Mitglied der Smashing Pumpkins, behauptet gerne, dass das Album tot sei, und man lieber hier und da mal einen Song veröffentlichen solle, sinngemäß. Ich habe das eine Weile mitgemacht, denn ich mag prinzipiell die aufgelösten Pumpkins lieber als die Band von damals, aber die letzten dieser Hier-Und-Da-Songs waren leider recht schwach, deshalb gerät mir das ganze Smashing-Pumpkins-Ding zusehends in Vergessenheit. Woran ich mich hingegen gut erinnere ist das letzte Album. Kein Meisterwerk, aber auch kein Beinbruch, auf jeden Fall des Erinnerns werter als die gefolgten virtuellen ‚EPs‘ und ‚Singles‘. Twix hieß früher Raider, Billy Corgan hieß früher Andrew Eldritch, und bei dem hat man irgendwann auch das Mitverfolgen aufgegeben. Ein Album hier und da hätte den Lauf dieser Geschichte vielleicht verändert.

Ein Mitglied der Gruppe Kraftwerk äußerte sich neulich genau gegenteilig, aber genauso fragwürdig. Der Herr (er hat einen Namen, aber ich kann mir die Kraftwerk-Namen nie merken) war hoch erfreut darüber, dass man die zeitlichen Fesseln der CD abgestreift hatte und nun Alben machen könne, die mehrere Monate Spielzeit haben. Sinngemäß. Oder waren es nur Tage? Jedenfalls zu lang, wenn man mich fragt.

Und dennoch erscheint mir diese Herangehensweise nicht ganz uninteressant. Ich weiß noch nicht, ob ich meinen Jahresurlaub dafür opfern werde, ein neues Kraftwerk-Album anzuhören, aber ich finde es gut, wenn Künstler neue Wege gehen. Ich muss ja nicht jeden Weg ganz mitgehen. Vielleicht lade ich mir dann nur ein Lied runter.

Mein erstes Mal in Japan (1): Maid Café

hojahojahoWas ich nicht schon alles in Japan gemacht habe. Könnte ich ein Buch drüber schreiben. Ich habe Kugelfisch ohne Schuhe gegessen, Tofu mit Stäbchen, habe mehrmals zu heiß gebadet, bin die 1346 Stufen zum Kompira-san-Schrein hinaufgelaufen, habe keine Erleuchtung erfahren, und bin wieder hinunter gelaufen. Zum Beispiel.

Aber ein paar Erfahrungen habe ich lange aufgeschoben. Keine Zeit, schlechtes Wetter, was Falsches gegessen, die üblichen Lügen Gründe. In meinem zehnten Japan-Jahr aber wollte ich Butter bei die Fische machen (eigentlich nicht üblich in Japan). Erstes nachgeholtes Versäumnis: Besuch eines Maid Cafés. Weder mein Bier noch meine cup of tea, aber es muss sein, denn Maid Café ist ungefähr so japanisch wie Kirschblüten und Karaoke. Die Chronistenpflicht ruft nicht mehr, das hat sie lange genug getan, sie schreit. Ich weiß, mein Leben muss die Hölle sein. Ich möchte nicht mit mir tauschen.

Vermutlich wissen die wenigen Leser, die mit beiden Beinen im Leben stehen, nicht, was ein Maid Café ist: Es handelt sich um ein Lokal, in dem das Personal aus jungen Damen besteht, die angetan sind wie französische Zimmermädchen, bzw. wie sich männliche japanische Manga-Zeichner französische Zimmermädchen vorstellen, Häschenohren und -puschel können also vorkommen. Anders als richtige Frauen behandeln die Damen ihre vorwiegend männlichen Kunden zuvorkommend bis unterwürfig und reden sogar ein paar Worte mit ihnen. Gegen Aufpreis spielen sie auch Spiele, z. B. UNO junior, Schnick-Schnack-Schnuck, oder das mit dem Nilpferd, wo man Sachen reinschießen muss, wenn ich das richtig verstanden habe. Ein Maid Café ist unterm Strich eine jugendfreie Hostessenbar. Quasi Hostessenbar ohne Strich. ‚Hostessenbar‘ kennen Sie aber, oder?

Das Klischee ist klar: Da gehen Männer hin, die sonst nirgendwo hingehen. Die Angst haben, gegen echte Frauen mit tiefen Stimmen Schnick-Schnack-Schnuck zu spielen. Das hab ich zwar auch, würde ich aber nie zugeben.

Was ist, wenn mich da jemand sieht, der mich kennt?! Zugegebenermaßen unwahrscheinlich in Tokio werktags nachmittags. Aber man hat schon Pferde. Paparazzi vielleicht.

Der Ground Zero der Maid-Kultur ist der Tokioter Stadtteil Akihabara, eine Art Mekka für Comicsammler und Computertüftler. Ich gehe da ungern hin, ich fühle mich dort zu sehr an mich selbst erinnert. Also nach Akihabara und dann auch noch in ein Maid Café – danach habe ich mir aber wirklich eine Belohnung verdient. Wenn es klappt. Im Gebäude des ersten Maid Cafés, das ich ansteuere, bekomme ich im Treppenhaus weiche Knie und kalte Füße und kehre wieder um. Beim zweiten komme ich bis nach oben, bin aber total kaputt und habe nicht mehr genug Kraft die Tür zu öffnen.

Beim dritten nehme ich den Fahrstuhl. Der spuckt mich direkt ins Geschehen, ein unauffälliger Rückzug ist nicht möglich. Es ist ausgerechnet das @home Café, das ich eigentlich ganz besonders maiden meiden wollte. Nicht, weil es die kapitalistische Krake unter den Maid Cafés ist. Ein Maid Café ist wohl generell der falsche Ort, sich plötzlich wieder seiner Punk-Rock-Ideale zu erinnern. Meine Bedenken liegen in meiner Recherche begründet. Auf der Homepage des Lokals sind die Schichten der englischsprachigen Maids aufgelistet, und zu meiner anvisierten Zeit hat keine Schicht. Nicht, dass ich auf eine englischsprachige Maid bestehen würde, im Gegenteil, wenn schon denn schon. Ich will mich mit der Maid ja nicht über die Parlamentswahlen oder die jüngste Reform des Rechtswesens austauschen. Ein bisschen Smalltalk in Baby-Sprache bekomme ich auf Japanisch schon hin. Ich war allerdings davon ausgegangen, dass man als Ausländer gar nicht reingelassen würde, wenn gerade kein multilinguales Personal bereitsteht.

Habe ich mich aber geirrt. „Das erste Mal?“, sieht es mir die Empfangs-Maid an der Nasenspitze an. Ich bejahe und bekomme die Hausordnung zum Studieren und Bestätigen in die Hand gedrückt. Nicht fotografieren, keine persönlichen Fragen, niemanden anfassen. Ich erkläre mich einverstanden und werde zu meinem Tisch geführt. Und zwar so, wie es wohl jeder am liebsten hat, wenn er alleine ein Lokal betritt: Mit Glockengeläut auf dem Weg und der lautstarken Ankündigung, dass ein neuer Gast da ist. Bzw. ein ‚Meister‘, wie die Kunden hier genannt werden.

Der Raum ist bunt und simpel eingerichtet, ein bisschen wie Kindergarten. Die Tische sind alle mit Blick zu einer kleinen Bühne ausgerichtet, ich sitze ganz vorne links außen. Der Typ mir gegenüber ist einer von wenigen, die allein hier sind. Seine Jugend hat er schon länger hinter sich, sein Haarwuchs will nicht mehr so richtig, was er mit Radikalkurzhaarfrisur als Absicht zu kaschieren versucht (wie sagte einst unser Schutzpatron Bruce Willis: „Die Glatze ist die neue Überkämmfrisur.“). Er beobachtet das Treiben mit einem Anflug von Lächeln, das um eine Balance aus Freundlichkeit und abgeklärtem Sarkasmus bemüht ist. Es dauert eine Weile, bis der Groschen fällt: Verdammt, der Typ bin ich auf Japanisch! Ansonsten ist hier viel junges Publikum, ausschließlich männlich, aber zu einem erstaunlich großen Teil erstens in Cliquen, zweitens in Garderobe und mit Frisuren, die durchaus auf der Höhe der Mode sind. Ausgelassene, selbstsichere Typen, von denen man denken möchte, dass sie es nicht nötig hätten. Die erwarteten verhuschten Einzelgänger, die die Familiengarderobe aus der Showa-Ära auftragen, sind in der Minderheit. Einer von ihnen lässt sich gerade auf der Bühne mit einer Maid offiziell fotografieren (500 Yen), und man sieht ihm an, dass das einer der schönsten Augenblicke seines Lebens ist. Ich weiß jetzt schon, dass ich das auch will, sobald ich mich gestärkt habe, ich brauche ein Beweisfoto. Ein anderer zeigt einer Maid, was er sich gerade gekauft hat: eine Computer-Maus. Die Maid ist begeistert (im Preis inbegriffen). Ulkiger Zufall: Ich habe mir auch gerade eine Computer-Maus gekauft (zeige ich Ihnen später), die ist sogar viel besser wie die von dem Angeber. Aber wenn ich jetzt meine Maus raushole, wäre das nachgeäfft. Chance vertan.

Meine Maid ist trotzdem freundlich zu mir. Sie zeigt mir die Karte und erklärt mir jedes Gericht. Ich fühle mich noch immer ein wenig fehl am Platze, deshalb will ich das schnell hinter mich bringen: „Klingt toll! Ich nehm das erste und das zweite!“ Aber das lässt die Maid nicht zu und erklärt die Karte zu Ende. Schließlich entscheide ich mich für einen Cocktail, den die Maid verspricht auf Basis ihrer eigenen Stimmung und meiner Lieblingsfarbe zu mischen, und für die Zauber-Spaghetti („Pink! Pink! Messed it up!“, verspricht die Karte).

Bald kommt sie zurück mit dem Cocktail-Shaker und schaut mich erwartungsvoll an. Ich wusste schon, dass jetzt ein Ritual kommt, steht schließlich in der englischen Karte: „Your maid will do SHAKE-SHAKE at your table!“ Ich wusste nur nicht, dass ich bei dem Ritual mitmachen muss. Die Maid sagt: „Sprich mir nach: SHAKE-SHAKE!“

„Äh … shake-shake?“

„Ich kann dich nicht hören! SHAKE-SHAKE!“

„SHAKE-SHAKE!“

„MOE-MOE!“

„Moe-moe.“

„Nein: MOE-MOE!!!“

„MOE-MOE!“

Zur Formel gehören noch einige Doppelbeschwörungen mehr, es ist wie bei einem Cab-Calloway-Konzert. Während wir uns lustig anschreien, schüttelt die Maid den Cocktail im Takt, schließlich darf ich ihn trinken, aus einem roten Plastikbecher. Der Cocktail ist lecker. Ich meine: LECKER-LECKER!

Der Alkohol entspannt mich. Auf der Bühne führen jetzt zwei Maids ein Tänzchen mit Gesang auf, daraus wird natürlich ein Mitsing- und Hände-hoch-Spiel. So entspannt bin ich auch wieder nicht. Nur ich und mein japanischer Doppelgänger tun nicht mit. Wir lächeln nur auf unsere spezielle Art und versuchen, einander nicht anzuschauen, denn wir sind uns gegenseitig doch zu unheimlich.

Eines wird mir langsam klar: Hier werden nicht Frauen erniedrigt, sondern Männer zum Affen gemacht (wofür es laut Feministen und Darwinistinnen ohnehin nicht viel braucht). Außerdem wird mir klar, warum hier soviele junge Männer anzutreffen sind, die keinerlei offensichtlichen Mangel an sozialer Kompetenz zeigen: Weil es Spaß macht. Es ist ein bisschen blöd – okay, ziemlich blöd – aber es muss ja nicht immer Beckett sein.

Die Spaghetti darf ich selbstverständlich auch nicht einfach so essen. Wir machen wieder ein launiges Call-and-Response-Spiel, während die Maid die Spaghetti mit der Soße verrührt. Dazu bin ich angewiesen mit beiden Händen ein Herz zu formen und mit ruckartigen Bewegungen Liebesmagie in Richtung Pasta zu schicken. Das ist so ganz anders als ich sonst Spaghetti mache. Aber es wirkt, denn sie schmecken sehr gut. Das muss ich überhaupt mal festhalten: Zwar geht niemand in ein Maid Café, weil er die Adresse aus dem Guide Michelin hat. Deshalb liest man, wenn man von Maid Cafés liest, kaum etwas über die Qualität von Speis und Trank. Aber das, was ich habe, ist sehr anständig. Natürlich zu wenig für das Geld, aber in erster Linie bezahlt man ja für shake-shake und moe-moe.

Wenn ich übrigens sage: „die Maid“, dann meine ich eigentlich: „eine Maid“. Man hat hier nicht eine einzige, die einem nie von der Seite weicht. Abwechslung gehört zum Konzept, die Maids rotieren. Das macht es nun etwas schwierig, denn ich will ja meinen Schnappschuss. Durch das Rotationsprinzip habe ich zu keiner Maid eine tiefere emotionale Bindung aufgebaut. Ich könnte nicht sagen, wer meine Lieblings-Maid ist. Die waren alle sehr nett. Aber die werden nicht alle mit aufs Foto können. Am besten gefällt mir eine mit Brille, aber gerade die hatte ich gar nicht, die ist mir nur so aufgefallen. Ich beschließe, dass die Maids alle niedlich sind, schnappe mir verbal einfach die nächstbeste und frage, ob wir ein Foto machen können. Ja, sagt sie, einen Moment. Dann kommt sie wieder mit einer Tafel, auf die alle Maids, die gerade auf diesem Stockwerk Schicht haben, fotografisch angepinnt sind. Ich kann mir eine aussuchen. Ich patsche mit meinen Fettfingern auf die Tafel: „Ich will die mit der Brille!“ Etwas unangenehm ist mir, dass die mit der Brille ausgerechnet die einzige ist, die auf ihrem Foto lasziv-erotisch posiert und provokanten Strumpf zeigt. Aber das ist gar nicht der Grund, warum ich sie erwählt habe, mir gefiel sie schließlich schon vor dem Strumpffoto. Ich finde es halt sexy, wenn Frauen nicht gut gucken können.

Die Tafel-Maid nimmt meinen Namen und meine Bestellung auf, und bald werde ich auf die Bühne gerufen. Die mit der Brille ist schon drauf. Sie zeigt mir die Requisiten, die wir benutzen können. Es gibt Stethoskope und Spritzen, Regenschirme und Hüte, allerlei Masken. Ich entscheide mich für den Klassiker: Häschenohren. Wir setzen uns beide welche auf, die Maid mit der Brille schlägt mehrere offizielle Maid-Posen vor, ich wähle die Häschen-Pose. Wir tun wie die Häschen, und es kommt das Vögelchen. Das Ergebnis ist Ihnen bestimmt nicht entgangen.

Später kommt die mit der Brille mit dem fertigen und fertig verzierten Bild zu mir. Dadurch erfahre ich, dass sie Cocco heißt. Weil ich Cocco zu meiner Lieblings-Maid des Tages gewählt habe, darf ich mich jetzt mit ihr unterhalten. Was ich in Japan tun würde, wo ich herkäme, wie mir Japan gefiele, ob ich japanisches Essen möge. Jede meiner Antworten findet sie rasant interessant und ist dabei sehr glaubwürdig. Sie sagt mir, dass ich ganz toll Japanisch spräche. Das hat mir noch nie jemand gesagt. Dafür musste ich erst eine bezahlen.

Und da ist die Stunde auch schon rum. Ich hatte anfangs nicht gedacht, dass ich die vorgeschriebene Höchstzeit überhaupt durchhalten würde. Aber es hat gar nicht weh getan, und langweilig war es ganz bestimmt nicht. Ich bekomme nun meine offizielle internationale Mitgliedskarte. Ich bin Level 1, ‚My Master‘. Mit weiteren Besuchen kann man Punkte sammeln und aufsteigen. Meister höherer Stufen bekommen Vergünstigungen, mehr Maid-Zeit und aufwendigere Verzierungen auf Speisen und Schnappschüssen.

Große Gewissensfrage: Werde ich nochmal hingehen? Ich muss gestehen: Ich kann es nicht kategorisch ausschließen. Nicht dass ich meine, das mit mir und Cocco hätte mehr Zukunft als das mit mir und Lucy Liu. Aber ich habe jetzt ja die Mitgliedskarte, und da ist der alte rollenspielerische Ehrgeiz geweckt, die nächste Stufe zu erreichen. Aber ich werde niemandem vor dem Café auflauern und wehklagen: „Aber Cocco, du hast doch gesagt, du herzt mich! Ich habe es doch hier blau auf weiß! Bedeutet das dir denn gar nichts mehr?! Willst du all das wegwerfen, was wir hatten?! Kann ich wenigstens noch ein letztes Mal das Foto mit dem Strumpf sehen?“

Ich sollte mich da nicht jetzt schon reinsteigern. Ein Schritt nach dem anderen.

Und wie belohne ich mich nach der ganzen Aufregung? Mit einem unaufgeregten Fernsehabend in meiner unaufgeräumten Ferienwohnung, Otaku-Style. Und was gibt es? Die spannende neue Krimireihe ‚Maid Deka‘ (Maid-Detektiv) auf TV Asahi. Es geht um eine junge Undercover-Polizistin, die ausschließlich als Zimmermädchen verkleidet komplizierte Kriminalfälle löst und zum Schluss die Schurken mit dem Wischmop der Liebe zur Strecke bringt.

Es muss nicht immer Beckett sein.

WISCH-WISCH! MOP-MOP!

Internet-Manifest: Überarbeitete Endfassung

Diese Fassung ersetzt die vom 7. 9. 2009, die ich nicht gelesen habe.

1. Oberster Grundsatz: Einfach mal öfter mal was für sich behalten.
2. Internet zum Mitmachen ist blöde.
3. Denn wenn der Kuchen spricht, müssen die Krümel schweigen.
4. Ein paar Wochen ohne Internet haben noch niemandem geschadet.
5. Hingegen haben sich schon nachweislich Menschen zu Tode getwittert. (In Kanada und Portugal, können Sie gerne überprüfen)
6. Richtige Journalisten arbeiten in richtigen Medien.
7. SMS ist kein Journalismus.
8. Achtens hab ich vergessen.
9. Information will überhaupt nicht frei sein. Das hat sie nie behauptet.
10. Diebstahl ist Diebstahl.
11. Hier können Sie sich Ihren Teil denken: ___. (vorbei)
12. Für eine Abschaltung des Internet in Q2 2010 (Petition folgt).
13. Ein Betriebssystem ist kein Ersatz für eine richtige Religion.
14. Ein Browser auch nicht.
15. „Buddhismus“ auch nicht.
16. Hoch auf dem gelben Wagen sitz ich beim Schwager vorn.
17. Nicht immer so aufgeregt sein, ist doch bloß Internet.

Erstunterzeichner: Peter Sloterdijk, Karl Lagerfeld, Hannah Montana, Lady Gaga und zwei meiner drei verstorbenen Wellensittiche (eine Enthaltung)

Ihre Unterschrift: ________ (bei Minderjährigen nur mit 10 Mark Bearbeitungsgebühr in bar)

Diskussion: Bitte nicht bei mir im Treppenhaus, ich muss morgen früh raus