Japanischer Stehsatz (2): Reise nach Shimotsuma

Habe ich jemals erwähnt, dass mir der Film Kamikaze Girls einigermaßen gut gefällt? Könnte sein, vereinzelt wirft man mir vor, ich kenne gar kein anderes Thema. Stimmt auch, heute ganz sicher nicht. Denn heute erfülle ich mir den großen Traum jedes kleinen Kamikaze-Mädchens: Ich fahre nach Shimotsuma. [Gemeint ist freilich nicht das konkrete Heute, sondern das poetische Heute.]

Sie wissen: Der Film (und der zugrunde liegende Roman und der abgeleitete Comic) heißt im Original Shimotsuma Monogatari, also in etwa ‚Shimotsuma-Geschichte‘, denn in Shimotsuma spielt sich das Meiste ab. Ich bin ein wenig verunsichert, weil es offenbar keinen großen Shimotsuma-Monogatari-Tourismus gibt. Googlet man Shimotsuma bekommt man hauptsächlich Informationen zum Film und vereinzelt zum Ort (Hauptsehenswürdigkeit: McDonald’s-Restaurant mit Wi-Fi). Ich weiß, dass ich nicht der einzige Liebhaber des Films bin, schon gar nicht der einzige westliche, aber ich finde bei zumindest oberflächlicher Recherche keinen aufgeregten Blogger, der schriebe: „Ich war da! It was magic!“ Heißt das, ich muss eine Flagge an einem spitzen Stock mitnehmen und bei der Erdung „Erster!“ rufen? Sowas habe ich gar nicht.

Selbst in Japan ist Shimotsuma kaum bekannt. Erwähne ich gegenüber Tokioter Freunden, dass Shimotsuma Monogatari mein Lieblingsfilm ist, sind sie besorgt, welches Bild Deutschland von Japan hat, wenn solche Filme es hinüber schaffen. Erwähne ich weiter, dass ich vorhabe Shimotsuma zu bereisen, wundern sie sich, dass dieser Ort wirklich existiert.

Tut er aber. Hat schätzungsweise 40.000 Einwohner (Quellen widersprechen einander) und liegt in der Präfektur Ibaraki. Im Film Kamikaze Girls gibt Protagonistin Momoko in einem Off-Monolog eine akkurate Beschreibung, wie man von Shimotsuma mit dem Zug nach Tokio kommt, wo sie gerne einkauft. Man müsste das also nur umgekehrt nachmachen und käme wahrscheinlich von Tokio in Shimotsuma an. Allerdings sind seit dem Film ein paar Jahre vergangen, und das japanische Schienennetz wird unentwegt überarbeitet, weshalb es inzwischen auch anders geht. Außerdem starten wir unsere Reise nicht in der Tokioter Daikanyama-Nachbarschaft, die Momokos Ziel ist. Dort gibt es heute nur Straßencafés mit gegelten Notebook-Posern und die überschätztesten Clubs der Stadt, da haben wir nichts verloren. Unsere Reise beginnt im schönen Sangenjaya, und sie geht so:

Erst nimmt man die Den-en-toshi-Linie bis Shibuya. Man könnte auch laufen. Aber Laufen in diesem Outfit? Ich bitte Sie, das ist doch wohl nicht möglich. In Shibuya bleibt man einfach sitzen, denn hier verwandelt sich die Den-en-toshi-Eisenbahnlinie automatisch in die Hanzomon-U-Bahn-Linie, die man bis Omotesandō nimmt, es ist gleich die nächste Station. Dort steigt man um in die Chiyoda-Linie. Es dauert 29 Minuten bis Kita-Senju. Hier steigt man in den modernen Tsukuba-Express, der 21 Minuten bis Moriya braucht, einer Partnerstadt von Greeley, Colorado und Mainburg, Germany. Jetzt ist man schon eindeutig in Ibaraki, und es gibt erste Spuren von Shimotsuma.

Im simplen aber sympathischen Futterhof des Bahnhofs Moriya isst man vorsichtshalber eine Nudelsuppe und trinkt ein Bier, weil man nicht weiß, was einen kulinarisch und überhaupt in Shimotsuma erwartet. Gut gestärkt steigt man in die Joso-Linie, die einen in 42 Minuten nach Shimotsuma bringt. Man fährt mit ihr immer tiefer in das sagenumwobene Land, in dem es keine Ausländer gibt. Commodore Perrys Schwarze Schiffe kamen nur bis Yokohama.

Und dann ist man auch schon da. Der wiedererkennbare Bahnhof bestätigt sofort, dass der Film vor Ort gedreht wurde. Viele Szenen spielen am und im Bahnhof mit seinen zwei Gleisen und einem Häuschen. Zu spät fällt mir ein, dass eigentlich der ganze Film davon handelt, dass man aus Shimotsuma unbedingt weg will, wenn man einigermaßen fit in der Birne ist. Und ich wollte da unbedingt hin? Vielleicht nicht richtig nachgedacht.

Der Bahnhof macht in der Totalen nicht viel her, aber die Details machen mich glücklich. Dieser Fernseher im Wartebereich wird von Regisseur Tetsuya Nakashima im Film immer wieder verwendet für angeberische Überleitungen und ironische Kommentierung der Handlung:

Jetzt läuft da allerdings nichts.

Hier sitzt Momoko mehr als einmal:

Hat mich jemand beim Fotografieren beobachtet, denkt der bestimmt: „Wie rührend! Dieser alte Mann hat noch nie in seinem Leben Plastikstühle gesehen.“ Ist aber unwahrscheinlich, dass mich jemand beobachtet hat. Überhaupt werde ich in Shimotsumas Straßen weitaus seltener schräg gemustert als anderswo in Japan. Dafür müsste erstmal jemand auf den Straßen unterwegs sein. Würde vielleicht helfen, wenn zumindest ein einziges Geschäft geöffnet hätte. Gut, dass ich vorher gegessen habe.

Statt geöffneter Geschäfte gibt es Kohlköpfe. Im Film ein wiederkehrendes Motiv als Symbol für Land und Leute.

Viele Szenen in Kamikaze Girls spielen an Bahnübergängen wie diesem (Beispielabbildung):

Apropos Bahnübergang: Zielstrebig habe ich mich vom Bahnhof in den unattraktiveren Teil des Ortes aufgemacht. In der anderen Richtung haben durchaus ein paar Geschäfte geöffnet. Allerdings nicht dieser Pachinko-Salon.

Es könnte der sein, in dem die Mädchen im Film spielen. Sieht inzwischen aus, als hätte da schon länger niemand mehr gespielt.

In der örtlichen Filiale der Gebrauchtmedienhandelskette Book-Off möchte ich mir gerne die japanische DVD von Shimotsuma Monogatari als Andenken kaufen. Haben sie aber nicht! Stattdessen gibt es – ungelogen – Spinnweben vor dem Regal mit den japanischen Filmen. Keine Halloween-Deko-Spinnweben, sondern Real-Deal-Vernachlässigungsspinnweben.

Ich habe Momoko von vornherein gut verstanden, aber ich verstehe sie jetzt sogar besser.

Ich bin ohne Flachs mittelschwer schockiert, dass man hier touristisch rein gar kein Kapital aus dem Kultstatus von Buch und Film schlägt. Gut, es handelt sich unterm Strich um Shimotsuma-Schmähwerke, aber das sollte man mit Humor nehmen, wenn man daran verdienen kann. Es müssen nicht gleich goldene Statuen von Momoko und Ichigo sein, aber Pappfiguren für Photo-Ops auf den Plastikstühlen im Bahnhofsgebäude sollten ja wohl drin sein.

Das Waldrestaurant und die Jusco-Filiale habe ich leider nicht gefunden. Aber ich habe auch nicht lange gesucht, denn ich wollte nicht riskieren, Züge und Anschlusszüge zu verpassen. Ich zähle auf Ihr Verständnis.

Aus gegebenem Anlass: Trailer Kamikaze Girls (Wiederholung)

Japanischer Stehsatz (1): Desfes31 feat. Mitsume Temo

Hatte ich ganz verschwitzt: Unmittelbar bevor ich neulich nach Taipeh ausflog, war ich ja noch in Tokio auf der Design-Festa, ist mir aber erst in Bremen wieder eingefallen, deshalb schreibe ich darüber in München. Sie können folgen? Ich komme ganz schön rum. Mein Leben möchte ich mal haben, wenn ich das so lese.

Die Design-Festa findet zweimal im Jahr im Messe- und Veranstaltungszentrum Tokyo Big Sight auf Odaiba statt. Ziel der Kunstmesse ist es der Welt zu versichern, dass junge japanische Kunst nachwievor zu 99% aus Kulleraugen oder Totenschädeln oder einer Kombination aus beidem besteht. Über 7.000 Künstler waren dazu auch diesmal wieder angereist und haben die Botschaft 1A kommuniziert. Die Welt kann sich weiterdrehen, es bleibt alles beim Alten, kowai und kawaii gehen Hand in Hand, und sonst geht gar nichts.

Kann man vernünftig über eine Veranstaltung mit über 7.000 Spinnern berichten? Bestimmt, aber ich spinne doch nicht. Das würde in Arbeit ausarten, und davon halte ich nichts. Lieber greife ich mir nach dem Zufallsprinzip ein Objekt raus und stelle es stellvertretend für die ganze Veranstaltung vor.

Und die glücklich strahlende Gewinnerin ist: Mitsume Temo.

Es handelt sich um eine süße neue Figur von Akanuma Kishira (nicht vor Ort) und dem italienischen Grafikdesigner Takis Proietti Rocchi (nicht im Bild, wozu auch). Auf der Messe dargestellt wird Mitsume Temo von Model Hina (im Bild, aus gutem Grund). Mitsume Temo hat es sich zur Aufgabe gemacht, die jugendliche Niedlichkeitskultur gegen Angriffe aus dem Ernst des Erwachsenenlebens zu verteidigen. Auf der offiziellen Website steht es bestimmt noch ausführlicher. Bitte lesen Sie dort, ich bin doch nicht im Informationsdienstleistungsgewerbe. Mich interessiert nur, dass ich ein Foto von einer jungen Frau mit rosa Perücke habe.

Jeder, der auf der Desfes oberflächliches Interesse an Frl. Temo bzw. Frl. Hina signalisierte, bekam eine 30-teilige Mitsume-Temo-Pappfigur zum Ausschneiden und Zusammenbasteln aufgeschwatzt, die man auch nicht wie aus Versehen am Stand liegen lassen durfte.

Darauf freue ich mich jetzt schon. Aber ich werde mich erst später daran versuchen und das Foto nachreichen, wenn Sie nichts dagegen haben (macht er ja doch nicht).

Und jetzt schnell weg von der Design-Festa. Sonst müssten wir uns noch damit auseinandersetzen, was diese junge Dame da macht:

Aber das überlasse ich der Fantasie. Ihrer. Ich habe dazu keine Meinung.

Kurz: Kokuhaku

Interessiert sich hier jemand für Tetsuya Nakashima? Ja, ich. Besser und knapper hätte es Japan kaum hinbekommen können, als den neuen Film meines Lieblingsregisseurs (u. a. Kamikaze Girls und Memories of Matsuko) genau eine Woche vor meiner vorläufigen Abreise noch schnell in die Kinos zu bringen. Gerne würde ich mit Kloß im Hals von einem Geschenk sprechen, aber freilich musste ich Eintritt bezahlen.

Kokuhaku (告白) heißt der neueste Streich, international wird wohl Confessions draus, was auch hinkommt. Takako Matsu spielt eine Lehrerin, die zwei ihrer Schüler verdächtigt, für den Tod ihrer Tochter verantwortlich zu sein. Als sie ihrer Klasse mitteilt, dass sie den Schuldienst quittiert, gesteht sie ihnen auch gleich, dass sie ihre Tochter rächen wird und ihr Racheplan bereits im vollen Gange ist. Sie ist nicht die einzige im Raum, die etwas zu gestehen hat. Und nicht die einzige mit mörderischen Plänen. Mehr sollte man nicht verraten, um die vielen überraschenden Wendungen nicht auszuplaudern, und um wirkungsvoll zu kaschieren, dass man rein sprachlich nicht alles verstanden hat.

Viel wird darüber schwadroniert, dass Nakashima mit diesem Film endlich erwachsen würde, als wenn er das nötig hätte. Keine Anime-Sequenzen und Tanzeinlagen, kein Genrewechsel alle fünf Minuten, keine grellen Farben und schnellen Schnitte, dafür Story, Story, Story. Ich aber sage euch: Kokuhaku ist ein waschechter Nakashima, nur anders als die anderen. Und eine Tanzeinlage gibt es wohl. Handlungsstark waren alle bisherigen Filme des Regisseurs. Wer das nicht erkennt, hat vermutlich Schwierigkeiten, sich auf gewisse Geschichten einzulassen. Was Nakashimas Filme überdies eint ist die Tatsache, dass sie alle optisch 1A, aber ebenso alle optisch unterschiedlich sind. Die Geschichte diktiert, wie sie bebildert werden will. Kamikaze Girls mit seinen überzeichneten aber liebenswerten Figuren muss als knallbunter Comic-Film daherkommen. Memories of Matsuko erzählt ein ganzes Leben in nur etwas über zwei Stunden, deshalb muss sich das Genre und damit die Bildsprache ständig ändern, denn das echte Leben hat im Idealfall mehr als nur ein einziges Genre. Melodram, Komödie, Porno, Horror – alles drin. Der Kinderfilm Paco and the Magical Book wäre viel zu traurig, wenn er nicht fröhlich inszeniert wäre. Und Kokuhaku kann nicht anders als dem schweren Schicksal seiner Figuren mit ruhigen Bildern und gemäßigtem Tempo den nötigen Respekt zu zollen. Ruhige Bilder heißt selbstverständlich nicht, dass der Film weniger sorgfältig gestaltet wäre als seine Vorgänger. Waren frühere Nakashimas wie Videoclips, ist der neue wie ein Gemälde. Beides legitime Kunstformen übrigens, die eine ist im Jahre 2010 nicht weniger erwachsen als die andere. Alles in Kokuhaku ist an seinem Platz. Man sollte nicht glauben, dass irgendein Spiegelbild Zufall ist, oder dass irgendein Regentropfen nicht genau dahin fällt, wo der Meister gesagt hat. Ebenfalls typisch: Konstante, eklektizistische Musikbegleitung zwischen J-Pop, Radiohead, Klassik und Avantgarde. Mal musicalmäßig weit vorne, oft so subtil, dass nur anspruchsvolle Ohren sie bewusst wahrnehmen.

Die Geschichte wirft vieles in ihren Topf. HIV! Häusliche Gewalt! Amoklauf! Mobbing! Liebe! Tod! Trauer! Undsoweiter! Die Verknüpfungen sind dabei häufig überraschend, manchmal auch etwas arg konstruiert. Aber einem Kunstwerk Konstruktion vorzuwerfen scheint mir falsch. Kokuhaku ist, bei allen Unterschieden, wie alle Filme des Regisseurs ein in erster Linie emotionales, dann erst intellektuelles Kunstwerk. Soll heißen: Zielt aufs Herz, aber der Kopf muss nicht draußen bleiben. Es ist definitiv unter allen Nakashima-Filmen der, der nach dem ersten Sehen am längsten nachwirkt. Eigentlich ist es zu früh, jetzt schon etwas drüber zu schreiben. Aber so ist das Internet. In erster Linie wollte ich ja auch nur damit angeben, dass ich den Film schon gesehen habe, und Sie nicht. Wahrscheinlich ist davon keiner außer mir selbst beeindruckt. Aber das muss reichen.

TETSUO III: KRACHMACHER

Eigentlich wollte ich nichts über TETSUO THE BULLET MAN schreiben, weil sich spontan gar keine Meinung einstellen wollte. Aber als nach ein paar Stunden mein Gehör zurückkehrte, fingen langsam auch die anderen Sachen in meinem Kopf wieder an zu funktionieren.

Normalerweise bin ich dagegen, Filmtitel u. ä. durchgehend in Versalien zu schreiben, aber bei TETSUO THE BULLET MAN sehe ich keine andere Möglichkeit. Ich kann mich gerade noch beherrschen, nicht drei Ausrufezeichen anzuhängen. Einer Tokioter Stadtillustrierten erzählte der Hauptdarsteller Eric Bossick stolz, bei der Vorführung des Films auf dem Tribeca-Filmfestival in New York wären zum ersten Mal in der Festivalgeschichte die Lautsprecher durchgeknallt. Der Filmvorführer in Shibuyas renommiertem Cinema Rise, wo ich zuhören durfte, wollte wohl ausprobieren, ob er das auch hinbekommt, und ich würde sagen, viel hat nicht gefehlt. Möglicherweise wurde vom Verleih verfügt, dass immer alle Zeiger im roten Bereich sein müssen, sonst macht es keinen Spaß.

Für alle, die nur Avatar kennen: TETSUO THE BULLET MAN ist der dritte Teil der Tetsuo-Reihe von Regisseur bzw. Multikünstler Shinya Tsukamoto. Die Filme setzen einander nicht direkt fort, sondern variieren jedesmal dieselbe Prämisse eines Mannes, der sich in eine Maschine verwandelt und Unheil anrichtet, nachdem ihm selbst Unheil widerfahren ist. Erzählerische Stringenz ist dabei weniger wichtig als provokante Ästhetik und ungewöhnliches Sounddesign. Der erste Film der Reihe, Tetsuo, ist mir flauschige Nostalgie, weil es der erste Film war, den ich bewusst als japanischen Film wahrnahm. Ich hatte bestimmt schon andere mit Riesenmonstern und Schwertkämpfern gesehen, aber das war in einem Alter gewesen, als man sich noch nicht drum scherte, wo die Filme herkamen. Tetsuo begeisterte mich und andere wie mich und überzeugte uns noch vor der bevorstehenden Manga- und Anime-Invasion davon, dass diese Japaner ja alle verrückt sein müssen. Wir waren jung. Heute weiß ich freilich, dass nicht nur nicht alle Japaner Filme wie Tetsuo machen, sondern die meisten Japaner diese Filme noch nicht mal kennen. Und sich am Kopf kratzen, wenn sie mit ihnen konfrontiert werden.

Den zweiten Film, Tetsuo II: Body Hammer, mochte ich nicht sonderlich. Schon die Tatsache, dass er in Farbe war, empfand ich als hollywoodmäßigen Ausverkauf. Wir waren jung. Dennoch wartete ich hibbelig auf den angekündigten Flying Tetsuo. Ein fliegender Tetsuo?! Kann man sich sowas vorstellen?! Kann man, aber der Film kam nie.

Es brauchte 17 Jahre, bis Shinya Tsukamoto sich an einen neuen Tetsuo-Film machte. Weil Tsukamoto besonders im Ausland einen Oh-diese-verrückten-Japaner-Kultstatus hat, wurde TETSUO THE BULLET MAN gleich zu 99,9% in Englisch gedreht, und den Rest der Tonspur durften Nine Inch Nails vollballern. Ob man mit dieser Verwestlichung einverstanden ist oder nicht: In 17 Jahren können Erwartungshaltungen ganz schön monströse Ausmaße annehmen. Zumal Tsukamoto zwischenzeitlich dies- und jenseits des Mainstreams bewiesen hat, dass er mehr als ein One-Hit-Wonder oder One-Trick-Pony ist (bitte schauen Sie Gemini – Tödlicher Zwilling, macht sonst niemand).

Einer der schlimmsten Füll- und Übergangssätze aus dem Baukasten der ungelernten Hobby-Filmkritik lautet: Die Geschichte ist schnell erzählt. Und wenn schon! Ob eine Geschichte schnell erzählt ist oder nicht, sagt rein gar nichts über ihren Gehalt aus. Meistens noch nicht mal über ihre Handlung, allenfalls über ihren Nacherzähler. Wer auf jeden Teenie einzeln eingeht, kann aus der Geschichte von Freitag, der 13. Teil 4 – Das letzte Kapitel einen mehrseitigen Schulaufsatz zaubern. Wer gehässig sein will oder nicht viel Platz hat, kann Robert Altmans Short Cuts in einem Satz zusammenfassen, es ist lediglich ein Minimum an Analysefähigkeit und schreiberischen Geschick vonnöten.

Das Problem von TETSUO THE BULLET MAN ist nicht, dass die Geschichte in groben Zügen schnell erzählt ist: Mann verwandelt sich zu seiner eigenen Überraschung in einen Kampfroboter und rächt den Tod seines Sohnes. Das Problem ist, dass die Geschichte nicht nur grobe Züge hat, sondern zwischen der kreischenden und donnernden Mensch-Maschine-Körperhorror-Action auch noch erzählen will, wie es dazu kommen konnte, und wie die Familie jetzt damit umgeht. Das menschliche Drama wird getragen (bzw. eben nicht) von Fließband-Dialogen, die oft fremdpeinlich sind. Und glaubwürdiger wird die Story mit Sicherheit nicht dadurch, dass der Maschinenmensch durch vergilbte Dokumente mit sepiafarbenen Fotos und altmodisch geschwungener Handschrift fummelt, aus denen er erfährt, dass seine Eltern schon lange an Maschinenmenschen arbeiteten. Wenn wir davon ausgehen, dass der Film in unserer Gegenwart spielt, und der Protagonist so alt ist wie sein Darsteller (Mitte 30), dann kommen diese Aufzeichnungen ungefähr aus den 1970ern? Vordigitales Zeitalter sicherlich, aber hatte man noch keine Farbfotos und Schreibmaschinen? Ich erinnere mich nicht mehr genau.

Darüber kann man aber direkt hinwegsehen, wenn man davon ausgeht, dass sich der ganze Tetsuo-Wahnsinn in einer Realität außerhalb der Realität abspielt. TETSUO THE BULLET MAN ist durchgehend im typischen Tetsuo-Stil inszeniert, also hektische Kamera, schnelle und assoziative Schnitte, Old-School-Spezialeffekte, und alles im Takt des Industrial-Beats. TETSUO THE BULLET MAN ist zwar in Farbe gedreht, aber die Farbe wurde dermaßen zurückgedreht, dass sie nur selten, dann aber effektiv, auffällt. Dass audiovisuelle Donnern macht jedem Spaß, der schon mal Spaß an einem Tetsuo-Film hatte. Die schwache Story macht nichts. Es sind die Dialoge, über die man trotz allem schlecht hinweghören kann. Der Film ist nachahmenswerte 79 Minuten kurz. 69 oder noch ein bisschen weniger hätten es womöglich auch getan, Kürze ist keine Sünde. Dies ist die Art von Film, wo ich ganz Mann bin: Das ganze Gequatsche raus, Hauptsache der Typ wird Kampfroboter und macht Kampfrobotersachen.

Und jetzt bitte Flying Tetsuo. Meinetwegen mit Musik von Einstürzende Neubauten oder Napalm Death oder beiden, aber bitte ohne Worte oder wie dieser Weiberkram heißt.

Hatoyama muss im Hemd bleiben!

In der Post-Koizumi-Ära ist es Tradition, dass sich ein japanischer Premierminister keinesfalls länger als ein Jahr im Amt breit macht. Jetzt hat auch Yukio Hatoyama seinen Rücktritt angekündigt, er ist schließlich schon seit letztem September dabei. Das war ein großes Hallo damals, als seine DPJ die seit gut 50 Jahren durchregierende LDP ablöste. Aber in letzter Zeit sind Hatoyamas Umfragewerte in kaum noch messbare Bereiche abgesunken, weil er in einem halben Jahr nicht alle Missstände aus 50 Jahren LDP-Regierung beseitigen konnte, und weil es ihm nicht gelungen war, alleine die Amerikaner aus Okinawa zu vertreiben.

Ich habe Hatoyama immer gemocht. Er war bescheiden und manierlich, um nicht zu sagen liebenswert schüchtern, seine Frau ist mal mit Tom Cruise im UFO geflogen oder so (fragen Sie sie selbst), und er hatte seine ganz eigene Vorstellung von Modebewusstsein. Viele seiner Hemden sind legendär, eines wurde erst jüngst als Replikat in limitierter Auflage für Liebhaber nachgeschneidert:

Ob Hatoyama politisch ein großer Verlust ist, kann man schlecht sagen, wir hatten ja kaum Zeit, ihn und seine drei Vorgänger richtig kennenzulernen. Modisch muss er aber auf jeden Fall weitermachen. Dieses Hemd darf sein Land nicht im Stich lassen.

Die hiesige Presse hatte übrigens richtig beobachtet, dass Hatoyama zuletzt bei TV-Interviews direkt in die Kamera sprach anstatt die Interviewer anzuschauen, wie er es zuvor getan hatte. Diesen Wandel hatte man auch bei seinen Vorgängern beobachten können, kurz bevor sie zurücktraten. Es war heute Morgen also kein allzu großer Schock. Ich weiß nicht, wohin Horst Köhler bei Interviews zuletzt geschaut hat. Ich bekomme hier sowas nur am Rande mit, und meistens sind die Nachrichten aus Deutschland mehr Lena als Horst.