Papier ist das neue Vinyl

In letzter Zeit ertappe ich mich häufiger dabei, wie ich mit Vergnügen wieder gedruckte Bücher lese.

Keine Sorge, dies wird nicht der 2.587.325ste Klagegesang über den Verlust von Haptik und Geruch beim Lesen.

Okay, irgendwie doch. Aber nicht ganz so kläglich wie bekannt, hoffe ich. Denn eigentlich bin ich ein vehementer Verfechter des E-Buchs. Ich würde sogar sagen: Ich bin ein Very Early Adopter des E-Readings, man. Obwohl ich sonst auf jede ganz offensichtlich großartige Innovation erst mal typisch deutsch reagiere: Bah, braucht kein Mensch, diesen Mist. Dafür geben die da oben also unsere Steuergelder aus. Der Ehrliche ist der Dumme, sage ich euch.

Dem elektronischen Buch war ich dennoch von Anfang an gewogen. Mal Hand aufs Herz: Ein Buch, das nur gefällt, wenn es riecht und schubbert, ist vermutlich kein allzu gutes Buch. Ein bisschen sollte bei Büchern auch auf inhaltliche, womöglich sogar literarische Qualität geachtet werden. Ich finde es schön, dass das Buch nun aus seinen Deckeln befreit wurde, und wie ein kleines Vögelchen mit manchmal noch unsicherem Flügelschlag (total süß, muss man sich mal vorstellen) von Gerät zu Gerät flattert und piept: „Lies mich! Lies mich! Lies mich auf dem Lesegerät! Lies mich auf dem Telefon! Lies mich auf dem Walkman! Lies mich auf dem Heimcomputer! Lies mich überall! Ja, ich will es! Ich muss mal von vorne bis hinten so richtig durchgelesen werden! Piep-piep!“

Sagte ich: Very Early Adopter des E-Readings, man? Möchte sogar sagen: Pioneer des E-Publishings, dude. In grauer Vorzeit sprach mich mal ein junger österreichischer Selfmade-Powerplayer an, der meinte, dass Handy-Literatur (also Literatur auf dem Handy, nicht Literatur über das Handy) das Nächste Große Ding sei, und er die Technologie für den Vertrieb hätte. Ich glaubte ihm, weil in Japan lief das schon wie verrückt. Da musste ich nur Manga und Sushi und eins und eins zusammenzählen und überließ ihm ein Schubladenmanuskript, das sogleich in vier Teilen als Handy Novel feilgeboten wurde.

Glücklicherweise hatte ich meine Arbeitsstelle nicht im gleichen Moment gekündigt. Der ersten (und letzten) Jahresabrechnung war später zu entnehmen, dass der erste Teil zweimal kostenpflichtig heruntergeladen worden war (einmal von mir), und die anderen gar nicht.

Inzwischen hört man vermehrt von E-Buch-Millionären, also startete ich jüngst einen erneuten Versuch, mit demselben Manuskript, aber unter anderem Namen. Millionär, das wär was. Veröffentlicht wurde überall dort, wo solche E-Buch-Millionäre halt ihre Millionen machen.

Das ganze brachte mir nur (sehr) geringfügig bessere Verkäufe als bei meinem ersten Experiment, aber immerhin schriftlichen Kontakt zu einem anderen selbstverlegenden Autoren, einen aufgeregten Fantasy-Pornografen, der mich in die große Weltverschwörung einweihte: All diese angeblichen erfolgreichen Selfmade-Literaten aus den Spiegel-Online-Artikeln und Buchmesse-Diskussionsrunden kauften ihre Bücher in großen Stückzahlen selbst, um hohe Platzierungen in den Charts der Verkaufsplattformen zu erklimmen, und ließen ihre begeisterten Kundenrezensionen ebendort von Mitverschwörern fälschen beziehungsweise erledigten auch das gleich selbst, und und und das sei voll fiese. Damit hatte der aufgeregte Fantasy-Pornograf natürlich in allen Punkten recht, nur fehlt mir bei diesem Thema angesichts schlimmerer Nachrichten aus aller Welt das Erregungspotenzial.

Jetzt schreibe ich wieder nur übers E-Buch. Dabei sollte es mir doch darum gehen, dass gedruckte Bücher auch ganz gut sind. Am besten wäre allerdings beides; wenn man ähnlich wie bei vielen Blu-rays, DVDs und Vinyl-Schallplatten zum Kauf eines physischen Buchprodukts gleich das metaphysische dazubekäme. Bei Schallplatten beeinflusst das durchaus meine Kaufentscheidung. Ich bin inzwischen trotz langer Befürwortung vom reinen Download abgerückt. Nicht aus Altersstarrsinn (medizinischer Fachbegriff: Nostalgie), sondern aus Altersgedächtnisschwäche. Wenn ich etwas nur als Datei kaufe, vergesse ich es häufig am nächsten Tag und bis in alle Ewigkeit. Schallplatten und CDs hingegen liegen irgendwo rum, irgendwann findet man sie wieder und freut sich über die heiße Mucke. Die Mehrkosten sind für einen zukünftigen E-Buch-Millionär kein Thema. Aber zusätzlich digital möchte ich die Musik trotzdem haben, weil es praktischer ist und genauso klingt. Wer ernsthaft findet, dass das nicht so ist, bildet sich was ein oder setzt beim Musikhören die falschen Prioritäten. Bei Filmen derweil ist mir die digitale Kopie schnurz. Welcher ernsthafte Filmfreund mit einem klitzekleinen Funken Selbstachtung schaut Filme auf den Minimonitoren mobiler Geräte? Früher sagte man dazu Hörspiel. Wenn ich auf einer Filmverpackung ‚inklusive Digital Copy‘ lese, falle ich wieder zurück in meine tiefdeutsche Seele und maule: Hoffentlich zahle ich für diesen Quatsch nicht extra …

Apropos typisch deutsch: Viele hier sind ja der irren Auffassung, es gehöre zu ihren unveräußerlichen Menschenrechten, dass sie mit einem Produkt machen können, was sie wollen, nur weil sie es gekauft haben. Zum Beispiel 10.000 exakte Kopien, falls mal 9.999 kaputtgehen. Und wenn man diesen Menschen sagt, sie sollen nicht albern sein, werden sie bockig. Ich will mitnichten darauf pochen, dass ich als Buchkäufer ein Recht auf alles Mögliche hätte. Freuen würde mich aber ein Entgegenkommen seitens der Verlage in der o.g. Angelegenheit schon. Ich schlackere allerdings mitunter mit den Ohren, welche Rechte ich tatsächlich bereits habe. Vor ein paar Jahren war mir aus einer Laune heraus nach elitärem Bezahlfernsehen. Als das vorne und hinten nicht funktionierte, ließ ich einen Techniker kommen, der ebenfalls ratlos vor der Dose stand und mir mit vor Pathos bebender Stimme auftrug, ich möge mich an meinen Vermieter wenden, denn: „Sie haben ein Recht auf digitales Fernsehen!“ Da wurde mir gleich ganz patriotisch in der Brust. Ich fand es eigentlich schon vergleichsweise ausreichend, in einem Land zu leben, in dem ich ein Recht auf körperliche Unversehrtheit, Nahrung, Wasser, Wärme und Würde habe. Huch, ich hätte fast Würste statt Würde geschrieben.

Christian Krachts gegenständlich und inhaltlich schönes neues Buch Imperium gibt es nicht digital [korrigiere: gibt es mittlerweile wohl]. Dieses war eines von einigen Büchern, die mich in jüngster Zeit vermehrt zurück zum gedruckten Buch ge- beziehungsweise verführt haben. Das hat nur bedingt mit der hübschen Umschlaggestaltung, dem guten Material und dem geschmackvollen Schriftbild zu tun. Hätte das Buch, zum Beispiel, 1056 Seiten, wie, zum Beispiel, der neue Stephen King, wäre mir das Südsee-Cover, das Lesebändchen und der sonstige Manufactum-Klimbim nach 20 Seiten herzlich schnuppe gewesen, und ich hätte mich umgeschaut, ob nicht irgendwo im Internet eine Sicherheitskopie abliegt (nicht aufregen, rechtmäßig bezahlt hätte ich ja bereits). Das Buch hat allerdings genau 800 Seiten weniger und fällt somit in den Bereich, in dem ein Buch als Buch lesenswerter ist denn als E-Buch. Da Literatur in Deutschland häufig in Pfund gemessen wird, spricht mancher verhalten abfällig über den vermeintlichen Mangel an Umfang dieses Werkes. Ich aber sage: Das ist genau der richtige Umfang! Büchern, die 400 Seiten deutlich überschreiten, sollte man misstrauen, sie sind im Regelfall geschwätzig und unliterarisch. Ausnahmen gibt es, allerdings nur selten (siehe besagten letzten King). Als Faustregel könnte man aufstellen: King digital, Kracht gedruckt. Es würde mich nebenbei sehr wundern, dieses Jahr noch zwei bessere Bücher zu lesen als diese beiden. Ich werde es trotzdem versuchen.

Warum dann nicht Kracht auch gleich digital, wenn E-Bücher so toll vögelchenflatterhaft sind? Weil man nach jahrelanger E-Lektüre feststellt, dass das Lesen am Lesegerät auf Dauer etwas unangenehm Gleichmacherisches hat. Meines simuliert zwar das Buch als Konzept nahezu perfekt, nur ist es sinnlich immer dasselbe Buch. Nun ist jedes Buch eine eigene Welt, da haben die Phrasendrescher ausnahmsweise recht. So zermürbt es zusehends, wenn die Verpackung bei allen gleich ist, denn die gehört zum Weltendesign dazu.

Warum dann nicht gleich nur noch gedruckt, ging schließlich früher auch? Das ist auch doof. Dass etwas früher ging, bedeutet ja nicht, dass es heute nicht besser gehen darf. Kein Lesegerät schlägt die Haptik eines kompakten Buches, aber jedes Lesegerät schlägt die Haptik eines Backsteins. Darüber hinaus ist Abwechslung eine schöne Sache. Nach vielem Gedruckten freue ich mich jedes Mal, wenn ich als Leser den Reader wieder zur Hand nehmen darf, mitunter sogar für spindeldürre Lektüren.

Ich teile übrigens nicht die häufig gehörte Kompromissauffassung, das E-Buch-Format sei schön und gut für flüchtige Trendlektüre, aber Lebensbücher müssten auf jeden Fall gedruckt und schwer im Regal ächzen. Würde direkt sagen: Eher im Gegenteil. Meine E-Bücher habe ich so gut wie immer komplett bei mir, quasi nah am Herzen, sie werden garantiert auch jede Lebensraumverschiebung mitmachen. Meinen Druckbüchern kann ich diese Garantie nicht ausstellen.

Zur Causa Kracht fällt mir außerdem ein, falls ich mal kurz über mich selbst sprechen darf: In meinem eigenen Buch Gebrauchsanweisung für Japan habe ich neulich auf Seite 145f. zu meiner Empörung diese Textstelle gefunden:

Nie würde ich auf die Idee kommen, eine Postkarte mit folgendem Wortlaut zu verfassen: „Hallo Mami, bei den Schlitzaugen gefällt es mir wie immer gut, liebe Grüße aus Yokohama.“

Herr Diez, übernehmen Sie! Lassen Sie das nicht so stehen! Bitte reißen Sie das markierte Wort sofort aus dem Zusammenhang (es ging um Langnase und andere Schmähwörter) und schreiben Sie einen entlarvenden Gedankengutartikel für ein auflagenstarkes ‚Nachrichten‘-Magazin. Ich könnte noch ein paar verkaufte Einheiten gebrauchen zur Finanzierung meines Bibliothekanbaus.

Und zur Causa Causa fällt mir ein, dass das ein ganz schreckliches Modewort ist, für dessen Verwendung ich mich in aller Form entschuldige. Wann ging das eigentlich los, dass alles Causa sein muss? Kachelmann?

Ist auch egal, zurück zum Thema: E-Bücher sind gut, P-Bücher sind gut, alles ist gut. In umsichtiger Dosierung. Mein einziges größeres Problem mit dieser ganzen E-Buch-Geschichte sind meine kulturpessimistischen Bedenken, dass kommende Lesegenerationen nicht mehr zwischen richtigen (also von kompetenten Fachkräften sorgfältig ausgewählten, betreuten, redigierten und gestalteten) Büchern und selbstverlegten Egotrips werden unterscheiden können. Viele haben schon jetzt Schwierigkeiten damit. Leider sind 99,9% der sogenannten Indie-Autoren (Euphemismus für unverlegte Egotripper) geistige Geschwister einer drolligen Nebenfigur aus dem Film Schmeiß die Mama aus dem Zug. Es ist mehr als 20 Jahre her, dass ich den gesehen habe, ich bin also alles andere als zitierfest. Es gibt da jedenfalls einen Herrn in einem Creative-Writing-Kurs, der ganz stolz ist auf sein Epos 200 Frauen, die ich gerne schweinigeln würde. Wie gesagt: Ist etwas her. Vielleicht sind es mehr oder weniger Frauen, vielleicht ist der Titel im Detail ein wenig anders. Aber die Kernaussage stimmt. Heute bleibt derlei leider nicht hinter den Mauern der Erwachsenenbildung gefangen, sondern wird direkt ins Netz geschweinigelt.

Verlage sind nicht Feinde der Autoren, sondern Freunde der Leser. Es kann selbstredend gut sein, dass hin und wieder ein Autor eines tatsächlich brillanten Werkes nicht mal den kleinsten seriösen Kleinstverlag von einer Veröffentlichung überzeugen kann. Dann ist es ein potentieller Gewinn für die Welt, dass es Selfpublishing gibt. Leider wird die Welt aber von diesem einen brillanten Werk gar nichts mitbekommen, denn sie ertrinkt in abertausenden Schweinigel-Titeln. Möglich, dass sich dieses Missverhältnis beizeiten selbst reguliert. Sehr zuversichtlich bin ich jedoch nicht; Qualität setzt sich äußerst selten durch.

Oh je, jetzt ende ich mit gesenktem Blick und geschürzter Unterlippe, dabei sollte es um erfreuliche Dinge gehen. Lesen wir zur Zerstreuung ein wenig Trivialliteratur, zwei gelungene Exemplare der Gattung habe ich unlängst besprochen (als E-Bücher, gibt’s aber auch so):

Neil Cross: Luther – die Drohung

Jeffery Deaver: Carte Blanche

Das Katastrophenbrot, ein Jahr später

Als ich am letzten Wochenende Tokio verließ, steckte mir meine Freundin zum Abschied eine Konservendose Brot ins Gepäck: „Habe ich letztes Jahr gekauft, läuft im März ab. Muss weg.“

„Iss du es doch“, schlug ich vor.

„Nein, ich mag das Zeug nicht.“

„Wieso kaufst du es dann?“

„Wegen Erdbeben. Ich hole nachher neues.“

Sie hatte diese Dose Brot vor ziemlich genau einem Jahr gekauft, in neu erstarktem Notfallvorbeugebewusstsein.

Wie jedes japanische Brot ist es zu weich und zu süß.


(Serviervorschlag)

Also schmiere ich Honig drauf, um den Effekt noch zu verstärken. Heute möchte ich nur weiche und süße Dinge essen. Während ich das Katastrophenbrot vom letzten Jahr frühstücke, freue ich mich, dass meine Freundin keine Veranlassung hatte, es zu essen. Und ich hoffe, auch im nächsten Jahr um diese Zeit wieder das Katastrophenbrot zu verspeisen, das sie nicht anrühren musste.