Oder: Acht wirkliche wahre Wahrheiten über E-Books, und dann ist aber auch gut
So war der Plan: Ich wollte mich bitterlich beschweren, dass zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse die Illustrierten nicht mit dem Thema Neuseeland titelten, wie sie es in der Vergangenheit getan hätten, sondern mit dem Thema E-Books (ich verwende den englischen Begriff, damit man mich versteht). Leider hat der Plan nicht hingehauen. Nicht etwa, weil die Presse ihre von der breiten Masse kaum geteilte E-Book-Hysterie abgelegt hätte. Sondern weil inzwischen gar nicht mehr zur Buchmesse getitelt wird. Früher noch eine sichere Cover-Bank wie Hitler oder Wetten, dass ..?, heute Marginalie. Dann hätte ich doch lieber E-Books als gar nichts gehabt.
Trotzdem, in den Zweizeilern, denen die Messe der Presse hier und da wert ist, stimmt das befürchtete Bild wieder: Was gelesen wird, interessiert nicht. Nur wie gelesen wird, digital nämlich, diesmal aber wirklich. E-Books sind nicht totzukriegen, genau wie der Internet-Kühlschrank. Über den schrieb ich 1998 als frisch vereidigter Nachrichtenredakteur meine erste eigene Nachrichtenmeldung. Das Gerät stand damals kurz vorm großen Durchbruch. Dort steht es seitdem und geht nicht weg. Jedes Jahr ist es dem Boulevard eine neue Meldung wert, wenn wieder irgendeine Messe ist. Zuletzt wurde der Internet-Kühlschrank auf der Internationalen Funkausstellung 2012 gesehen. Aber schon bald auch in Ihrer Küche, denn er steht jetzt kurz vor dem großen Durchbruch. Vieles wird über das E-Book und seine Bedeutung für die Menschheit behauptet. Damit Sie nicht den Überblick verlieren, möchte ich nutzwertig servicejournalistisch die wichtigsten Punkte zusammenfassen. Das eine oder andere habe ich bestimmt an anderer Stelle schon mal so ähnlich oder genauso geschrieben, aber das macht nichts. Die anderen sagen in der E-Book-Debatte ja auch ständig dasselbe. 1. Nicht jeder kann jetzt Autor und Verleger sein Weil die Produktionsmittel so erschwinglich und leicht zu bedienen sind, kann jetzt jeder ran. Das ist genau derselbe Unsinn, der vor ein paar Jahren übers Musizieren und Filmemachen verbreitet wurde. Was hat es uns gebracht? Katzenvideos. Theoretisch konnte schon seit der Erfindung des Schreibgerätes jeder ein Buch schreiben, der den Drang verspürte. In den meisten Fällen ist nichts draus geworden. Neu ist nur, dass das Nichtsgewordene jetzt gedankenlos veröffentlicht werden kann. Doch nicht jeder Buchhochlader ist ein Verleger, genauso wie nicht jeder Katzenvideohochlader ein Filmmogul ist. Ich bin übrigens im Besitz von Hämmern und Nägeln. Das macht mich nicht zum Handwerker, musste ich feststellen. Ich benutze jetzt wieder vermehrt Tesafilm. 2. An den literarischen Formen ändert das E-Book nichts „Ey, Alter, ich bin total geflasht: Opas Roman ist tot! E-Books eröffnen der Literatur ganz neue Möglichkeiten! Enhanced E-Books zum Beispiel … oder Fortsetzungsromane … oder, oder … noch irgendwas! Auf jeden Fall aber Enhanced E-Books und Fortsetzungsromane! Obwohl der Roman ja eigentlich tot ist …“ So tönt der junge Markt- und Medienanalytiker. Tatsächlich bleibt das E-Book ein Buch und die Kirche im Dorf. Dass alle multimedial aufgepeppten E-Books bislang spektakulär gefloppt sind, liegt nicht (wie oft kolportiert) daran, dass sie technisch noch nicht peppig genug waren. Sondern einzig und allein daran, dass diese Mischformen keine Sau interessieren. Warum auch? Hat sich jemals jemand die Gimmick-DVDs, die Plattenlabels mitunter in schierer Verzweiflung ihren CD-Veröffentlichungen beilegen, mehr als einmal angesehen? Ich habe etliche, die ich noch nie gesehen habe, obwohl mir die CDs gefallen. Musik ist halt Musik, Buch ist Buch, Film ist Film, Tetris ist Tetris. Alles schön und gut, und alles bitte zu seiner Zeit und im angemessenen Rahmen. Ein Buch, das die Unterstützung von Soundtracks, interaktiven Landkarten und Katzenvideos braucht, kann kein gutes Buch sein. Seltsam, dass die Literaturmodernisierungsenthusiasten jetzt wieder mit dem Fortsetzungsroman kommen. Noch seltsamer, dass sie meist selbst ganz neunmalklug darauf hinweisen, dass diese Form schon zu Dickens‘ Zeiten praktiziert wurde. Man soll also mit der modernsten Form des Lesens husch husch zurück zur Publikationsform des 19. Jahrhunderts? Das ist nicht innovativ, das ist hanebüchener Humbug. Fortsetzungsromane sind außerdem nie ausgestorben. Wer sich seinen Leserhythmus gerne vorschreiben lässt, findet eine große Auswahl am Bahnhofskiosk seines Vertrauens. Überhaupt, die Form: Mit E-Books könne man jetzt auch mal kürzere Texte raushauen, und vor allem aktuellere, so freut man sich. Ersteres konnte man schon immer (Buch ist Buch ab 49 Seiten, nicht erst ab dreistellig). Interessiert nur keinen deutschen Leser, hier wird Qualität noch in Quantität gemessen: Dickes Buch ist gutes Buch. Letzteres ist unnötig, denn nicht jede Neuigkeit muss stante pede ein Buch werden. Ein Zeitungsartikel, ein Blogeintrag, ein Tweet reichen zur schriftlichen Nachrichtenvermittlung vollkommen aus. 3. E-Books könnten vereinzelt günstiger sein, aber nicht viel Will der Boulevard den Geizbürger wütend machen, rechnet er ihm nach Milchmädchenmanier gerne vor, wie teuer das Smartphone, das er sich sowieso nicht gekauft hat, rein nach Materialwert wäre: Meistens ein Apfel und zwei Eier. Entwicklungs-, Produktions-, Vertriebs- und Marketing-Kosten, Produktpflege und Mitarbeitergehälter einfach mal außen vor gelassen, Gewinnspanne sowieso, Gewinnspanne ist schließlich was Unanständiges. Diese Unsinnsrechnung bekommt man auch immer wieder zum Thema E-Books zu hören: Muss nicht auf Papier, darf also nichts kosten. Dabei kostet die Erstellung eines Buches das, was die Erstellung eines Buches eben kostet. E-Books sind nicht günstiger zu schreiben, zu recherchieren, zu übersetzen, zu lektorieren, zu gestalten und zu vermarkten als gedruckte Bücher. Material wird als Kostenfaktor vom fachfremden Frotzler seit Jahr und Tag überschätzt. Selbstverständlich macht es einen Unterschied, ob ein Buch gebunden im Lager oder digital auf dem Server liegt. Dieser Unterschied ist allerdings weitaus geringer, als weithin angenommen wird. Möglicherweise kann man hier und da in den E-Book-Preisen noch etwas runtergehen. Doch im Großen und Ganzen scheinen mir die Preise auf dem deutschen Markt ganz vernünftig und kaum frech. 4. Klassische Verlage werden wichtiger denn je Die Hysteriker behaupten gerne das Gegenteil, empfinden die verlegerische Gatekeeper-Funktion (Schimpfwort über Nacht) als Bevormundung und nicht als den dankenswerten Dienst, der sie ist. Außerdem würden Verlage Autoren das Geld wegnehmen, das Blut aussaugen und ihre Erstgeborenen zu Gulasch verkochen. Tatsächlich sorgen Verlage dafür, dass Autoren von mehr als nur Mami, Papi und Facebook-Freunden gelesen werden und dafür auch noch Geld bekommen. Außerdem sorgen sie dafür, dass die Bücher der Autoren besser werden, als die Autoren gedacht hätten, und besser aussehen, als die Autoren es mit Powerpoint und Kreide hinbekommen würden. Dabei haben die Verlage jede Menge Ausgaben, die Autoren gar keine. Es ist nur gerecht, dass Verlage am Verkauf ihrer Produkte ordentlich mitverdienen. Natürlich können sich freie Autoren, Lektoren und Vermarkter zu Cliquen zusammenverschwören und durchaus professionelle Produkte am Verlagswesen vorbeipublizieren. Dafür müssen sie aber in eine finanzielle Vorleistung gehen, die sich die meisten literarischen Hoffnungsträger nicht werden leisten können. Selbstverständlich müssen Verlage ihre Arbeit mit Hirn und Herz betreiben, sonst wird es nichts. In letzten Jahren musste ich mich bei großen Publikumsverlagen immer häufiger über Übersetzungen ärgern, die direkt aus dem Google-Translator zu kommen schienen; von schauerlichen Fehlentscheidungen, was veröffentlicht und was ignoriert wird, mal ganz abgesehen. Doch das ist eben nicht ein Problem des Verlagswesens an sich. Das ist nur das Problem, wenn Verlage ihre Arbeit nicht vernünftig machen. Wenn sie sie vernünftig machen, bleiben sie unverzichtbar. 5. Das gedruckte Buch wird uns noch sehr, sehr lange erhalten bleibenUnd zwar nicht nur als bibliophiler Luxus-Fetisch für Menschen mit Ellenbogenflicken und Brillenbändchen, wie es selbst eben diese Menschen mit hängenden Schultern und gesenktem Blick oft prognostizieren. Der E-Book-Markt in Deutschland wächst schwindelerregend, vom vorletzten Jahr aufs letzte rund 100%. Nämlich von 0,5% auf 1% Anteil am gesamten Buchmarkt. Für dieses Jahr werden von Optimisten schon wieder 100% vorausgesagt, dann wären wir bereits bei 2%. Allerdings zeigt die Erfahrung und sagt der gesunde Menschenverstand, dass sich 100%-Sprünge nicht Jahr um Jahr um Jahr wiederholen. Außerdem ist das elektronische Buch traditionell in erster Linie etwas für den guten, alten Online-Handel. In Deutschland kommt der Versandhandel (inklusive Online, aber nicht nur) auf nicht mal 20% des gesamten Buchhandels. Dieser Anteil ist eher stabil als auf der Überholspur. Der US-amerikanische Markt ist bekanntlich der Streber unter den E-Book-Märkten. Dort beruhigen sich die Zuwächse mittlerweile, der Marktanteil liegt bei knapp 16%. Rapide steigt hingegen die Anzahl der Dualleser: Immer mehr Schmökerfreunde, die zu Anfang des E-Booms komplett auf E waren, lesen wieder mal so, mal so. Es setzt sich die Erkenntnis durch: Das Medium ist nicht die Message. 6. E-Book-Millionärin werden Sie nicht, und ich auch nicht Auch in deutschen Medien eine gern genommene Sensationsmeldung: Mausi X und John Y haben mit ihren selbst veröffentlichten Vampirgeschichten und Thrillern Millionen von E-Books verkauft. Das beflügelt das eigene Schreiben, möglicherweise sogar das Kündigungsschreiben. Mit letzterem sollte man noch warten, denn Mausi und John haben ihre Millionenseller auf Englisch verfasst. Ganz viele Leser überall auf der Welt sprechen Englisch als Muttersprache. Dazu kommen weltweit noch jede Menge Anglophile, die mit Begeisterung englische Bücher lesen, obwohl es nicht ihre Muttersprache ist. Mit Deutsch sieht das in beiden Fällen anders aus. Außerdem haben all die Mausis und Johns ihren Minuten-Ruhm genutzt, um sich klassische Verlagsverträge zu angeln. Denn ihre Millionen Bücher sind sie nur losgeworden, weil sie sie für knapp nichts verschleudert haben. Davon kommen nicht dauerhaft drei Mahlzeiten täglich auf den Tisch. Siehe Punkt 4. 7. Das Urheberrecht darf reformiert werden Ob Koks oder Kopie: Wird ein Gesetz nur häufig genug gebrochen, krabbeln gleich die Schildbürger unter ihren Schilden hervor und brabbeln, man solle das Gesetz einfach abschaffen, dann wird es nicht mehr gebrochen, denn Kriminelle dürften doch um Gottes willen nicht kriminalisiert werden. Dürfen sie wohl, müssen sie sogar. Ein Gesetz, das nicht greift aber in der Sache sinnvoll ist, muss reformiert werden, also verschärft. Piraten sind Verbrecher, dem Gesindel gehört das Handwerk gelegt. Auf hoher See, hoch droben in der Cloud und in den Parlamenten. 8. E-Books sind ganz, ganz toll Sollte der Eindruck entstanden sein, ich fände E-Books blöde, ist dieser gänzlich falsch. Ich liebe E-Books, denn ich liebe Bücher. Endlich habe ich genügend Platz für alle meine Schminksachen und 700 Seiten Rushdie in meiner Handtasche. Was mir allerdings mitunter die Zehennägel bis zum Zahnfleisch hochrollen lässt (tut ganz schön weh), ist die Hysterie an allen Fronten. Das E-Book ist nicht die tollste Erfindung seit dem Buchdruck. Das E-Book ist die tollste Erfindung seit dem Taschenbuch. Das ist doch wohl toll genug. Amen.