Gebratene Ente unter anonymen Genitalien [Kaiho-Kolumne]

In der aktuellen Ausgabe der Mitgliederzeitschrift der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern ist meine aktuelle Kolumne Mit dem Beagle-Bus ins Natto-Land zu lesen. Drum gibt es die vorletzte Kolumne nun hier für alle Welt in Zweitverwertung.

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Über Weihnachten letzten Jahres war Megumi Igarashi auf Bewährung draußen. Zuvor war sie zweimal in relativ kurzen Abständen verhaftet worden. Die Taten, die ihr zur Last gelegt werden, bestreitet sie nicht. Sie bestreitet lediglich, dass es sich bei diesen Taten um Verbrechen handelt.

Sie wollte doch nur ein Kajak. Sie wollte es noch nicht mal stehlen, sondern es selbst bauen. Auch das kostet Geld, deshalb startete sie eine Crowdfunding-Aktion, sie sammelte also Projektspenden im Austausch gegen kleine Geschenke und Gefälligkeiten. Eine dieser Gefälligkeiten hatte durchaus mit ihrem Intimbereich zu tun, war aber weniger intim, als man glauben könnte: War die Spende groß genug, schickte sie dem Spender Koordinaten ihres Geschlechtsteils, zur Reproduktion über einen 3D-Drucker.

Eine niedliche Idee, eigentlich. Fand die japanische Justiz aber nicht. Igarashi wurde wegen der Verbreitung obszönen Materials im Juli zum ersten Mal verhaftet. Erst nach sechs Tagen wurde sie vorübergehend freigelassen, nachdem man zu der Einsicht gekommen war, es bestehe weder Flucht- noch Verdunklungsgefahr. Schließlich steht Igarashis Vagina im Zentrum all ihrer Arbeit (dreimal darf man raten, welche Form sie sich für ihr Kajak wünschte). Da kann man nicht so einfach nach dem alten Spießerspruch verfahren: Ist das Kunst, oder kann das weg?

Im Dezember wurde sie erneut verhaftet, als ihr gutes Stück, beziehungsweise ein Replikat davon, öffentlich ausgestellt wurde. Beziehungsweise relativ öffentlich, in einem Geschäft für Ehehygiene, wie wir Kinder des letzten Jahrtausends sagen. Also an einem Ort, zu dem die jugendliche Unschuld eh keinen Zutritt hat, und wo es kaum Kunden geben dürfte, die das Ausgestellte nicht zumindest auf Abbildungen schon einmal gesehen haben. Fraglich ist in diesem Zusammenhang, wer gepetzt hat. Vermutlich stand das Kunstwerk vor der polizeilichen Entdeckung schon zwei oder drei Monate ohne Zwischenfall im Laden.

Zugegeben: Ich bin normalerweise nicht empfänglich für Künstler, die ihre Geschlechtsteile zu Kunstwerken ausloben und kein anderes Thema kennen. In der Regel ist deren Kunst faul, vorhersehbar, nicht sonderlich weit gedacht. Deshalb hatte ich die Causa Igarashi schnell wieder in die hinteren Winkel meines Unterbewusstseins verbannt. Von dort kam sie aber neulich schlagartig wieder hoch, als ich unter einer riesigen Vagina saß und versuchte, mich aufs Essen zu konzentrieren. Für eine Buchrecherche (ich schiebe gerne jeden Unsinn auf Buchrecherchen) hatte ich mich in das Chinese Café Eight in Roppongi begeben, das dafür bekannt ist, 24 Stunden am Tag gebratene Ente zu servieren und „originell dekoriert“ (Reiseführer) zu sein. Ich hatte eine vielleicht etwas extremere Version des üblichen China-Restaurant-Kitsches mit Rot und Gold und Drachen erwartet. Tatsächlich erwartet mich ein großes weibliches Geschlecht, gestanzt in eine schmiedeeiserne Glocke, in der Mitte des Raumes von der Decke hängend. Keineswegs nur angedeutet, sondern anatomisch ziemlich eindeutig. Genauso wie der ebenfalls von der Decke hängende große, goldene Penisschlegel, der Kurs auf sie genommen hatte.

Warum durfte man hier, ganz öffentlich mit Kind und Kegel, unter riesigen entblößten Geschlechtsteilen gebratene Ente essen, während es erwachsenen Privatmenschen untersagt war, Reproduktionen des Geschlechtsteils von Frau Igarashi anzuschauen oder herzustellen? Liegt es daran, dass die Glocke im Chinarestaurant nur eine anonyme Vagina zeigt, und nicht die einer bestimmbaren Person? Oder schützt ihre unrealistische Größe sie vor der Verfolgung? Ist demnach ein Geschlechtsteil in Originalgröße obszöner als ein riesengroßes? Oder ist das von Frau Igarashi in jeder Größe überdurchschnittlich obszön? Oder liegt es daran, dass speziell in Roppongi eh so einiges rumhängt, und man dort eher mal ein Auge zudrückt?

Selbstverständlich ist ein Geschlechtsteil überhaupt nicht obszön. Nicht die unbeanstandete Glocke ist der Skandal, sondern die Skandalisierung und vor allem die Kriminalisierung von Megumi Igarashi und ihrer Kunst. Man muss kein Fan sein, um zu erkennen, dass ihre Werke verspielt, fröhlich und bisweilen sogar originell sind; keine lärmende und spritzende Pennäler-Provokation, wie bei so vielen anderen Genitalherzeigern im Kunstbetrieb. Und selbst wenn es sich um lärmende und spritzende Pennäler-Provokation handelte, wäre das kein Grund, gleich die Polizei zu rufen. Kunst darf alles, auch doof sein.

So weit ist man allerdings in der japanischen Rechtsprechung noch nicht. Megumi Igarashi ist zwar wieder auf freiem Fuß. Ihr Ziel aber, ihre Vagina vom Gericht für nicht obszöner als andere erklären zu lassen, hat sie nicht erreicht. Sie wurde zu einer knackigen Geldstrafe verdonnert.

Möglicherweise geht sie nun öfter mal im Chinese Café Eight essen, ein eher preiswertes Lokal. Und möglicherweise tun sich dabei ganz neue Möglichkeiten der gastronomisch-künstlerischen Zusammenarbeit auf. Ich hoffe es sehr.

Lob der Latte-Macchiato-Mütter und Craft-Beer-Väter

Optimistisch hatte ich geglaubt, das larmoyante Herumhacken auf Menschen, für die es im Leben etwas mehr sein darf als Heim, Herd, Sack, Asche und Industrieplörre, würde den larmoyanten Herumhackern selbst irgendwann langweilig werden. Dem scheint leider nicht so zu sein, deshalb muss ich jetzt doch mal was loswerden: ein Hoch auf die Latte-Macchiato-Mütter, überall! Mögen sie mit ihrer Anmut weiterhin die Stadtbilder verschönern und mit ihren Designerkinderwagen (Bayern: Designerkinderwägen) noch so manchem frühvergreisten Griesgram den Weg verstellen. Und ein Hoch auf ihre Partner, die Craft-Beer-Väter! Auf dass sie sich niemals einreden lassen, ihr Bier sei gar kein echtes Männer-Bier, nur weil mehr Geschmack, mehr Alkohol und kein Hopfenextrakt drin ist.

Wir Latte-Macchiato-Mütter (Craft-Beer-Väter mitgemeint) wurden großgezogen von einer Generation von Jacobs-Krönung-Müttern und Haake-Beck-Pils-Vätern (Bayern: Augustiner-Bräu-Vätern). Wir lieben sie, doch das bedeutet nicht, dass wir alles genauso machen müssen wie sie. Das Herumhacken auf unserem Lebenswandel hat etwas von der Runter-von-meinem-Rasen-Mentalität der Generation vor unserer Elterngeneration, die an dieser Stelle aus dem Jenseits jault: „Jacobs Krönung und Haake Beck Pils? Luxus! Wir hatten damals nur die Spucke der Besatzer zu trinken und mussten uns vorstellen, es wäre Jacobs Krönung und Haake Beck Pils! Und aus uns sind trotzdem zufriedene, tolerante, lebenslustige alte Herrschaften geworden! Äh, Moment mal …“

Wat de Buur nich kennt, dat frett he nich. Die Ablehnung des relativ modernen Genusswandels erinnert auch an das verzweifelte Festklammern an der eigenen Jugend. Alles soll genauso bleiben, wie es immer war, und die Musik von heute ist ja nur noch Boingboingboing, und wer Bier trinkt, das es letztes Jahr noch nicht gab, ist ein Mädchen. Was schön und neu ist, muss schnell mit der Gentrifizierungskeule alt und hässlich geschlagen werden. Speziell die Kritik an den Latte-Macchiato-Müttern geht von der antifeministischen Uralthaltung aus, Frauen müssten mit Einsetzen der Mutterschaft das Frausein einstellen. Sie dürften sich fortan nur noch in den eigenen vier Wänden aufhalten und im Trainingsanzug Jacobs Krönung schlürfen. Andere Interessen als Kinder, Kinder, Kinder sind Zeichen von Selbstsucht und stören da draußen die Greise zwischen 30 und 50, die gerade auf dem Weg in ihre Siff- und Suff-Kneipe sind, in der seit dem 20. Jahrhundert nicht mehr geputzt wurde, was sie so gemütlich und ihre Kundschaft so gut gelaunt macht.

Man verwechsle diese Verteidigung ganz normaler Menschen nicht mit Hipster-Verteidigung. Selbstverständlich kann einem das Klein-klein um die neuesten Bier- und Kaffeemarotten auf den Senkel gehen. Vor ein paar Jahren wurde einem noch die Freundschaft gekündigt (richtige Freundschaft, nicht Facebook-Freundschaft), wenn man mal unachtsam ausgeplaudert hatte, man würde zu Hause heimlich Filterkaffee trinken. Die Musik hörte schlagartig auf, alle Scheinwerfer und Blicke waren auf einen gerichtet, und eh man sich versah, saß man ganz alleine da und das Licht ging aus. Inzwischen ist Filterkaffee wieder der letzte Schrei. Natürlich nur mit dem RICHTIGEN Filter und der RICHTIGEN Filterkaffeemaschine. Dieser ganze Kaffeetechnikfetischismus ist natürlich papperlapapp. Ich verrate schnell, was man für guten Kaffee braucht: guten Kaffee. Wenn es sich einrichten lässt noch gutes Wasser (ist in München leider schwieriger zu bekommen als guter Kaffee). Das langt. Dann ist es relativ egal, ob die Maschine drum herum 40 oder 400 Euro gekostet hat (tut mir leid, vielleicht haben Sie den Bon ja noch).

Im Großen und Ganzen ist es aber begrüßenswert, dass immer mehr Menschen eher bewusst genießen als gewohnheitsmäßig kippen. Zum Wohle.