Hana (6) über Alte Weiße Männer, Folge 2: Robert De Niro

Achtung, diese Folge ist geschummelt: Erstens war Hana bei der geschilderten Begebenheit erst schätzungsweise 4, zweitens hatte ich diesen Text ursprünglich für ein inzwischen aufgegebenes Buchprojekt über weise Vater-Tochter-Gespräche geschrieben. Schlimm ist das. Deshalb wird die Serie hiermit GECANCELT! Aber jetzt erst mal viel Vergnügen mit Robert De Niro. In weiteren Rollen: Ingrid Steeger, Iggy Pop und James Bond.

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Manchmal, wenn das Leben es zu gut mit mir meint, habe ich bis zu zwei Minuten Zeit, um auf dem Sofa zu liegen und in Zeitschriften zu blättern. Dann kommt Hana, patscht mit der ganzen Hand auf ein Foto in dem Artikel, den ich lese, und lacht: „Opa!“

„Das ist doch nicht Opa.“

Ein Opa.“

„Das ist Robert De Niro.“

„Hä?!“

„Wie bitte.“

„Wie bitte?“

„Robert De Niro.“

Sie macht abgehackte Bewegungen mit Armen und Hals. „Ich. Bin. Robot. De. Niro.“

„Robert, nicht Robot. Das ist ein ganz berühmter Schauspieler. Weißt du, was ein Schauspieler ist?“

„Ich weiß.“ Das sagt sie immer mit besonders großer Überzeugung, wenn sie etwas noch nie gehört hat.

„Du weißt, dass das, was du im Fernsehen, im Kino oder auf dem Tablet siehst, nicht echt ist, nicht wahr? Das sind Leute, die tun nur so, als wären sie Polizisten, Zombies oder Köche. Nun, Köche sind sie manchmal vielleicht schon, aber du weißt, was ich meine. Wenn man nur so tut, als ob man was ist, nennt man das Schauspiel.“

„Ich weiß.“

„Wie Halloween.“

„Ich! Weiß!“ Sie patscht auf ein anderes Bild im Artikel. Es zeigt De Niro in seiner bekanntesten Rolle (zumindest denen, die Meine Braut, ihr Vater und ich nicht für einen seiner ‚frühen Filme‘ halten). „Noch ein Opa!“

„Das ist auch Robert De Niro. Da ist er sogar noch ziemlich jung. Jünger als Papa.“

„Ist Papa älter als Opa?“

„Ernsthaft? Dein Opa ist ungefähr so alt wie Robert De Niro.“

„Der Opa hat Haare wie Oskar.“ Oskar ist der Fressdrache aus den Geschichten um den kleinen Drachen Kokosnuss. Mit denen ist Hana vertrauter als mit dem Frühwerk Robert De Niros.

„Das hat er nur für einen Film so gemacht. Darin spielt er einen Taxifahrer. Du weißt doch, was ein Taxifahrer ist.“

„Ich weiß. Ich mag Taxi. Aber warum komische Haare?“

„Damit … die Leute etwas zu lachen haben. Die sagen dann: ‚Du hast aber lustige Haare, Herr Taxifahrer‘, und dann steigen sie gerne in sein Taxi. Und dann haben sie eine lustige Fahrt. Und manchmal fahren sie um die Wette mit anderen lustig verkleideten Taxifahrern.“

„Wie Mario Kart.“

„Genau. Der Film ist so ähnlich wie Mario Kart.“

Ich erinnere mich, wie ich als Kind, gleichwohl schon älter als Hana heute, jeden Freitag mit Feuereifer das aktuelle Kinoprogramm aus dem Weser-Kurier riss und den Spielplan jedes einzelnen Schachtel-, Programm- und Erwachsenenkinos der Bremer Innenstadt genauestens studierte. (Die Älteren erinnern sich: Programmwechsel war in den deutschen Kinos bis in die Achtziger hinein freitags. Er wurde irgendwann auf den Donnerstag vorverlegt, damit die Filminteressierten, die in ihrer Planung nicht denselben Feuereifer an den Tag legten wie der kleine Andreas, bis zum Wochenende mehr Zeit zum Herausfinden hatten, was gerade lief. Ob es geschäftlich was gebracht hat, weiß man nicht. Das nur als kleine kulturhistorische Bonusinformation.) Oft musste ich meinen Vater fragen, welche Art von Film sich hinter einem Titel verbarg. Einmal fragte ich nach Uhrwerk Orange. Darauf antwortete mein Vater, ohne lange nachzudenken oder mit der Wimper zu zucken, es handele sich um die Geschichte eines Uhrmachers in der Schweiz, der Uhren aus Orangen baute. Ich hatte ihn sofort vor Augen, den weißbärtigen Uhrmacher in seiner Almhütte voller Uhren, Fruchtfleisch und Orangenschalen.

Vielleicht meinte mein Vater, das klänge so langweilig, dass ich mich nicht weiter damit befassen würde. Da hatte er sich geirrt. Tag und Nacht, und das über Jahre, schlug mein Hirn Purzelbäume in seinen Bemühungen, zu begreifen, wie das funktionieren konnte: Uhren aus Orangen. Der Film war schon damals nicht mehr ganz neu, aber er lief ständig in irgendeinem Kino; es schien also genügend Leute zu geben, die sich für die Technologie hinter den Orangenuhren interessierten. Ich war einer von ihnen.

Jener Tage ging ich gelegentlich mit wechselnden erwachsenen Begleitungen ins Kino, die Filme konnte ich mir innerhalb gewisser Rahmen aussuchen. Selbstverständlich schlug ich einmal Uhrwerk Orange vor. Das sei noch nichts für mich, bekam ich zu hören. Das konnte ich mir nicht vorstellen. Ich kannte Orangen, ich kannte Uhren, keines von beiden schien mir ein exklusives Utensil der Erwachsenenwelt. Ich wusste, welche Filme nichts für mich waren: James-Bond-Filme. Die wurden in den Anzeigen des Kinoprogramms als „(s)explosiv!“ beschrieben. Das klang so versaut, dass ich mich wunderte, dass man mich das Wort auch nur lesen ließ. (Als ich später meinen ersten Bond-Film sah, war ich zwar angetan, musste aber feststellen, dass ‚sexplosiv‘ lediglich ein Synonym für ‚Frauen in Bikinis‘ war. Ein James-Bond-Film war also ungefähr so sexplosiv wie ein Besuch im Vegesacker Freibad. Vielleicht sogar etwas weniger, denn im Vegesacker Freibad gab es immer ein paar Libertäre, die sich ‚oben ohne‘ bräunten. Man konnte also, im Gegensatz zu einem Bond-Film, gelegentlich ‚was sehen‘. Von dem, was Ingrid Steeger zur besten Sendezeit im Fernsehen machte, wollen wir hier gar nicht erst anfangen.)

Viele Jahre später bekam ich Uhrwerk Orange endlich zu sehen. Ob allein oder mit Freunden, auf Videokassette oder in einem Programmkino, weiß ich nicht mehr. Selbstverständlich war es der beste Film, den ich jemals gesehen hatte. Den Rest meiner Jugend sprach ich nur noch Droog. Nein, ich war kein Stück schockiert oder auch nur überrascht, dass es nicht um Uhren ging, die mit Orangen betrieben wurden. Ich war nämlich bereits in der Pubertät und wusste einfach alles, das meiste davon sogar besser. Nur ein Rätsel konnte ich nicht lösen: Wie kam mein Vater nur auf diesen Unsinn mit den Uhren und Orangen? Wusste er denn gar nichts? Hatte es ihm jemand falsch erzählt? Hatte er den Film verwechselt?

Um auf Robert De Niro zurückzukommen: Er ist, wie gesagt, im ungefähr gleichen Alter wie mein Vater. Man vergisst es manchmal, dass die Koryphäen aus Kunst und Unterhaltung keineswegs auf ihren eigenen, gänzlich gesetzlosen Zeitsträngen existieren, sondern um ein Haar unsere Eltern, Geschwister, Großeltern sein könnten. Einmal besuchte ich mit Freunden ein Iggy-Pop-Konzert in einer Bremer Hardrock-Disco. Wir standen andächtig vor der Bühne, den zeremoniellen Plastikbecher mit Bier in der Hand, während Mr. Pop seiner Arbeit nachging, hager, mit langem Haar und entblößtem Oberkörper, eine assoziationsreiche Lichtgestalt. Da sagte einer meiner Begleiter nachdenklich: „Also, ich kann mir irgendwie nicht vorstellen, dass mein Vater da oben auf der Bühne halbnackt rumspringen und ‚Pussy! Pussy! Pussy!‘ brüllen würde.“

Da dachte ich: Hab ich auch gerade gedacht.

Worauf ich eigentlich hinaus wollte: Robert De Niro, +/- ein paar Monate im gleichen Alter wie mein Vater, wusste bestimmt schon in den 70ern, dass es in Uhrwerk Orange nicht in erster Linie um Uhren aus Obst geht. Und die Wahrscheinlichkeit, dass es meinem Vater nicht anders ging, ist groß. Das wird mir tatsächlich erst jetzt bewusst, da ich meinem eigenen Kind eine irreführende Beschreibung des Films Taxi Driver gegeben habe. Die wird sich noch wundern. Aber hoffentlich erst in vielen, vielen Jahren.

Hana tippt mit ihrem rechten Finger in ihre linke Handfläche und sagt: „Pi-po-pi-po-pi …“ Dann hält sie die Handfläche ans Ohr. Sie spielt nun ‚Handy‘.

„Wen rufst du an?“, frage ich.

„Robert De Niro.“

Ich singe mit hoher Stimme: „Robert De Niro’s calling / talking Italian …“

Sie schaut mich an, als sei ich bekloppt.

„Das ist ein ganz berühmtes Lied“, sage ich.

Immer noch bekloppt.

Und natürlich hat sie recht. Im Lied heißt es „Robert De Niro’s waiting“. Nicht ‚calling‘.