Wider besseren Instinkt las ich die Woche ein Interview mit dem hauptberuflichen Schallplattenindustrieerklärer Tim Brenner, in dem Ohrenschlackernmachendes zu erfahren war. Zum Beispiel, dass die Schallplattenindustrie die digitale Revolution verschlafen habe, und dass das Album als Format überholt wäre, denn es sei überhaupt nur aus technischen Notwendigkeiten heraus entstanden (mehr als eine Dreiviertelstunde ging halt nicht drauf) und keineswegs aus künstlerischer Erwägung. Also weg damit.
Wäre ich eine gezeichnete Ente, würde ich sagen: Seufz. Ich müsste vielleicht weniger oder könnte leiser seufzen, würde diese Unwahrheit nicht seit Jahr und Tag landaus, landein von jedem Plappermaul als Wahrheit verkauft werden. Ich habe zwar das Album als solches hier schon einmal als die relevanteste und schönste aller musikalischen Darreichungsformen gepriesen, aber ich tue es gerne noch einmal, weil erstens das Netz das vergesslichste aller Medien ist, zweitens andere ja auch ständig dasselbe sagen (j’accuse, Tim Brenneur!), und drittens mir unlängst erst wieder bewusst geworden ist, wie recht ich habe. Es sollte bekannt sein, dass die Gründe, aus denen etwas entsteht, und die Gründe, aus denen es fortbesteht, nicht dieselben sein müssen. Das Album mag seine klassische Länge schnöden Kapazitätsproblemen verdanken. Dass es sich aber über Jahrzehnte bewährt hat, liegt daran, dass diese Länge durch einen glücklichen Zufall genau die richtige war und ist. Mit einem Album hat man was in der Hand, und das nicht nur im buchstäblichen Sinne, sondern vor allem im übertragenen. Mit einem Download-Album hat man musikalisch ebenso viel in der Hand wie mit einer Polyvinylchloridplatte. Klein-klein aus dem Analog/Digital-Grabenkrieg soll an dieser Stelle keine Rolle spielen, Musik ist Musik. Rund 10 Songs, mit denen man sich beschäftigen kann und muss. Das tut man auch, und zwar intensiv und gerne, denn 10+X neue Songs eines geschätzten Künstlers auf einmal zu bekommen ist ein Ereignis, für das man mal kurz mit Twittern aufhört. Anders verhält es sich mit einzeln veröffentlichten Songs. Da hört man mal rein und macht nach der Hälfte aus, wenn es nicht auf Anhieb als Meisterwerk erkennbar ist (was machen noch mal die Smashing Pumpkins heute?). Ähnlich bei Darreichungsformen des anderen Extrems. Wer hört sich schon CD-Boxen so intensiv an, wie sie es möglicherweise verdient hätten? Ich habe einen recht genauen Eindruck des ersten Drittels des letzten Dreier-Albums von Joanna Newsom, aber danach verschwimmt alles, und man weiß nicht, ob es Newsoms oder Neuenkirchens Schuld ist. Ich habe außerdem den vagen Verdacht, dass besagtes ein stärkeres Werk hätte werden können, hätte man mit Mut zum Mülleimer aus den hammermäßigsten Krachern der drei Mini-Alben ein einziges Album von moderater Länge gemacht. Aber das ist nur geraten, für eine fundierte Meinung müsste ich erst mal dazu kommen, mir die zweite und dritte Scheibe genauso aufmerksam anzuhören wie die erste.Wenn nun einer behauptet, wie das die Woche einer in einem Interview getan hat, das Album sei „keine Kunstform“, dann hat der unrecht. Selbstverständlich ist ein anständiges Album hohe Kunst in Inhalt und Form, denn es handelt sich nicht nur um eine Zweckgemeinschaft einzelner Songs, sondern um ein Gesamtwerk, dessen Summe blabla Einzelteile blabla, Sie wissen schon. Das gilt, Gott bewahre, keineswegs nur für ausgesprochene Konzeptalben. Wobei es auch mal an der Zeit wäre, die ständig unreflektiert nachgeplapperte Pauschalkritik an diesem Genre zu überprüfen, und es nicht immer nur an seinen schlimmsten Beispielen zu messen. Im Grunde ist jedes auf dem üblichen Wege entstandene Studioalbum ein Konzeptalbum, denn Auswahl und Reihenfolge der Songs folgt einem dramaturgischen Konzept. Die Songs stehen nicht nur für sich selbst, sondern auch in Beziehung zueinander, und sie repräsentieren die verantwortlichen Künstler in einer bestimmten Phase ihres Lebens und Schaffens. Deshalb sind Hit-Sammlungen und andere Kompilationen meist so unbefriedigend, es fehlt zum einen das dramaturgische Auf und Ab, vor allem aber das einende je ne sais quoi.
Das bisher beste Album des laufenden Jahres ist bekanntlich Ninth vom vielversprechenden Nachwuchstalent Peter Murphy. Es ist ein Paradebeispiel für ein gelungenes Album, weil es nicht nur voller guter Songs ist, sondern weil man das erst dadurch merkt, dass es ein Album ist. Da gibt es Lieder, die sofort gefallen, etwa die mopsfidelen Velocity Bird oder Memory Go. Dann die, die man im zweiten Durchgang mitnimmt, zum Beispiel die poetisch-spinnerten I Spit Roses oder Seesaw Sway. Diese Songs hätte man womöglich auch bemerkt und für gut befunden, wenn sie für sich irgendwo rumgeflogen wären. Aber dann gibt es auch so etwas wie das brummige Secret Silk Society, das das erste, zweite, dritte … Mal nach typischem Füllmaterial klingt, bis man seinem dunklen Sog erliegt. Als vorletztes Stück kommt es an genau der richtigen Stelle im Gesamtzusammenhang, man wird dem Sog wieder sanft entrissen vom Rausschmeißer Crème de la Crème, den ich zunächst für zu beschaulich gehalten hatte. Als Kontrast zum Vorgänger und als Abschluss des Albums ist er aber ganz wunderbar. Solche Lieder brauchen Zeit zum Gedeihen, und das geht nur, wenn sie in ein Album gepflanzt sind. Als itunes-Hörproben haben sie keine Chancen.
Selbst wenn man langweilig, also aus Sicht der Wirtschaft und des Marketings, an die Sache herangeht, ist das Album als solches unverzichtbar. Auch wenn es sich nicht mehr so gut verkauft wie zu Zeiten, als das Kino noch zwei Groschen gekostet hat, Fußball Männersache war und der Pfannkuchen wie Pfannkuchen schmeckte, so ist es doch als Aufhänger für mediale Öffentlichkeit und weitere musikalische Aktivitäten nicht zu ersetzen. Welches Leitmedium berichtet schon darüber, wenn jemand einen neuen Song ins Internet stellt? Bei einem ganzen Album sieht das anders aus. Gerne weisen Schallplattenindustrieerklärer darauf hin, dass der große Reibach heute auf der Bühne gemacht wird. Das ist schön, da gehört Musik hin. Aber eine Tournee ohne reichlich neues Material (Sie haben es erraten: Album!) hat etwas Trauriges, da verkommt ein Künstler schnell zur eigenen Cover-Band. In diesem Sinne: Man sieht sich beim Konzert am 23. 10.