Zu nachtschlafender Zeit steht man auf, isst eine Banane und eine Brötchensüßigkeit, die aus dem Goody Bag des International Friendship Run übrig geblieben ist, begibt sich zum Austragungsort und macht sich Sorgen.
Vor Ort bewundert man die traditionellen japanischen Marathon-Gewänder. Hat man seinen Startblock zeitig erreicht, kann man noch lange genug blöd in der Kälte rumstehen, um sich endlich mal das neue Leonard-Cohen-Album in der gebotenen Ruhe und Konzentration anzuhören und sich so dermaßen zu hydrieren, dass man spätestens nach 10 Kilometern die erste zeitstehlende Pinkelpause wird einlegen müssen. Fällt der Startschuss, wird nicht etwa losgerannt. Zumindest nicht, wenn man im vorletzten von 11 Blöcken startet. Im Stop-and-Go-Schneckentempo zuppelt man zunächst zum eigentlichen Start zwischen den städtischen Regierungsgebäuden Shinjukus, während die Uhr bereits unbarmherzig läuft und man all die minutiöse Kilometer/Zeit-Planung, die man sich extra auf einen Spickzettel geschrieben hat, über den Haufen werfen kann. Auf dem Weg würdigt man gefälligst alle Sehenswürdigkeiten, z. B. den alten Fernsehturm Tokyo Tower, das bis vor kurzem höchste Bauwerk der Stadt (ca. bei Laufkilometer 12). Auf der Prachtmeile Ginza (knapp nach halb) und überhaupt überall freut man sich darüber, dass man nicht alleine ist. Dass am Rande junge Damen mit Hasenaufsteckohren ihre Händchen zum High Five über die Absperrungen recken, und dass Jung und Alt immer ein „Ganbare!“ und „Faito!“ (japanisch aus dem Englischen: Kämpfe!) auf den Lippen haben. Gerne hört man auch, wenn überholende Läufer einen nett anlügen: „You’re looking good!“ Meine Urskepsis gegenüber sportlicher Betätigung hängt vor allem mit meinem Misstrauen gegen alles Rudelhafte und Gruppenmiefige zusammen. Deshalb ist mir das Laufen angenehm, das kann man alleine mit seinen Gedanken und seiner Musik machen. Pipifax um die 20 Kilometer werde ich auch weiterhin alleine laufen, aber ich muss zugeben: Marathon geht wahrscheinlich nicht ohne warme Worte und Hasenohren. Hat man Glück, jubeln einem nicht nur unbekannte Menschen ganz allgemein zu, sondern auch ganz spezifische Menschen ganz persönlich. Die machen dann womöglich auch ganz persönliche Fotos von einem. Hat man mehr Glück als ich, ist das nicht erst an einer Wegmarke, an der das Laufen schon mehr aussieht wie Gehen, obwohl es sich noch wie Laufen anfühlt. Kurz vor Kilometer 28 wird das wahrzeichenhafte Kaminarimon-Tor von Schaulustigen und Medienvertretern verstellt. Dafür kurz danach ein perfekter Blick auf modernere Wahrzeichen: Den neuen Fernsehturm Tokyo Sky Tree, das seit kurzem höchste Bauwerk der Stadt, und das Hauptquartier der Asahi-Brauerei mit der von Philippe Starck entworfenen Super Dry Hall die oben drauf eine leckere goldene Schaumkrone hat, und nicht was Sie denken. Gold stinkt nicht. In den späten 30er Kilometern geht es so langsam (sehr langsam) über ein zurecht berüchtigtes Auf-und-Ab zur Halbinsel Odaiba, erst vor nicht allzu langer Zeit in der Bucht von Tokio auf Müll errichtet und noch sauberer als der Rest der Stadt. Man hat dann keine rechte Lust mehr zum Fotografieren, bis das schönste Motiv der Strecke kommt. Hinter den Kulissen geht man gefühlt noch mal dieselbe Strecke. Man bekommt eine Banane vom Bananenmann, Wasser von der Wasserfrau, Medaille von der Medaillenperson, Handtuch vom Handtuchmenschen, Orange vom Orangenpersonal, Fruchtriegel vom Fruchtriegelbeauftragten und einiges mehr. Man holt sein Gepäck vom Gepäckwagen und stellt entgeistert fest, dass der Umkleideraum nur eine große Halle ist, in der man machen kann, was man möchte, aber hygienisch und privatsphärisch keine Hilfestellung zu erwarten hat. Selbstverständlich hatte ich alle meine Toilettenartikel und meine gesamte Abendgarderobe von Kopf bis Fuß zum Wechseln mitgebracht, denn ein Gentleman trägt keine Sportkleidung, wenn er nicht gerade einer unmittelbaren sportlichen Betätigung nachgeht (auch keine Sportschuhe, liebe Kinder und Berufskinder). Hätte ich schon mal an so einer Veranstaltung teilgenommen, hätte ich wahrscheinlich gewusst, dass da nicht für 36.000 Teilnehmer Duschen zur Verfügung gestellt werden, sondern gar keine. Es war trotzdem schön, wir mussten die Zugheimfahrt nur ein einziges Mal wegen Übelkeit unterbrechen. Ich hatte schon unterbrechungsreichere Heimfahrten nach weniger umfangreichen Trainingsläufen. Und abends bereits war ich wieder keck genug für eine alberne Pose, indisches Essen und das erste Bier ohne Reue seit Monaten. Nicht, dass es in den vergangenen Monaten kein Bier gegeben hätte, aber jedes war mit Reue gewesen. Trockene Themen wie Zeiten und Geschwindigkeiten wollen wir mal außen vorlassen, wir sind ja keine Buchhalter. Es genügt die Feststellung, dass ich trotz etlicher Verzögerungen, für die ich so gut wie nichts konnte, nie Gefahr auflief, die (zugegebenermaßen enorm großzügigen) Sperrzeiten zu überschreiten. Würde ich es noch mal machen? Ja, aber das nächste Mal nur in einem albernen Kostüm. Aber nageln Sie mich darauf nicht fest. Weder auf das eine, noch auf das andere.