Zwei Aspekte haben mich an vielen Nachrufen auf David Bowie sehr gestört. In nicht wenigen war die Behauptung zu lesen, mit ihm sei nun wirklich der Letzte der „ganz Großen“ gestorben. Gemeint war wohl der Letzte der ganz großen Rock- und Popstars, und damit gemeint war wohl der Letzte der ganz großen männlichen und weißen Rock- und Popstars. Ansonsten wären mir ganz spontan noch Prince und Madonna eingefallen, und weniger spontan wahrscheinlich noch weitere.
Nun bin ich inzwischen konservativ genug, um gelegentlich mit den Augen zu rollen, wenn reflexartig jeder Zeitungsmeldung Sexismus, Rassismus, Ageismus, Ableismus oder Shapismus angedichtet wird, so sie es auf 10 Zeilen nicht schafft, jeden Standpunkt der Welt zu berücksichtigen und jeden Menschen der Welt persönlich anzusprechen. (Sollte ich einen -ismus übersehen haben, entschuldige ich mich in aller Form, das hätte niemals passieren dürfen.) In diesem Fall fand ich die Ignoranz weiter Teile der Musik- und Tagespresse allerdings durchaus zum Ohrenschlackern, unter Umständen sogar zum Aufschreien. Nicht nur sexistisch und rassistisch, sondern auch noch stinkefaul und inkompetent, denn selbstverständlich haben auch etliche große weiße Männer Bowie überlebt. Irgendwo in einem Kornfeld steht Neil Young und sagt mit leisem, hellem Stimmchen: „Hallo?“ (Er meint natürlich: „Hallo? Und was ist mit Bob? Und Leonard? Und Bruce? Und so weiter?“) Der zweite Aspekt, der mich an vielen Nachrufen störte, war die respektlose Verfehlung des Themas. Vermutlich denkt man als ewigjugendlich-rebellischer Musikjournalist: „Ach, sich nur von Station zu Station in Werk und Leben des Verstorbenen zu hangeln ist langweilig und boring. Ich erzähle lieber von mir, mir, mir, und wie viel mir, mir, mir dieser … äh … Dingsbums bedeutet hat.“ Das gehört sich nicht. So viel Respekt sollte man vor Verstorbenen schon haben, dass man sich selbst für einen kurzen Augenblick zurücknimmt und vom Verstorbenen erzählt, und nicht von den Postern im eigenen Jugendzimmer. Gleichwohl werde ich es jetzt genau so machen, wenn ich einen vom Prince erzähle. Allerdings tue ich es in meinem eigenen kleinen, unbedeutenden Blog, und nicht im Hauptteil einer überregionalen Tageszeitung. Selig ist der, der den Unterschied kennt. Zum ersten Mal nahm ich mit dem Lied, vielleicht in erster Linie mit dem Video, 1999 Notiz von Prince. Das Lied gefiel mir sehr gut, die Keyboarderinnen gefielen mir viel besser. Wie sie angezogen waren, wie sie sich bewegten, und wie sie guckten. Wie sie Keyboard spielten, konnte ich nicht beurteilen. Das erste Prince-Album, das ich mir kaufte, war selbstverständlich Purple Rain. Den Film zum Album sah ich zusammen mit meinem Vater im Kino, was keine gute Idee war. Wir waren früher öfter zusammen ins Kino gegangen, Walt Disney und Bud Spencer, doch mit der Pubertät (meiner) schlief dieser Brauch erwartungsgemäß ein. Purple Rain war der unglückliche Versuch, daran etwas zu ändern. Sicherlich gibt es 80er-Jahre-Filme, die noch ungeeigneter sind, sie als unsicherer Teenager zusammen mit dem Vater anzuschauen. 9 ½ Wochen fällt mir spontan ein. Ansonsten allerdings nichts. Wir sind dann erst wieder zusammen ins Kino gegangen, als ich über 30 war (Herr der Ringe). Über Purple Rain haben wir nie richtig gesprochen. Erwischten wir gemeinsam Prince hin und wieder im Fernsehen, brummte mein Vater nur: „Den gibt’s immer noch?“ Mein liebstes Prince-Album war und ist Around the World in a Day. Weil ich mir mit ‘Condition of the Heart’ jeden jugendlichen Liebeskummer noch tiefer reinreiben konnte. Weil ‚Raspberry Beret‘ zu jeder Jahreszeit so frühlingshaft ist. Weil das Titelstück und ‚Paisley Park‘ so schön hippiemäßig sind, ohne ekelhaft hippiemäßig zu sein. Weil ich mir vorstellen konnte, das Geschlechtsverkehr irgendwie so wie ‚Temptation‘ sein muss. Und das Leben wie ‚Pop Life‘ und ‚The Ladder‘. Und Amerika wie ‚America‘. Nur zu ‚Tamborine‘ ist mir nichts eingefallen. Aber einen Aussetzer hat ja jede Platte. Zu dieser Zeit fragte mich ein Schulkamerad: „Hörst du eigentlich jeden Tag Musik von Prince?“ Ich sagte: „Ja klar hör ich jeden Tag Musik von Prince!“ Die Antwort war reiner Reflex gewesen. Ich rechnete schnell nach, und stellte fest: Puh, es kommt hin, ich höre wirklich jeden Tag Musik von Prince. Bis ich das nicht mehr tat. Graffiti Bridge von 1990 war das letzte Album meiner lückenlosen Prince-Phase. Ich verlor vorübergehend das Interesse, weil seine Musik wieder schwärzer wurde, und ich nicht. Wie viele rockorientierten weißen Männer wurde auch ich dann erst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter etwas funkier. Tatsächlich brach in den letzten Monaten so etwas wie meine zweite Prince-Phase an. Wegen Überseeumzug beschloss ich, meine Vinyl-Sentimentalität abzuwerfen und stattdessen eine CD-Sentimentalität zu kultivieren. Ich kaufte mir die Prince-Alben, die ich schon hatte, noch mal in kleiner und holte bei der Gelegenheit gleich einige der Alben nach, die ich ihrerzeit nicht mehr gekauft hatte. Die Genialität von Prince offenbart sich, genau wie die von Woody Allen, ja gerade in den schwächeren Werken. Die sind immer noch stärker als die starken Werke der meisten Mitbewerber. Überhaupt haben Prince und Woody Allen vieles gemeinsam. Neben dem geballten Sexappeal ist das vor allem das bewundernswerte Arbeitsethos. Ich glaube nicht, dass Prince wirklich ein Perfektionist war, wie ihm oft so gemein nachgesagt wird. Perfektionisten sind langweilige Erbsenzähler und Erbsenpoliere, die nie etwas gebacken bekommen, weil Perfektion eben unerreichbar ist, und wenn man das merkt, lässt man vor Schreck alle Erbsen fallen und fängt mit Zählen und Polieren wieder von vorne an. Prince derweil hat einiges gebacken bekommen, und langweilig war er ganz bestimmt nicht. In die Nachbemerkungen zu meinem gottlob noch nicht gedruckten Roman Shinigami Games hatte ich zuletzt diese leichtfertigen Worte geschrieben: Irgendwann zwischen dem Ende von ‚Yoyogi Park‘ und dem Anfang von ‚Roppongi Ripper‘ hatte ich aufgehört, beim Schreiben Musik zu hören. Zuerst aus Vergesslichkeit, dann aus Prinzip. Am Ende von ‚Shinigami Games‘ habe ich wieder zaghaft damit angefangen, so schnell kann das gehen. Fast ausschließlich Prince und David Bowie. Ich hoffe, das ist kein böses Omen für Prince. Ich glaube, es war kein böses Omen. So wichtig nehme ich mein Hörverhalten in so hoher Gesellschaft nicht. Deshalb möchte jetzt enden, muss aber eines noch loswerden: „Ja, Papa, den gibt’s immer noch.“