Ich möchte mir einmal mehr Luft machen, damit es mir hinterher besser geht. Wieder geht es um inflationär wie undurchdacht herausposaunte Formulierungen, die mich schon lange um den Verstand bringen. Und wenn schon nicht um den Verstand, dann doch an den Rand des Nervenzusammenbruchs. Und wenn selbst das nicht, dann gehen sie mir doch gehörig auf den Senkel. Das kann man so stehen lassen.
Es sind heute nur zwei, damit der Text nicht wieder so lang wird. Ich habe schließlich auch noch etwas anderes zu tun, nur falls sich jemand wundert. Die erste Formulierung ist ein Begriff, der immer dann ins Feld geführt wird, wenn ein Schriftsteller mit grauen Haaren und schrumpeligen Fingern es mal wieder geschafft hat, seinen Lebensumständen ein neues Buch abzutrotzen. Besonders wenn er es wagt, ein bisschen aus dem Hosenlatz heraus zu plaudern, kommt er: der Vorwurf der Alte-Herren-Fantasie. Dabei fällt mir stets der oft arg ungerechte und uneinsichtige, im Großen und Ganzen aber ganz wunderbare Marcel Reich-Ranicki ein. Nicht weil er viele Jahrzehnte so ein fantasievoller alter Herr gewesen wäre (an Fantasie gerade mangelte es ihm häufig, aber Schwamm drüber, das ist verjährt), sondern wegen Hitler. Konfrontiert mit dem merkwürdigen Lamento, Adolf Hitler würde in der erzählenden Kunst zunehmend „als Mensch“ dargestellt werden, konterte er (sinngemäß): „Als was soll man ihn denn sonst darstellen? Als Elefant?“ Ich möchte mir hier die Ranicki-Methode aneignen und zu den Büchern alter Herren sagen: „Was soll in denen denn sonst drinstehen? Kleine-Mädchen-Fantasien?“ Ich finde es gut, wenn alte Herren noch Fantasien haben, und es würde mich wundern, wenn das Junge-Männer-Fantasien oder Frauen-in-den-besten-Jahren-Fantasien wären. Hat halt jede Demografie ihre eigenen Fantasien. Ist eine weniger wert als die andere? Ist das Ageismus gepaart mit Sexismus? Wem die Fantasien alter Herren zuwider sind, der muss sie nicht lesen (wenn man der passive Typ ist) oder kann ihnen literarisch etwas entgegensetzen (wenn man der aktive Typ ist). Sie jedoch pauschal zu denunzieren ist plump (viel plumper als die besagten Fantasien selbst), unliterarisch, antiintellektuell, diskriminierend. Schlechtmenschen arbeiten so. Das andere Ding: die Sache mit dem intensiven Leben. Wahrlich nicht zum ersten Mal, gleichwohl unlängst schon wieder, las ich über einen früh verstorbenen Schriftsteller, er habe zumindest „intensiv gelebt“. Gemeint war, dass er gegenüber allerlei Rauscherfahrungen kaum Berührungsängste hatte. Ich behaupte: Das Leben passiert einfach so, solange man nicht gerade tot oder ungezeugt ist. Unterschiedliche Intensitäten gibt es dabei nicht. Die gibt es allenfalls bei bestimmten Tätigkeiten und Wahrnehmungen; hochrechnen auf das Leben an sich lassen sie sich nicht. In den Zoo gehen ist nicht per se weniger intensiv als zu Hause bleiben und schnackseln. Kommt drauf an, was man daraus macht und wie sehr man sich für Tiere interessiert (bezüglich Zoo). Kaffeetrinken muss kein geringeres Erlebnis sein, als sich LSD auf der Zunge zergehen zu lassen. Die weitgehend nüchtern gewonnenen Eindrücke im Café und auf der Straße davor können langfristig interessanter sein, und die Wahrscheinlichkeit, dass da wirklich gewesen ist, was man glaubt wahrgenommen zu haben, ist ungleich größer. Besagter Schriftsteller ist am Ende seines kurzen Lebens ertrunken. Ich könnte mich darauf einigen zu sagen, er sei „intensiv gestorben“. Wahrscheinlich intensiver als ein alter Herr, dem man auf der Pflegestation den Stecker rauszieht, weil man seine Fantasien nicht mehr erträgt. Könnte mir allerdings vorstellen, dass beide zuvor ungefähr gleich intensiv gelebt haben. Nur einer eben länger. Glück gehabt. Mir geht es jedenfalls schon wieder besser, vielen Dank.