Ich habe hier eine klassische Gute-Nachricht/schlechte-Nachricht-Konstellation:
Gute Nachricht: Ich laufe inzwischen wieder recht regelmäßig. Mein Arzt hat mich quasi herausgefordert. Er liegt mir doch recht häufig mit meinem Gewicht in den Ohren und will wissen, was ich dagegen tue. Ich sage dann immer: „Ich laufe jetzt wieder.“ Eine Zeit lang war das nur so dahingesagt; ein unverbindlicher, hinterlistig im Präsens formulierter Zukunftsplan. Er sagte dann immer so dahin: „Es ist sehr schwer, durch sportliche Aktivität Gewicht zu verlieren. Am besten ist es, die Ernährung umzustellen.“ Ich dann natürlich, innerlich: „Pustekuchen! Ich werde doch nicht auf meine zwei bis drei vermutlich käselosen Faserkäse-Riegel nach Mitternacht verzichten! Für irgendetwas muss es sich doch lohnen, zu leben!“ Und so fing ich tatsächlich wieder mit dem Laufen an, um meinem Arzt unter die Nase zu reiben, zum Wirken welcher Wunder der menschliche Körper im Stande ist, wenn ihm nur ein entschlossener Geist innewohnt. Schlechte Nachricht: Letzten Donnerstag bin ich dabei hingefallen. Nein, das klingt so negativ. Ich bin hingeflogen, nahezu buchstäblich, obwohl nicht allzu lang, denn wir Menschen können nicht fliegen, das ist keine Glaubensfrage. Während ich so mit beiden Füßen und dem Rest des Körpers in der Luft war, und sich meine Zeitwahrnehmung dehnte, als mir bewusst wurde, dass ich nicht auf den Fußsohlen aufkommen würde, klang Morrissey aus meinen Ohrstöpseln, aber im Kopf hatte ich R. Kelly. Ich dachte noch: Eine Gesellschaft fragwürdiger als die andere. Und dann schlug ich vollfrontal auf das harte Pflaster der Großstadt (na gut, eines beschaulichen Vororts, dennoch genauso hart), die Extremitäten von mir gestreckt wie in einer Cartoon-Version menschlichen Hinfallens. Ich hatte ein Unebenheit auf der Straße übersehen. Beziehungsweise eben nicht auf der Straße, sondern auf dem Fußweg, den ich normalerweise gar nicht benutze, wenn ich laufe. Nur in dieser dunklen Nacht hatte ich mir gedacht: Heute mal auf Nummer Sicher laufen. Fußwege sind ja hierzulande meist eh nur nett gemeinte, symbolische Streifchen am Straßenrand. Nur leider bei uns nicht. Da gibt es mitten auf der Straße einen begrünten, abgezäunten, zweispurigen, separat asphaltierten Fußweg. Allerdings, wie sich herausstellte, nicht allzu einheitlich asphaltiert. Es war nichts gebrochen, soweit ich das ohne meinen Arzt beurteilen konnte, aber nahezu der gesamte Körper ein einziger eiternder, blutender, aufgeschürfter blauer Fleck. Dennoch war ich von dem Wahrscheinlich-nichts-gebrochen-Aspekt so begeistert, dass ich im ersten Moment wie ein traumatisierter Irrer den Gedanken hatte, ich könnte nach einer kurzen Verschnaufpause einfach weiterlaufen. Ich konnte gerade mal so, tropfend und schmerzend, nach Hause humpeln. Glücklicherweise war ich zum Zeitpunkt des Unfalls noch nicht allzu weit gekommen. Der einzigen Passantin, die zu der späten Stunde, in der ich gewohnheitsmäßig erst Zeit für frivolen Schlendrian wie Sport habe, auf der Straße war, warf ich einen festen Blick zu, der sagen sollte: Keine Sorge, ich bin in Ordnung. Sie blickte etwas belustigt zurück. Das fand ich dann doch unangemessen. Sooo in Ordnung war ich ja nun offensichtlich auch wieder nicht. Daheim demonstrierte meine Frau ihre prophetischen Fähigkeiten, als sie sagte: „Morgen wird es mehr wehtun.“ Am nächsten Tag konnte ich fast alles machen: Sitzen, liegen, stehen, gehen. Nur die Übergänge zwischen diesen Tätigkeiten waren mit enormen Schmerzen verbunden und konnten somit nur in unwürdigem Zeitlupengewackel vollzogen werden. Am Frühstückstisch sagte ich meiner Tochter: „Für heute schreibe ich mich krank.“ „Wie?“, fragte sie zurück. „Ich bin ja erwachsen. Ich kann das einfach so machen.“ Offensichtlich fand sie ihre Frage nicht erschöpfend beantwortet. Doch sie ist nun neun Jahre alt, geht also mit weit ausholenden Schritten auf die Pubertät zu, und ist nur noch bedingt an väterlichen Erläuterungen interessiert. Das Gute an einem offiziellen Krankheitstag ist, dass man ohne schlechtes Gewissen Dinge ein weiteres Mal aufschieben kann, die man schon seit längerem aufschiebt. Saubermachen zum Beispiel (zu viel bücken involviert), oder endlich eine neue Bratpfanne kaufen (Bratpfannenladen zu weit weg). Der Kauf einer neuen Bratpfanne will ohnehin wohlüberlegt sein, den kann man nicht in ein oder zwei Monaten übers Knie brechen. Frauen verstehen das aber manchmal nicht. Das Beste allerdings an einem offiziellen Krankheitstag ist, dass man endlich mal zum Arbeiten kommt. Zum ersten Mal seit langem habe ich MIT SPASS das tägliche Seitensoll meiner beiden Hauptbuchprojekte geschafft und hatte darüber hinaus noch Zeit für einen sehr reellen Mittagsschlaf, eine besonders haarige X-Com-2-Mission mit Bestnote und ohne personelle Verluste und ein paar weitere zähe Minuten von Killers of the Flower Moon. Außerdem konnten wir endlich einmal wieder unseren Verbandskasten auffüllen, was wir zugegebenermaßen ein wenig haben schleifen lassen, seit das Kind sich für eine intellektuelle Laufbahn entschieden hat und sich nicht mehr ganz so häufig verletzt. Ich erlaubte mir sogar einen vorsichtigen Spaziergang zum Convenience Store für ein Mittagessen, von dem mein Arzt nichts wissen muss. Dabei kam ich an der Stelle vorbei, an der es passiert war. Ich war ein wenig enttäuscht, dass dort keine Blutflecken mehr zu sehen waren. Aber man kann nicht alles haben. Insgesamt betrachtet kein schlechter Tag. Mein Fazit: Alles richtig gemacht.