Eraserhead in Vegesack

Lange (und damit meine ich: relativ kurz) habe ich überlegt, ob ich überhaupt etwas über David Lynch schreiben sollte, jetzt, wo Sie wissen schon. Man schreibt bei diesen Anlässen ja letztendlich doch nur über sich selbst, und das scheint unangebracht und anmaßend im Schatten dieses viel größeren Geistes.

Doch dann zwitscherte mir im Morgengrauen ein kleines Vöglein von seinem Ast zu (es konnte, im Gegensatz zu vielen anderen Vögeln, meine Gedanken lesen): „Wovon solltest du denn sonst schreiben, wenn du über David Lynch schreibst? Zum abertausendsten Male analysieren, was das alles zu bedeuten hat? Seine Werk- und Lebensstationen runterbeten? Das kann die New York Times auch. Du bist doch wohl besser als das.“ (Der Vogel sprach in Anglizismen, er war schlecht synchronisiert.)

„Was?“, fragte ich, der ich nicht in jedem Morgengrauen mit Vögeln kommunizierte.

„Folge deinem Herzen. Wenn du gerne etwas über David Lynch und dich selbst schreiben möchtest – go crazy, auf gut Deutsch gesagt. Wem sollte das denn schaden?“

„Nein, ich meine kannst du das noch mal sagen, wo ich besser bin als die New York Times? Ich habe denen nämlich mal was geschickt, und die so: Nee, das ist irgendwie so ein 90er-Jahre-mäßiger Taz-Bremen-Stil …“

„nebah tmuärteg ud tssum saD“, behauptete der Vogel, begann auf seinem Zweig einen hypnotischen Tanz, und ich wusste, dass es nun an der Zeit war, mit dem Schreiben zu beginnen.

Erledigen wir die Formalitäten gleich vorweg: David Lynch war der wichtigste und einflussreichste in meiner Lebenszeit aktive Künstler. Es ist schwer vorstellbar, dass es so schnell einen anderen geben wird, der das Regelwerk von so ziemlich allem so allumfassend umformulieren, korrigieren und erweitern wird, wie er es getan hat. Darüber hinaus fand ich ihn auch richtig gut. Liebe und Bewunderung sind ja zweierlei, aber bei David Lynch war es mir einerlei, also beides. Allerdings nicht von Anfang an.

Meine früheste Erinnerung an David Lynch ist mein Eraserhead-T-Shirt. Ich kaufte es mir als Drei-Käse-Hoch im örtlichen Plattenladen, der schon früh die Zeichen der Zeit erkannt und auch Non-Platten-Produkte ins Programm genommen hatte (genützt hat es ihm auf lange Sicht trotzdem nichts). Es war das erste Mal, dass der milieustimmig mürrische Plattenverkäufer meinen Kauf anerkennend kommentierte, oder überhaupt das Wort an mich richtete. Oder mich überhaupt wahrnahm. Ich wusste nicht so ganz genau, welche Art von Musik Eraserhead spielten, aber das T-Shirt hatte mich schon lange in seinen Bann gezogen, wie es so monatelang ungekauft im Schaufenster hing. Es war einfach zu cool für Vegesack, ich musste es haben.

Es wird nicht viel später gewesen sein, dass der Film Eraserhead den Weg zu mir fand, per Zufall oder Schicksal. Ich hatte ein paar Videokassetten mit raubkopierten Horrorfilmen bei einem Raubkopierer bestellt, der in Liebhabermagazinen annonciert hatte. Es gehörte damals unter solchen Raubkopierern zum guten Ton, Gratis-Bonusfilme auf die Kassetten zu spielen, so noch Platz war, wegen der Customer Experience. Und so fand ich sozusagen auf der Rückseite meiner herrlich verwaschenen Kopie von Hellbound: Hellraiser II David Lynchs Langfilmdebüt. Ich staunte nicht schlecht: Das war die größte Portion gequirlten Bockmists, die ich jemals gesehen hatte, mein lieber Scholli! Das T-Shirt trug ich weiterhin, jetzt allerdings ironisch. So frech war die Jugend von damals.

Wenn uns David Lynch eines lehrt, dann dass nichts so ist, wie es scheint. Eraserhead kann ja gar nicht meine erste Begegnung mit seinem Werk gewesen sein. Hellraiser II kam schließlich lange nach Der Wüstenplanet heraus, und den hatte ich im Kino gesehen. Er hatte mir nur so lala gefallen, aber immerhin besser als das Buch, soweit ich das beurteilen konnte. In so ziemlich jedem meiner Lebensjahrzehnte habe ich mindestens einmal versucht, es zu Ende zu lesen. Beim letzten Versuch habe ich immerhin über die Hälfte geschafft. Vielleicht klappt es noch, bevor ich David Lynch die Astralhand schütteln und persönlich hauchen darf: „Sir, thank you for your service.“

Vermutlich hatte ich ebenso Blue Velvet bereits gesehen und für gut befunden, weil man das damals so gemacht hat (nach wie vor wünschte ich mir aber, Lynch hätte sich zur fraglichen Zeit für Die Rückkehr der Jedi-Ritter entschieden, wie man es ihm angeboten hatte). Meine aufrichtige Liebe erklärte ich erst anlässlich Twin Peaks und Wild at Heart. Ich kann nicht zählen, wie oft ich letzteren im Kino gesehen habe. Und niemand kann zählen, wie oft ich ihn danach auf Video gesehen habe. Es reicht auf jeden Fall. Irgendwann ist auch mal gut.

Soll ich jetzt noch erzählen, wie ich bei einer Twin-Peaks-Party in einer Diskothek bei einem Twin-Peaks-Nerd-Quiz ein „Who killed Laura Palmer?“-T-Shirt gewonnen habe? Damit die Geschichte richtig rund wird, quasi von T-Shirt zu T-Shirt? Nein, runde Geschichten sind so was von prä-Lynch.

„Ich kann immer noch nicht fassen, was du da über Eraserhead gesagt hast“, zwitschert das Vöglein von vorhin. „Gequirlter Bockmist? Echt jetzt?“

„Nein, nein!“, rufe ich. „Die Geschichte hat ja noch ein Nachspiel!“

Etliche Jahre später, auf meiner ersten oder zweiten Japanreise, vielleicht auch meiner dritten, kaufte ich bei Tower Records in Shibuya Eraserhead auf DVD. Ein bisschen aus Schalk, doch auch in der vagen Hoffnung, ich möge ihn mittlerweile mit anderen Augen sehen, nun, da ich ein bis zwei Käse höher war, vor allem intellektuell. Hat geklappt. Leider hatte ich das T-Shirt nicht mehr. Ich hatte es getragen und getragen, bis es den Weg alles Stofflichen gegangen war und mir selbst Freunde aus der Punkrock-Szene zuflüsterten, dass es vielleicht so langsam an der Zeit wäre, leise servus zu sagen. Doch im Herzen werde ich es weiterhin tragen. Das T-Shirt, und alles andere auch.

(„Silencio.“)