Satoshi Kons Franzen-Obama-Merkel-Erbsensuppe-Massaker

Manchmal, vor allem freitagnachts, überkommt es mich, und ich mache total abgefahrenen crazy stuff. Jetzt zum Beispiel ziehe ich mir voll den neuen Franzen rein, Alter. Ich tue dies in einer Weise, von der ich hoffe, dass Jonathan Franzen sie gutheißt, oder sie zumindest nicht als Affront und Herabwürdigung seiner Arbeit auffasst. Ich öffne vorher eine Flasche nicht ganz billigen Rotweins, lege eine von meinen beiden Klassik-CDs ein, und wenn ich beim Lesen auf eine amüsante Spitze stoße, halte ich die Finger vor den Mund und mache ein kleines Roger-Willemsen-Hühühü. Yeah, checkt das aus, Kids! Bücher rocken! (Ich hatte übrigens neulich 8 von 10 Punkten im Spiegel-Online-Jugendsprache-Test, hühühü).

Die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht: 2001 wurde Jonathan Franzen holterdipolter berühmt, weil er sein Buch Die Korrekturen nicht von Oprah Winfrey loben lassen wollte, und weil es tatsächlich so großartig war, wie alle und Oprah sagten. Seine Haltung brachte dem Autoren seltsamerweise nicht den Ruf eines aufrechten Künstlers ein, sondern den eines elitären Schnösels, und so kamen bald die Kläffer, die die unwahre Behauptung verbreiteten, Die Korrekturen sei in echt gar nicht gut. Wer sich gerne mit vermeintlichen Minderheitenmeinungen brüstet, variierte das Gerücht dahingehend, dass Die Korrekturen bloß überbewerteter Hype sei, Franzens gefloppter Erstling Die 27ste Stadt hingegen ein verkanntes Meisterwerk. Das wäre schön, würde es stimmen, ich habe selbst gerne Minderheitenmeinungen. Tatsache ist aber leider doch, dass Die 27ste Stadt eine einzige Plackerei und Die Korrekturen eine einziges Vergnügen ist.

Bei seinem Neuen, Freiheit, hatte Franzen wieder ungefragt prominente Hilfe bei der Publicity: Barack Obama wurde noch vor offiziellem Erscheinen des Schmökers von geschickt platzierten Paparazzi bei der Lektüre erwischt. Bei Präsident Obama muss ich immer an Kanzlerin Merkel denken, und in diesem Zusammenhang insbesondere an das, was der unsterbliche Christoph Schlingensief mehrfach und richtig über sie gesagt hat, nämlich dass sie völlig kulturlos sei. Sie watschelt zwar mitunter fröhlich in Bayreuth und Salzburg herum, verfügt aber merklich in keinster Weise über das Rüstzeug oder auch nur das Interesse, das zu verarbeiten, was sie dort sieht und hört. Und das stört mich ungemein, denn sie ist ja auch meine Kanzlerin. Ich habe sie nicht gewählt, das war der Bundestag, aber ich erkenne das Wahlergebnis an. Über ihre Politik kann man sich nicht großartig aufregen, die ist halt, wie Politik so ist: Mal so, mal so. Frisur, Fashion und Physiognomie auch schnurzpiepe, ich zitiere frei Max Goldt: Ich wünsche mir keine hübsche Kanzlerin, ich wünsche mir eine gute Kanzlerin. (Vielleicht war es auch nicht Max Goldt, und vielleicht ging es auch ganz anders. Hauptsache, die Aussage ist vernünftig.) Und ich wünsche mir eine Kanzlerin, die hin und wieder mit der Nase in einem Buch erwischt wird, vorzugsweise in einem literarischen, oder auf vergleichbare Weise ein Grundinteresse an Kunst und Kultur glaubhaft signalisiert. Faktisch ist sie schließlich mein Staatsoberhaupt, da hat man nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten. Man komme mir nicht mit dem Papperlapapp von Bundespräsident und Bundestagspräsident. Ich war gerade in Japan stationiert, als sich in Deutschland der letzte Bundespräsident abgeschafft hat. Da habe ich erst gemerkt, wie schwierig es selbst den interessiertesten Zuhörern zu verklickern ist, was ein Bundespräsident soll. Nichts, eigentlich. Auf seiner Abschiedsparty kann man eine interessante Interpretation eines Oldies durch eine Militärkapelle hören, aber ob das den ganzen Verwaltungsaufwand wert ist, weiß ich auch nicht. Kanzlerin und Außenminister hingegen geben nicht nur Musikwünsche ab. Sie vertreten mich im In- und Ausland, und damit fühle ich mich im Moment nicht ausreichend vertreten.

Ach, jetzt habe ich „Christoph Schlingensief“ gesagt, dabei wollte ich doch bis auf Weiteres darauf verzichten, gerade weil die Versuchung dieser Tage so groß ist. Versuchungen widerstehe ich normalerweise mit Genuss, das ist mein Phantomkatholizismus. Jeder, der Schlingensief einmal begegnet ist, erzählt nun gerne davon unter dem Vorwand des Gedenkens. Dabei geht es meist nicht um die Würdigung dieses feinen Mannes, sondern um die Pinselung des eigenen Bauches. Ich, ich, ich bin Schlingensief übrigens auch einmal begegnet. Sie wollen wissen, wie das war? Hm, ach so … Ich erzähle es Ihnen trotzdem. Gut war es, er hat Erbsensuppe gegessen. Ich nicht, ich hatte schon zu Hause gegessen.

Jetzt ist uns in dieser Woche auch noch Satoshi Kon entglitten, der beste Trickfilmregisseur der Welt, einer der kreativsten Filmemacher überhaupt, ganz unabhängig von der Wahl der Mittel. Wir saßen nie zusammen über einer Erbsensuppe. Umso bedauerlicher, dass wir es nun auch nicht mehr tun werden. Zumindest nicht in dieser Welt. Aber bis wir alle gemeinsam von der großen Erbsensuppe des Himmels kosten, erfreuen wir uns hier und jetzt an Satoshi Kons irdischem Werk, ab sofort vielleicht mit ein klein wenig Wehmut. Es ist quantitativ überschaubar, Kon starb niederschmetternd jung, aber qualitativ schier unfassbar. Und so sagen wir im Gedenken alle im Chor:

„Das ist mein Gehirn!“

„Und das ist mein Gehirn auf Anime!“

Boys! Boys! Boys!

Vor ein paar Jahren unternahm ich eine Bildungsreise durch die Biermuseen Japans. Wie es sich gehört, kaufte ich dabei in den Museumsandenkenläden mehrere Postkartensets mit nostalgischen Motiven aus der Bierplakatreklame. Auf den meisten Karten war ein Bier in einer Flasche oder einem Glas und ein Mensch abgebildet, mal ein Mann, mal eine Frau. Lebenserfahrung zeigt, dass Frauen und Bier immer eine gute Kombination sind, während Männer und Bier schnell langweilig wird. Zu Hause also wanderten die Karten mit Frau/Bier-Abbildungen an die Wand, die Männer-Postkarten in eine ‚Zeug-das-ich-später-mal-wegschmeiße‘-Schublade, in der noch Platz war. Ich nahm mir allerdings fest vor, die Männerpostkarten vielleicht einmal als Lesezeichen zu verwenden, damit sie sich nicht ganz so nutzlos vorkommen, wie sie sind.

Leider eignen sich Postkarten in Größe und Konsistenz selten als Lesezeichen. Man braucht schon ein Buch, das was aushält. Wie zum Beispiel Role Models, John Waters‘ jüngst erschienenes, längst überfälliges Newsupdate zum War on Taste. Zur Markierung meines Lesefortschritts wählte ich durch Zufall diese Postkarte:

Ein Motiv, das bei der ersten Begutachtung überhaupt nicht zu mir gesprochen hatte. Was sagt dieses Bild? Dicke Männer trinken gerne Bier. Was für ein Unsinn! Ich schaue auch Werbung, daher weiß ich, dass nur gut gebaute, charismatische Haudegen gerne Bier trinken. Männer wie du und ich.

Nun war es in letzter Zeit sehr heiß, da liest man nur in kurzen Schüben. Ständig ging die Karte rein und raus, und je öfter ich sie dabei betrachtete, desto mehr freundete ich mich mit ihr an. Eigentlich sieht der Typ doch ganz sympathisch aus. Zu viel Lippenstift hin oder her, sein Lächeln wirkt aufrichtig und einladend. Seine Frisur und sein Schnauzer mögen für sich etwas komisch aussehen, aber sie passen gut zur Gesamterscheinung. Und so dick ist er auch wieder nicht, genau betrachtet.

Das Bild kommuniziert freilich nicht nur, dass der gar-nicht-so-dicke Mann gerne Bier trinkt, sondern auch mit Erfolg Golf spielt, die schönste Sportart der Welt. Sturzlangweilig anzuschauen und modisch völlig inakzeptabel (wie allerdings jede Sportart außer Eiskunstlauf), in der Ausübung aber ein Fest für Körper, Geist und Seele. Zu dumm (und komplett unverständlich), dass ausschließlich Schwachköpfe Golf spielen, sonst wäre ich sofort dabei. Vielleicht könnte man die Gebühren und Ausrüstung teurer machen, damit nicht mehr jeder Hans und Franz auf den Platz kommt.

Der Mann auf der Postkarte ist bestimmt kein Schwachkopf, das spüre ich. Das schönste Detail des Bildes ist rechts unten: Da steht noch ein Bier auf dem Tisch. Es lädt ein, sich zu dem Mann zu setzen, und mit ihm auf seinen frisch gewonnenen Pokal anzustoßen. Eine Bierwerbung kann ein Freund sein, und diese ist mir einer geworden. Ich habe Mr. Waters‘ Buch längst ausgelesen und verwende ein Lesezeichen niemals für mehr als ein Buch (ein nervöser Tick), aber diese Postkarte ist mir dennoch zum ständigen Begleiter geworden. Sie liegt auf meinem heimischen Schreibtisch, wenn ich daheim bin. Gehe ich aufs Amt, packe ich die Karte so selbstverständlich ein wie das Butterbrot und lege sie auch dort auf meinen Schreibtisch.

All die Jahre wurde mir nachgesagt, in erster Linie von mir selbst, ich hätte eine Schwäche für japanische Frauen. Aber jetzt weiß ich, ich habe mir und der Welt nur etwas vorgemacht, eine Lüge gelebt, ein richtiges Leben im falschen versucht, was es bekanntlich nicht geben kann. Ich muss feststellen: Ich habe in Wirklichkeit eine Schwäche für japanische Männer. Zumindest für die aus der Bierwerbung.

Verblüffend ist die Erkenntnis nicht. Schließlich berichtete schon der neunundneunzigmalkluge Jeffrey Eugenides in seinem 2002er Saisonbestseller Middlesex davon, dass der Hang zu asiatischen Frauen beim Manne nur das Vorzeichen einer noch nicht diagnostizierten Homosexualität sei, weil diese Asiatinnen ja alle so knabenhafte Körper haben. Haben Sie das gewusst, liebe asiatische Ehefrauen? Erstens, Sie sehen gar nicht aus wie Frauen. Zweitens, Ihr Mann ist schwul. Ich hatte das vorher auch nicht gewusst. Ich hatte ja noch nicht mal gewusst, dass Knabenliebe und Homosexualität jetzt doch dasselbe ist. Ich hatte angenommen, die Theorie gälte als überholt, seit Menschen in weiten Teilen der Welt nicht mehr öffentlich verbrannt werden, wenn sie sagen, dass sich vielleicht die Erde um die Sonne dreht. Aber ich muss mich geirrt haben, Dr. Eugenides wird es schon wissen. Keine Ahnung, ob er einen Doktortitel hat, aber bestimmt, soviel wie er weiß.

Ich jedenfalls habe sofort gesucht, ob ich noch mehr der einst verschmähten Männerpostkarten wiederfinde. Leider fand ich nur eine, die hier:

Auch eine sympathische Type, ein Lebemann, der weiß, was das Leben lebenswert macht.

Aber wo schaut der denn da hin?!

Andererseits, ich kann ihn verstehen, wenn ich sie mir so ansehe, mit ihren knabenhaften Körpern und rauen, männlichen Posen …

Aber nein, ich darf mich da nicht reinsteigern. Das wäre ein Rückschritt in meiner menschlichen und männlichen Entwicklung. Ich war doch schon weiter. Ich bin so verwirrt, weiß nicht mehr, wo ich hingehöre. Schuld ist die Werbung. Und Jeffrey Eugenides. Und Ayako Imoto.

Knack und Baku

Seit Jahren fragt man mich entgeistert: „Wie können Sie nachts überhaupt noch schlafen?!“ Man ist besorgt um mich, weil ich nicht von den Gruselfilmen lassen mag. Meine Antwort war lange Zeit jugendlich unbekümmert: „Och, ich baller mir einfach jeden Abend sowas von die Birne zu, dass ich eh nichts mehr mitkrieg.“

Jetzt sind aber Alkoholkranke nur solange total süß, wie sie klein sind. Da hauen sie mit lässig fahrigen Gesten, sexy Nuscheln, keckem Grinsen und funkelnden Augen ein Bonmot nach dem anderen raus, vor allem in ihrer eigenen Vorstellung, und es ist drollig, ihnen dabei zuzusehen. Wenn sie aber groß werden, haben sie nur noch schlechte Haut und fahlen Blick, man wendet sich lieber ab. Von Jennifer Jason Leigh als Dorothy Parker zu dem einsamen Typen mit der Knollennase, den man hin und wieder an der Tanke trifft, ist es ein sehr kurzer Weg.

Wie gut, dass ich nicht mehr so viel trinken muss, ich habe ja jetzt Baku (Abbildung oben). Nur eines aus Stoff, aber es wirkt. Ich bekam es neulich in Tokio von einer guten Seele anlässlich eines vorläufigen Abschieds geschenkt. Es handelt sich beim Baku um ein mythisches Wesen der chinesischen und japanischen Folklore, das böse Träume frisst. Es wird oft in der Form eines Tapirs dargestellt. So eins hab ich. Was ein Tapir frisst, weiß ich nicht. Steht aber bestimmt auf Wikipedia.

Das Baku ist mein neues Krafttier, seit mein Wellensittich den Löffel abgegeben und ins Gras gebissen hat. Es wohnt tief in meiner inneren Höhle. Wenn es dort zu dunkel wird, geht das große Fressen los, und ich kann wieder was sehen.

Auch eine Lösung: Einfach nur Filme schauen, von denen man böse Träume gar nicht erst bekommt, sondern nur wunderschöne. Die Filme des Regisseurs Satoshi Miki sind da eine sichere Bank. Gerade reinbekommen: Instant Swamp.

Läuft schon länger in meiner Höhle, aber das ist ja keine Schande: Turtles Are Surprisingly Fast Swimmers. Wer diesen Film schaut, muss sich leider drauf einstellen, dass er lebenslänglich nicht mehr um eine Ecke oder in einen Schrank schauen kann, ohne „Hwä Hwä Hwä Hwä Hwäää“ zu machen. Das geht nicht wieder weg. Ist es aber wert.

Ich leg mich wieder hin.

Japanischer Stehsatz (2): Reise nach Shimotsuma

Habe ich jemals erwähnt, dass mir der Film Kamikaze Girls einigermaßen gut gefällt? Könnte sein, vereinzelt wirft man mir vor, ich kenne gar kein anderes Thema. Stimmt auch, heute ganz sicher nicht. Denn heute erfülle ich mir den großen Traum jedes kleinen Kamikaze-Mädchens: Ich fahre nach Shimotsuma. [Gemeint ist freilich nicht das konkrete Heute, sondern das poetische Heute.]

Sie wissen: Der Film (und der zugrunde liegende Roman und der abgeleitete Comic) heißt im Original Shimotsuma Monogatari, also in etwa ‚Shimotsuma-Geschichte‘, denn in Shimotsuma spielt sich das Meiste ab. Ich bin ein wenig verunsichert, weil es offenbar keinen großen Shimotsuma-Monogatari-Tourismus gibt. Googlet man Shimotsuma bekommt man hauptsächlich Informationen zum Film und vereinzelt zum Ort (Hauptsehenswürdigkeit: McDonald’s-Restaurant mit Wi-Fi). Ich weiß, dass ich nicht der einzige Liebhaber des Films bin, schon gar nicht der einzige westliche, aber ich finde bei zumindest oberflächlicher Recherche keinen aufgeregten Blogger, der schriebe: „Ich war da! It was magic!“ Heißt das, ich muss eine Flagge an einem spitzen Stock mitnehmen und bei der Erdung „Erster!“ rufen? Sowas habe ich gar nicht.

Selbst in Japan ist Shimotsuma kaum bekannt. Erwähne ich gegenüber Tokioter Freunden, dass Shimotsuma Monogatari mein Lieblingsfilm ist, sind sie besorgt, welches Bild Deutschland von Japan hat, wenn solche Filme es hinüber schaffen. Erwähne ich weiter, dass ich vorhabe Shimotsuma zu bereisen, wundern sie sich, dass dieser Ort wirklich existiert.

Tut er aber. Hat schätzungsweise 40.000 Einwohner (Quellen widersprechen einander) und liegt in der Präfektur Ibaraki. Im Film Kamikaze Girls gibt Protagonistin Momoko in einem Off-Monolog eine akkurate Beschreibung, wie man von Shimotsuma mit dem Zug nach Tokio kommt, wo sie gerne einkauft. Man müsste das also nur umgekehrt nachmachen und käme wahrscheinlich von Tokio in Shimotsuma an. Allerdings sind seit dem Film ein paar Jahre vergangen, und das japanische Schienennetz wird unentwegt überarbeitet, weshalb es inzwischen auch anders geht. Außerdem starten wir unsere Reise nicht in der Tokioter Daikanyama-Nachbarschaft, die Momokos Ziel ist. Dort gibt es heute nur Straßencafés mit gegelten Notebook-Posern und die überschätztesten Clubs der Stadt, da haben wir nichts verloren. Unsere Reise beginnt im schönen Sangenjaya, und sie geht so:

Erst nimmt man die Den-en-toshi-Linie bis Shibuya. Man könnte auch laufen. Aber Laufen in diesem Outfit? Ich bitte Sie, das ist doch wohl nicht möglich. In Shibuya bleibt man einfach sitzen, denn hier verwandelt sich die Den-en-toshi-Eisenbahnlinie automatisch in die Hanzomon-U-Bahn-Linie, die man bis Omotesandō nimmt, es ist gleich die nächste Station. Dort steigt man um in die Chiyoda-Linie. Es dauert 29 Minuten bis Kita-Senju. Hier steigt man in den modernen Tsukuba-Express, der 21 Minuten bis Moriya braucht, einer Partnerstadt von Greeley, Colorado und Mainburg, Germany. Jetzt ist man schon eindeutig in Ibaraki, und es gibt erste Spuren von Shimotsuma.

Im simplen aber sympathischen Futterhof des Bahnhofs Moriya isst man vorsichtshalber eine Nudelsuppe und trinkt ein Bier, weil man nicht weiß, was einen kulinarisch und überhaupt in Shimotsuma erwartet. Gut gestärkt steigt man in die Joso-Linie, die einen in 42 Minuten nach Shimotsuma bringt. Man fährt mit ihr immer tiefer in das sagenumwobene Land, in dem es keine Ausländer gibt. Commodore Perrys Schwarze Schiffe kamen nur bis Yokohama.

Und dann ist man auch schon da. Der wiedererkennbare Bahnhof bestätigt sofort, dass der Film vor Ort gedreht wurde. Viele Szenen spielen am und im Bahnhof mit seinen zwei Gleisen und einem Häuschen. Zu spät fällt mir ein, dass eigentlich der ganze Film davon handelt, dass man aus Shimotsuma unbedingt weg will, wenn man einigermaßen fit in der Birne ist. Und ich wollte da unbedingt hin? Vielleicht nicht richtig nachgedacht.

Der Bahnhof macht in der Totalen nicht viel her, aber die Details machen mich glücklich. Dieser Fernseher im Wartebereich wird von Regisseur Tetsuya Nakashima im Film immer wieder verwendet für angeberische Überleitungen und ironische Kommentierung der Handlung:

Jetzt läuft da allerdings nichts.

Hier sitzt Momoko mehr als einmal:

Hat mich jemand beim Fotografieren beobachtet, denkt der bestimmt: „Wie rührend! Dieser alte Mann hat noch nie in seinem Leben Plastikstühle gesehen.“ Ist aber unwahrscheinlich, dass mich jemand beobachtet hat. Überhaupt werde ich in Shimotsumas Straßen weitaus seltener schräg gemustert als anderswo in Japan. Dafür müsste erstmal jemand auf den Straßen unterwegs sein. Würde vielleicht helfen, wenn zumindest ein einziges Geschäft geöffnet hätte. Gut, dass ich vorher gegessen habe.

Statt geöffneter Geschäfte gibt es Kohlköpfe. Im Film ein wiederkehrendes Motiv als Symbol für Land und Leute.

Viele Szenen in Kamikaze Girls spielen an Bahnübergängen wie diesem (Beispielabbildung):

Apropos Bahnübergang: Zielstrebig habe ich mich vom Bahnhof in den unattraktiveren Teil des Ortes aufgemacht. In der anderen Richtung haben durchaus ein paar Geschäfte geöffnet. Allerdings nicht dieser Pachinko-Salon.

Es könnte der sein, in dem die Mädchen im Film spielen. Sieht inzwischen aus, als hätte da schon länger niemand mehr gespielt.

In der örtlichen Filiale der Gebrauchtmedienhandelskette Book-Off möchte ich mir gerne die japanische DVD von Shimotsuma Monogatari als Andenken kaufen. Haben sie aber nicht! Stattdessen gibt es – ungelogen – Spinnweben vor dem Regal mit den japanischen Filmen. Keine Halloween-Deko-Spinnweben, sondern Real-Deal-Vernachlässigungsspinnweben.

Ich habe Momoko von vornherein gut verstanden, aber ich verstehe sie jetzt sogar besser.

Ich bin ohne Flachs mittelschwer schockiert, dass man hier touristisch rein gar kein Kapital aus dem Kultstatus von Buch und Film schlägt. Gut, es handelt sich unterm Strich um Shimotsuma-Schmähwerke, aber das sollte man mit Humor nehmen, wenn man daran verdienen kann. Es müssen nicht gleich goldene Statuen von Momoko und Ichigo sein, aber Pappfiguren für Photo-Ops auf den Plastikstühlen im Bahnhofsgebäude sollten ja wohl drin sein.

Das Waldrestaurant und die Jusco-Filiale habe ich leider nicht gefunden. Aber ich habe auch nicht lange gesucht, denn ich wollte nicht riskieren, Züge und Anschlusszüge zu verpassen. Ich zähle auf Ihr Verständnis.

Aus gegebenem Anlass: Trailer Kamikaze Girls (Wiederholung)

Japanischer Stehsatz (1): Desfes31 feat. Mitsume Temo

Hatte ich ganz verschwitzt: Unmittelbar bevor ich neulich nach Taipeh ausflog, war ich ja noch in Tokio auf der Design-Festa, ist mir aber erst in Bremen wieder eingefallen, deshalb schreibe ich darüber in München. Sie können folgen? Ich komme ganz schön rum. Mein Leben möchte ich mal haben, wenn ich das so lese.

Die Design-Festa findet zweimal im Jahr im Messe- und Veranstaltungszentrum Tokyo Big Sight auf Odaiba statt. Ziel der Kunstmesse ist es der Welt zu versichern, dass junge japanische Kunst nachwievor zu 99% aus Kulleraugen oder Totenschädeln oder einer Kombination aus beidem besteht. Über 7.000 Künstler waren dazu auch diesmal wieder angereist und haben die Botschaft 1A kommuniziert. Die Welt kann sich weiterdrehen, es bleibt alles beim Alten, kowai und kawaii gehen Hand in Hand, und sonst geht gar nichts.

Kann man vernünftig über eine Veranstaltung mit über 7.000 Spinnern berichten? Bestimmt, aber ich spinne doch nicht. Das würde in Arbeit ausarten, und davon halte ich nichts. Lieber greife ich mir nach dem Zufallsprinzip ein Objekt raus und stelle es stellvertretend für die ganze Veranstaltung vor.

Und die glücklich strahlende Gewinnerin ist: Mitsume Temo.

Es handelt sich um eine süße neue Figur von Akanuma Kishira (nicht vor Ort) und dem italienischen Grafikdesigner Takis Proietti Rocchi (nicht im Bild, wozu auch). Auf der Messe dargestellt wird Mitsume Temo von Model Hina (im Bild, aus gutem Grund). Mitsume Temo hat es sich zur Aufgabe gemacht, die jugendliche Niedlichkeitskultur gegen Angriffe aus dem Ernst des Erwachsenenlebens zu verteidigen. Auf der offiziellen Website steht es bestimmt noch ausführlicher. Bitte lesen Sie dort, ich bin doch nicht im Informationsdienstleistungsgewerbe. Mich interessiert nur, dass ich ein Foto von einer jungen Frau mit rosa Perücke habe.

Jeder, der auf der Desfes oberflächliches Interesse an Frl. Temo bzw. Frl. Hina signalisierte, bekam eine 30-teilige Mitsume-Temo-Pappfigur zum Ausschneiden und Zusammenbasteln aufgeschwatzt, die man auch nicht wie aus Versehen am Stand liegen lassen durfte.

Darauf freue ich mich jetzt schon. Aber ich werde mich erst später daran versuchen und das Foto nachreichen, wenn Sie nichts dagegen haben (macht er ja doch nicht).

Und jetzt schnell weg von der Design-Festa. Sonst müssten wir uns noch damit auseinandersetzen, was diese junge Dame da macht:

Aber das überlasse ich der Fantasie. Ihrer. Ich habe dazu keine Meinung.

Kurz: Kokuhaku

Interessiert sich hier jemand für Tetsuya Nakashima? Ja, ich. Besser und knapper hätte es Japan kaum hinbekommen können, als den neuen Film meines Lieblingsregisseurs (u. a. Kamikaze Girls und Memories of Matsuko) genau eine Woche vor meiner vorläufigen Abreise noch schnell in die Kinos zu bringen. Gerne würde ich mit Kloß im Hals von einem Geschenk sprechen, aber freilich musste ich Eintritt bezahlen.

Kokuhaku (告白) heißt der neueste Streich, international wird wohl Confessions draus, was auch hinkommt. Takako Matsu spielt eine Lehrerin, die zwei ihrer Schüler verdächtigt, für den Tod ihrer Tochter verantwortlich zu sein. Als sie ihrer Klasse mitteilt, dass sie den Schuldienst quittiert, gesteht sie ihnen auch gleich, dass sie ihre Tochter rächen wird und ihr Racheplan bereits im vollen Gange ist. Sie ist nicht die einzige im Raum, die etwas zu gestehen hat. Und nicht die einzige mit mörderischen Plänen. Mehr sollte man nicht verraten, um die vielen überraschenden Wendungen nicht auszuplaudern, und um wirkungsvoll zu kaschieren, dass man rein sprachlich nicht alles verstanden hat.

Viel wird darüber schwadroniert, dass Nakashima mit diesem Film endlich erwachsen würde, als wenn er das nötig hätte. Keine Anime-Sequenzen und Tanzeinlagen, kein Genrewechsel alle fünf Minuten, keine grellen Farben und schnellen Schnitte, dafür Story, Story, Story. Ich aber sage euch: Kokuhaku ist ein waschechter Nakashima, nur anders als die anderen. Und eine Tanzeinlage gibt es wohl. Handlungsstark waren alle bisherigen Filme des Regisseurs. Wer das nicht erkennt, hat vermutlich Schwierigkeiten, sich auf gewisse Geschichten einzulassen. Was Nakashimas Filme überdies eint ist die Tatsache, dass sie alle optisch 1A, aber ebenso alle optisch unterschiedlich sind. Die Geschichte diktiert, wie sie bebildert werden will. Kamikaze Girls mit seinen überzeichneten aber liebenswerten Figuren muss als knallbunter Comic-Film daherkommen. Memories of Matsuko erzählt ein ganzes Leben in nur etwas über zwei Stunden, deshalb muss sich das Genre und damit die Bildsprache ständig ändern, denn das echte Leben hat im Idealfall mehr als nur ein einziges Genre. Melodram, Komödie, Porno, Horror – alles drin. Der Kinderfilm Paco and the Magical Book wäre viel zu traurig, wenn er nicht fröhlich inszeniert wäre. Und Kokuhaku kann nicht anders als dem schweren Schicksal seiner Figuren mit ruhigen Bildern und gemäßigtem Tempo den nötigen Respekt zu zollen. Ruhige Bilder heißt selbstverständlich nicht, dass der Film weniger sorgfältig gestaltet wäre als seine Vorgänger. Waren frühere Nakashimas wie Videoclips, ist der neue wie ein Gemälde. Beides legitime Kunstformen übrigens, die eine ist im Jahre 2010 nicht weniger erwachsen als die andere. Alles in Kokuhaku ist an seinem Platz. Man sollte nicht glauben, dass irgendein Spiegelbild Zufall ist, oder dass irgendein Regentropfen nicht genau dahin fällt, wo der Meister gesagt hat. Ebenfalls typisch: Konstante, eklektizistische Musikbegleitung zwischen J-Pop, Radiohead, Klassik und Avantgarde. Mal musicalmäßig weit vorne, oft so subtil, dass nur anspruchsvolle Ohren sie bewusst wahrnehmen.

Die Geschichte wirft vieles in ihren Topf. HIV! Häusliche Gewalt! Amoklauf! Mobbing! Liebe! Tod! Trauer! Undsoweiter! Die Verknüpfungen sind dabei häufig überraschend, manchmal auch etwas arg konstruiert. Aber einem Kunstwerk Konstruktion vorzuwerfen scheint mir falsch. Kokuhaku ist, bei allen Unterschieden, wie alle Filme des Regisseurs ein in erster Linie emotionales, dann erst intellektuelles Kunstwerk. Soll heißen: Zielt aufs Herz, aber der Kopf muss nicht draußen bleiben. Es ist definitiv unter allen Nakashima-Filmen der, der nach dem ersten Sehen am längsten nachwirkt. Eigentlich ist es zu früh, jetzt schon etwas drüber zu schreiben. Aber so ist das Internet. In erster Linie wollte ich ja auch nur damit angeben, dass ich den Film schon gesehen habe, und Sie nicht. Wahrscheinlich ist davon keiner außer mir selbst beeindruckt. Aber das muss reichen.

TETSUO III: KRACHMACHER

Eigentlich wollte ich nichts über TETSUO THE BULLET MAN schreiben, weil sich spontan gar keine Meinung einstellen wollte. Aber als nach ein paar Stunden mein Gehör zurückkehrte, fingen langsam auch die anderen Sachen in meinem Kopf wieder an zu funktionieren.

Normalerweise bin ich dagegen, Filmtitel u. ä. durchgehend in Versalien zu schreiben, aber bei TETSUO THE BULLET MAN sehe ich keine andere Möglichkeit. Ich kann mich gerade noch beherrschen, nicht drei Ausrufezeichen anzuhängen. Einer Tokioter Stadtillustrierten erzählte der Hauptdarsteller Eric Bossick stolz, bei der Vorführung des Films auf dem Tribeca-Filmfestival in New York wären zum ersten Mal in der Festivalgeschichte die Lautsprecher durchgeknallt. Der Filmvorführer in Shibuyas renommiertem Cinema Rise, wo ich zuhören durfte, wollte wohl ausprobieren, ob er das auch hinbekommt, und ich würde sagen, viel hat nicht gefehlt. Möglicherweise wurde vom Verleih verfügt, dass immer alle Zeiger im roten Bereich sein müssen, sonst macht es keinen Spaß.

Für alle, die nur Avatar kennen: TETSUO THE BULLET MAN ist der dritte Teil der Tetsuo-Reihe von Regisseur bzw. Multikünstler Shinya Tsukamoto. Die Filme setzen einander nicht direkt fort, sondern variieren jedesmal dieselbe Prämisse eines Mannes, der sich in eine Maschine verwandelt und Unheil anrichtet, nachdem ihm selbst Unheil widerfahren ist. Erzählerische Stringenz ist dabei weniger wichtig als provokante Ästhetik und ungewöhnliches Sounddesign. Der erste Film der Reihe, Tetsuo, ist mir flauschige Nostalgie, weil es der erste Film war, den ich bewusst als japanischen Film wahrnahm. Ich hatte bestimmt schon andere mit Riesenmonstern und Schwertkämpfern gesehen, aber das war in einem Alter gewesen, als man sich noch nicht drum scherte, wo die Filme herkamen. Tetsuo begeisterte mich und andere wie mich und überzeugte uns noch vor der bevorstehenden Manga- und Anime-Invasion davon, dass diese Japaner ja alle verrückt sein müssen. Wir waren jung. Heute weiß ich freilich, dass nicht nur nicht alle Japaner Filme wie Tetsuo machen, sondern die meisten Japaner diese Filme noch nicht mal kennen. Und sich am Kopf kratzen, wenn sie mit ihnen konfrontiert werden.

Den zweiten Film, Tetsuo II: Body Hammer, mochte ich nicht sonderlich. Schon die Tatsache, dass er in Farbe war, empfand ich als hollywoodmäßigen Ausverkauf. Wir waren jung. Dennoch wartete ich hibbelig auf den angekündigten Flying Tetsuo. Ein fliegender Tetsuo?! Kann man sich sowas vorstellen?! Kann man, aber der Film kam nie.

Es brauchte 17 Jahre, bis Shinya Tsukamoto sich an einen neuen Tetsuo-Film machte. Weil Tsukamoto besonders im Ausland einen Oh-diese-verrückten-Japaner-Kultstatus hat, wurde TETSUO THE BULLET MAN gleich zu 99,9% in Englisch gedreht, und den Rest der Tonspur durften Nine Inch Nails vollballern. Ob man mit dieser Verwestlichung einverstanden ist oder nicht: In 17 Jahren können Erwartungshaltungen ganz schön monströse Ausmaße annehmen. Zumal Tsukamoto zwischenzeitlich dies- und jenseits des Mainstreams bewiesen hat, dass er mehr als ein One-Hit-Wonder oder One-Trick-Pony ist (bitte schauen Sie Gemini – Tödlicher Zwilling, macht sonst niemand).

Einer der schlimmsten Füll- und Übergangssätze aus dem Baukasten der ungelernten Hobby-Filmkritik lautet: Die Geschichte ist schnell erzählt. Und wenn schon! Ob eine Geschichte schnell erzählt ist oder nicht, sagt rein gar nichts über ihren Gehalt aus. Meistens noch nicht mal über ihre Handlung, allenfalls über ihren Nacherzähler. Wer auf jeden Teenie einzeln eingeht, kann aus der Geschichte von Freitag, der 13. Teil 4 – Das letzte Kapitel einen mehrseitigen Schulaufsatz zaubern. Wer gehässig sein will oder nicht viel Platz hat, kann Robert Altmans Short Cuts in einem Satz zusammenfassen, es ist lediglich ein Minimum an Analysefähigkeit und schreiberischen Geschick vonnöten.

Das Problem von TETSUO THE BULLET MAN ist nicht, dass die Geschichte in groben Zügen schnell erzählt ist: Mann verwandelt sich zu seiner eigenen Überraschung in einen Kampfroboter und rächt den Tod seines Sohnes. Das Problem ist, dass die Geschichte nicht nur grobe Züge hat, sondern zwischen der kreischenden und donnernden Mensch-Maschine-Körperhorror-Action auch noch erzählen will, wie es dazu kommen konnte, und wie die Familie jetzt damit umgeht. Das menschliche Drama wird getragen (bzw. eben nicht) von Fließband-Dialogen, die oft fremdpeinlich sind. Und glaubwürdiger wird die Story mit Sicherheit nicht dadurch, dass der Maschinenmensch durch vergilbte Dokumente mit sepiafarbenen Fotos und altmodisch geschwungener Handschrift fummelt, aus denen er erfährt, dass seine Eltern schon lange an Maschinenmenschen arbeiteten. Wenn wir davon ausgehen, dass der Film in unserer Gegenwart spielt, und der Protagonist so alt ist wie sein Darsteller (Mitte 30), dann kommen diese Aufzeichnungen ungefähr aus den 1970ern? Vordigitales Zeitalter sicherlich, aber hatte man noch keine Farbfotos und Schreibmaschinen? Ich erinnere mich nicht mehr genau.

Darüber kann man aber direkt hinwegsehen, wenn man davon ausgeht, dass sich der ganze Tetsuo-Wahnsinn in einer Realität außerhalb der Realität abspielt. TETSUO THE BULLET MAN ist durchgehend im typischen Tetsuo-Stil inszeniert, also hektische Kamera, schnelle und assoziative Schnitte, Old-School-Spezialeffekte, und alles im Takt des Industrial-Beats. TETSUO THE BULLET MAN ist zwar in Farbe gedreht, aber die Farbe wurde dermaßen zurückgedreht, dass sie nur selten, dann aber effektiv, auffällt. Dass audiovisuelle Donnern macht jedem Spaß, der schon mal Spaß an einem Tetsuo-Film hatte. Die schwache Story macht nichts. Es sind die Dialoge, über die man trotz allem schlecht hinweghören kann. Der Film ist nachahmenswerte 79 Minuten kurz. 69 oder noch ein bisschen weniger hätten es womöglich auch getan, Kürze ist keine Sünde. Dies ist die Art von Film, wo ich ganz Mann bin: Das ganze Gequatsche raus, Hauptsache der Typ wird Kampfroboter und macht Kampfrobotersachen.

Und jetzt bitte Flying Tetsuo. Meinetwegen mit Musik von Einstürzende Neubauten oder Napalm Death oder beiden, aber bitte ohne Worte oder wie dieser Weiberkram heißt.

Hatoyama muss im Hemd bleiben!

In der Post-Koizumi-Ära ist es Tradition, dass sich ein japanischer Premierminister keinesfalls länger als ein Jahr im Amt breit macht. Jetzt hat auch Yukio Hatoyama seinen Rücktritt angekündigt, er ist schließlich schon seit letztem September dabei. Das war ein großes Hallo damals, als seine DPJ die seit gut 50 Jahren durchregierende LDP ablöste. Aber in letzter Zeit sind Hatoyamas Umfragewerte in kaum noch messbare Bereiche abgesunken, weil er in einem halben Jahr nicht alle Missstände aus 50 Jahren LDP-Regierung beseitigen konnte, und weil es ihm nicht gelungen war, alleine die Amerikaner aus Okinawa zu vertreiben.

Ich habe Hatoyama immer gemocht. Er war bescheiden und manierlich, um nicht zu sagen liebenswert schüchtern, seine Frau ist mal mit Tom Cruise im UFO geflogen oder so (fragen Sie sie selbst), und er hatte seine ganz eigene Vorstellung von Modebewusstsein. Viele seiner Hemden sind legendär, eines wurde erst jüngst als Replikat in limitierter Auflage für Liebhaber nachgeschneidert:

Ob Hatoyama politisch ein großer Verlust ist, kann man schlecht sagen, wir hatten ja kaum Zeit, ihn und seine drei Vorgänger richtig kennenzulernen. Modisch muss er aber auf jeden Fall weitermachen. Dieses Hemd darf sein Land nicht im Stich lassen.

Die hiesige Presse hatte übrigens richtig beobachtet, dass Hatoyama zuletzt bei TV-Interviews direkt in die Kamera sprach anstatt die Interviewer anzuschauen, wie er es zuvor getan hatte. Diesen Wandel hatte man auch bei seinen Vorgängern beobachten können, kurz bevor sie zurücktraten. Es war heute Morgen also kein allzu großer Schock. Ich weiß nicht, wohin Horst Köhler bei Interviews zuletzt geschaut hat. Ich bekomme hier sowas nur am Rande mit, und meistens sind die Nachrichten aus Deutschland mehr Lena als Horst.

Mein erstes Mal in Japan (5): Karaoke

11 Jahre habe ich gebettelt, dass mich mal einer mitnimmt, aber ich kenne nur zu feine Pinkel. Dachte ich. Der einzige japanische Mensch, den ich prinzipiell nicht gefragt hatte, war ausgerechnet Schwester M. Weil ich meinte: Die singt ja sowieso, da ist Karaoke bestimmt unter ihrem Niveau. Stellt sich aber heraus: Jeder muss mal üben. Als sie selbst das Gespräch auf das Thema bringt, frage ich kleinlaut, ob sie mich mal mitnimmt. Sagt sie: „Okay, gehen wir!“

So habe ich freilich nicht gewettet. Ich meinte: Irgendwann mal, abends, wenn ich beschwipst bin und mich ganz toll finde. Nicht bei Tageslicht, nüchtern, kurz nach dem Mittagessen. Aber ich habe keine Wahl. Megumi hat in einer Stunde Vorstellungsgespräch. Es wäre ja gelacht und sie keine echte Japanerin, wenn da nicht noch Platz für eine halbe Stunde Karaoke wäre.

Möglicherweise ist es nicht das erste Mal, dass ich überhaupt Karaoke singe. Könnte sein, dass da mal was auf einer Party in Bremen war. Aber ich habe an den betreffenden Abend keine klare Erinnerung, und die Oral History widerspricht sich von Historiker zu Historiker. Außerdem ist Karaoke in Japan eh anders. Man blamiert sich nicht vor einer Meute Wildfremder bis auf die Knochen, sondern, in meinem Fall, vor nur einer Person, die man schon locker eineinhalbmal im Leben gesehen hat.

Karaoke findet in Privatkabinen statt, die auf Zeit gemietet werden. Nach westlichem Moralkodex, vielleicht auch nur nach meinem eigenen, haben Vergnügungen in schalldichten Privatkabinen, die im Halbstundentakt abgerechnet werden, grundsätzlich etwas Verdorbenes. Während wir durch die zugleich schummrigen und sterilen Korridore des Karaoke-Zentrums auf der Suche nach unserer Zelle schleichen, muss ich schwer an mich halten, um nicht ins Telefon zu rufen: Ehrlich, Mama, wir machen nur Hausaufgaben!

Unsere Kabine beinhaltet ein schmutzabweisendes Sofa, einen Couchtisch mit Musikkatalogen und Speisekarten, mehrere Lautsprecher, eine Klimaanlage und selbstverständlich eine Karaoke-Maschine + großem Fernseher, auf dem Fernseh-Menschen quiekend neue Produkte anpreisen, wenn gerade kein echter Mensch singt. Zwei Mikrofone und ein Fernbedienungspult haben wir in einem Körbchen, das uns am Empfang überreicht worden war, selbst mitgebracht.

Megumi stellt es auf einmal so dar, als sei das Ganze meine Idee gewesen, deshalb soll ich anfangen.

Ich bin nicht mal halb durch Bullet With Butterfly Wings, da verlässt sie kommentarlos und fluchtartig das Zimmer. Es war trotzdem schön, sie kennengelernt zu haben. Wir hatten auch gute Minuten, bevor die Karaoke zwischen uns kam. Womöglich singe ich als nächstes mit Morrissey: No true friends in modern life!

Aber es ist halb so schlimm, sie ist im Nullkommanichts zurück mit einem Tamburin und zwei Rumba-Rasseln. Ein Glück, dass sie daran gedacht hat. Gute Laune ohne Rumba-Rasseln ist einfach keine echte gute Laune, das war schon immer mein Lebensmotto.

Apropos Morrissey: Der Sinatra meiner Generation, ohne jede Frage und Diskussion. Man soll sich bei Karaoke nicht mit Minderheitengeschmack brüsten, sondern Evergreens schmettern, deshalb durchsuche ich die Datenbank nach THE SMITHS, aber da ist nur How Soon Is Now?. Vielleicht der feinste Song der Band überhaupt, aber eben einer, der textlich so auf den Punkt gebracht ist, dass kaum Text übrig ist. Also nicht gerade ein Karaoke-Kracher, wie man ihn sich von The Smiths wünscht. Trotzdem soll der es sein.

Wenn man in echt nie singt, aber in Gedanken quasi ständig, ist es schrecklich, wenn man sich plötzlich tatsächlich singen hören muss. Besonders, wenn man keinen im Tee hat. Es ist leider nicht mal die alte Leier von der eigenen Stimme, die einem von Natur aus zuwider ist. Es ist viel schlimmer. Wohin ist all die Leidenschaft auf dem Weg vom Herzen in den Lautsprecher verschwunden? Warum klinge ich wie irgendein grober Karaoke-Proll, dem dieses sorgfältig ausgewählte Lied auch nicht mehr bedeutet als Dschinghis Kahn oder Paradise City? Ich bin doch was Besseres! Bin ich aber nicht, hört man ja, eher niedriger.

Eine eigenwillige Version von Friday I’m In Love gerät kaum feinfühliger, das Authentischste bleibt Megumis perkussive Begleitung. Dass sie auch das mit dem Singen viel besser hinbekommt, reibt sie mir u. a. mit Boulevard Of Broken Dreams und Can’t Take My Eyes Off You unter die Nase.

La Isla Bonita hätte schön werden können, wenn ich nicht ganz gemein einfach mitgesungen hätte.

Aber ich will nicht immer nur zerstören. Ich muss beweisen, dass ich auf dem Grunde meines Herzens ein vermittelbarer Musikliebhaber bin.

Wird fortgesetzt. Ich habe schon eine Liste gemacht.

Just do it (soon)

Nach meiner furchtlosen Visite des Yasukuni-Schreins gehe ich heute wieder hin, wo es wehtut (wenn auch nicht so weh, als würde ich dabei einen Mikoshi tragen). Der Miyashita-Park ist ebenfalls ein Politikum, wenn auch eines, bei dem die Weltpolitik mit den Schultern zuckt. In Tokio aber wird durchaus kontrovers diskutiert.

In den Miyashita-Park gerät man als Tourist nur, wenn man zu Tower Records will und im Bahnhof Shibuya den falschen Ausgang erwischt hat. Der Park ist auf Karten in Reiseführern der Vollständigkeit halber eingezeichnet, wird aber im Text sicherlich keine Erwähnung finden. Mit Sicherheit steht hingegen in jedem Reiseführer der Hinweis, dass man sich in dieser Stadt selbst als Frau immer und überall ohne Leibgarde frei bewegen kann. Fragt man Tokioterinnen nach der Richtigkeit dieser Einschätzung, pflichten sie im Großen und Ganzen bei. Hängen aber oft noch an: „Außer vielleicht im Miyashita-Park.“ Es handelt sich um einen schmalen, leidlich grünen Streifen zwischen Eisenbahnschienen und Meiji-dori. Ein öffentlicher Park, er gehört also den Bürgern, und die Bürger haben ihn seit Jahrzehnten aufgegeben. Man erinnert sich allenfalls an ihn, wenn man Sperrmüll hat und die Gebühren sparen möchte.

Jetzt hat der Sportartikelhersteller Nike für einen zunächst begrenzten Zeitraum den Park gekauft. Die Firma will dort renovieren und Gratis-Skatergedöns errichten. Außerdem hat Nike für die vereinbarte Zeit das Recht, den Park nach eigenem Gutdünken umzutaufen. Es gilt also als sicher, dass der Miyashita-Park bald Nike-Park heißen wird.

Könnte einen als Skater freuen. Könnte allen anderen Menschen völlig egal sein, wie einem der Park schon immer völlig egal war. Dennoch regt sich jetzt Protest. Wir sind das Volk, und der Park gehört uns, meinen ein paar Aktivisten, die ohne gute Argumente viel Presse bekommen.

Eines der besseren Argumente ist noch, dass der Miyashita-Park beliebt bei Obdachlosen sei. Das ist allerdings kein spezifisches Phänomen dieses einen Parks, sondern wirft auf höherer Ebene die Frage auf, wie eine Gesellschaft mit ihren Opfern umgeht. Es kann keine Lösung sein zu sagen: „Wir lassen die Obdachlosen einfach im Miyashita-Park, den haben wir eh aufgegeben, passt ja.“ Es wäre mir darüber hinaus neu, dass Obdachlose schäbige Parks gegenüber gepflegten bevorzugen. In Tokios schöneren Grünanlagen sind sie durchaus auch anzutreffen. Und es dürfte ihnen genauso egal wie mir sein, ob der Park Miyashita, Nike oder sonstwie heißt.

Mir scheint der jetzige Miyashita-Park ohnehin weniger wie eine Oase für Obdachlose als ein günstig gelegener Ort, wo junge Leute hingehen um Drogen zu kaufen und sich zu erbrechen. Von Drogenhandel halte ich eh nicht viel, und was das Erbrechen angeht: Können das die jungen Leute nicht in den Zügen der Yamanote-Linie machen, wie alle anderen auch?

Könnte es sein, dass es beim Protest nicht etwa um Solidaritätsbekundung mit nicht existierenden Miyashita-Liebhabern geht, sondern um stumpfen Anti-Amerikanismus, gepaart mit plumpen japanischen Nationalstolz, getarnt als Kapitalismuskritik? Schließlich ist es ausgerechnet ein amerikanisches Unternehmen, das hier ein bisschen aufräumen möchte. Dass, ebenfalls in Shibuya, schon seit geraumer Zeit ein ebenfalls öffentliches Veranstaltungszentrum nicht mehr Shibuya Public Hall heißt, sondern nach meiner Lieblingsbrause C.C. Lemon Hall, scheint niemanden groß aufzuregen. C.C. Lemon kommt freilich nicht aus dem Hause Coca-Cola, sondern von der urjapanischen Suntory-Abfüllerei.

Das Vitamin C von wie vielen Zitronen passt wohl in die Halle, wenn in der Haushaltsflasche schon 210 sind?