Ich höre tote Menschen

Ian Lowery ist schon 2001 gestorben, aber es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen. Vielleicht, weil ich erst gestern davon erfahren habe.

Wer war dieser Ian Lowery? Ich habe keinen blassen Schimmer. Wir sind uns nie begegnet, und sein Name sagt mir nicht viel. Als ich von seinem Tod erfuhr, war es also eher ein seufzendes „Ach, schade“ als ein anklagendes: „Gott! Waru-hu-hu-hum?!“

Schade ist es, weil ganz verkehrt kann dieser Ian Lowery nicht gewesen sein. Ich kannte ihn unbekannterweise als Vorsteher der Band King Blank, die 1988 ein Album namens The Real Dirt aufgenommen hatte, das ich damals aus einer Laune heraus kaufte (mir gefiel das Cover – ja, wir Menschen vom Planeten Erde sind so oberflächlich). Damit gehörte ich wohl einer Minderheit an, denn mehr kam da nicht. Und das fand ich schon damals schade, denn The Real Dirt war eine ganze Zeit lang eine meiner absoluten Lieblingsschallplatten, wie ich mich inzwischen wieder erinnere. Mein soziales Umfeld zuckte mit den Schultern, fand die Platte nett aber nicht besonders. Ging mir beim ersten Hören auch so, aber wenn man Ausdauer hat, beißt sie sich in Gehör und Gehirn fest und lässt nicht mehr los. Anfangs klingt sie ein bisschen nach Tante-Emma-Laden: von allem etwas, aber nichts so richtig. Für Rockabilly zu zornig, für Punk zu komplex, für Gothic zu lebendig, für Blues zu weiß. Doch irgendwann macht es Klick und Pling, denn der Groschen ist gefallen, und man weiß: Hier macht jemand, was er machen muss, egal wie man das nennt. Musik eben.

Ins Hirn gebissen oder nicht, irgendwann müssen alte Lieblingsplatten für neue Lieblingsplatten Platz machen, und so verschwand The Real Dirt mit der Zeit in meinem Unterbewusstsein. An die Oberfläche gespült wurde sie neulich wieder, als ich meine Vinyl-Schallplattensammlung umtopfte. Plötzlich hielt ich das Album wieder in den Händen, und all die alten Gefühle kamen wieder hoch. Mit Tränen der Rührung in den Augen dachte ich: Ist bestimmt voll der Scheiß.

22 Jahre sind eine lange Zeit, und manche Musik ist exklusiv an ein bestimmtes Lebens- und Zeitalter gekoppelt. Dennoch gab ich King Blank eine Chance zu beweisen, dass ihre Musik vorteilhafter gealtert ist als die von Vadder Abraham, zum Beispiel. Ich zelebrierte den ganzen Haptik-Quatsch mit Entstauben und Nadel auflegen, sinnierte kurz pflichtgemäß über den bösen, kalten technologischen Fortschritt, und war sofort wieder so angetan wie ich es damals erst nach hartnäckiger Hörarbeit war. Ach, Herr Lowery zieht schon ein wenig heftig vom Leder mit seiner Zorniger-Junger-Wilder-Mann-Nummer, aber er hält dabei die rechte Balance zwischen pampiger Ernsthaftigkeit und augenzwinkerndem Humor. Im Nullkommanichts wackelte ich wieder mit meinem kleinen Hintern durchs Kinderzimmer äh Wohnzimmer, wie ich es seinerzeit tat, wenn nach meiner Meinung keiner geguckt hat.

Und jetzt ist Ian Lowery also plötzlich tot, seit neun Jahren. Schade. Ich hätte gerne noch mehr von ihm gehört, und mehr über ihn erfahren. Auf der Website seiner Erben gibt es mehrere Dokumente zu Leben und Werk, aber soweit kommt das noch, dass ich längere Texte im Internet lese. Immerhin habe ich in Erfahrung bringen können, dass es noch ein Album mit dem eigenartigen Namen King Blank To von einer gewissen The Ian Lowery Group gibt, das man sich sogar heute noch erschwinglich legal herunterladen kann, wo es The Real Dirt vermutlich nur noch im dreistelligen Eurobereich auf eBay gibt (so billig bekommen Sie meine Platte aber nicht). Vermutlich muss man den Band- und Plattentitel als Ganzes lesen: From King Blank To The Ian Lowery Group. Nur eine Theorie. Tatsache hingegen: Mindestens genauso fesch und fetzig wie The Real Dirt.

Die nachfolgende Sendung ist für Zuschauer unter 40 Jahren nicht geeignet. Sie entstand in den 1980ern. Sie enthält ästhetische und dramaturgische Konzepte, die heutige Sehgewohnheiten verunsichern oder gar beleidigen könnten. Bitte schließen Sie zunächst Ihre eigenen Augen und halten dann die anwesender Kinder zu, aber hören Sie hin.

Rowland S. Howard ist auch so ein Toter. Einer von denen, wie ich nun erfahren muss, die trotzdem munter weitermachen. Im Mai wohl ist das neue Album erschienen, ich bekam es erst jetzt mit, ich war im Mai sehr beschäftigt. Howard scheint im Tode viele Freunde zu haben, wenn man sich das Internet so durchliest. Da möchte man sich mit der Eifer- und Geltungssucht des klassenbewussten Musikliebhabers schützend vor ihn werfen und fauchen: Aber ich fand den schon gut, bevor er gestorben ist!

Dabei ist mir verhältnismäßig egal, dass er Gründungsmitglied von The Birthday Party war. Hand aufs Herz: Die Birthday-Party-Platten übernehmen im Regal in erster Linie repräsentative Aufgaben. Das Beste an The Birthday Party war, dass daraus Nick Cave & The Bad Seeds wurden, und das Beste an Nick Cave & The Bad Seeds ist, dass daraus Grinderman geworden sind, die wiederum so klingen wie The Birthday Party, wenn The Birthday Party Humor gehabt hätten. Mit Humor wird nämlich doch ein Schuh draus.

Aber das alles hat wenig mit Rowland S. Howard zu tun. Nach The Birthday Party spielte er in einigen anderen unantastbaren Bands, mit denen ich ebenfalls nie richtig warm wurde, es liegt vermutlich an mir. Aber dann nahm er im Jahr 2000 sein erstes richtiges Soloalbum mit dem unnötig rabaukigen Titel Teenage Snuff Film auf, eines der weltweit drei bis zehn besten Alben, die man für Geld kaufen kann. Das neue Soloalbum, Pop Crimes, ist so etwas wie eine gelungene Fortsetzung: Vielleicht (aber auch nur vielleicht) nicht ganz auf der Höhe des ohnehin unerreichbaren ersten Teils, in jedem Fall aber ein schöner Nachschlag von dem, was man durch den Vorgänger zu schätzen gelernt hat. Beide Alben ergehen sich in romantischer Verbitterung und sehen das Ganze recht locker. Musikalisch über weite Strecken so elegisch, dass man sich in düsterer Gemütlichkeit mit jedem Ton einzeln beschäftigen kann. Beide Alben beinhalten über Eigenkompositionen und Klassiker-Covers hinaus auch eine Verbesserung eines Achtzigerjahregassenhauers. Bei Teenage Snuff Film war es ‚White Wedding’, hier ist es – ausgerechnet – ‚Life’s What You Make It’. Klingt in Howards knurrender Schnodderigkeit, als würde man es jetzt erst verstehen, ob man will oder nicht.

Nach gewissenhafter Recherche (Wikipedia) stelle ich fest, dass Pop Crimes in Howards Heimat Australien bereits 2009 ein paar Monate vor seinem Tod erschienen ist und nur im Rest der Welt posthum nachgereicht wurde. Schön, dass er die ersten warmen Worte von Lokalpresse und angetanen Kollegen noch mitbekommen hat.

Rowland S. Howard erinnert mich immer ein wenig an Marc Moreland († 2002). Nicht nur, weil auch Letzterer auf seinem Soloalbum Take It to the Spotlight (VÖ 2002) mit ‚Bette Davis Eyes‘ einen Hang zur Schlagermusik einer geschmacklich ambivalenten Dekade zeigte. Bei Howard wie bei Moreland kann man sich bei ihren Coverversionen nie ganz sicher sein, ob sie Beleidigung oder Huldigung sind, was viel spannender ist als die feige Ironisierung oder kriecherische Werktreue, die solche Unterfangen in der Hand kleinerer Geister haben. Stärker noch eint beide Künstler, dass sie in jungen Jahren die zweite Geige in Bands spielten, die heute nostalgisch verklärt werden. Howard in The Birthday Party, Moreland bei Wall of Voodoo. Letztere verkläre vor allem ich nostalgisch. Man könnte sagen: Wall of Voodoo ist meine Birthday Party. So sind wir jungen Dinger.

Marc Moreland klingt auf Take It to the Spotlight kranker und kaputter als Rowland S. Howard. Man kann in Howards Pop Crimes mit dem heutigen Wissensstand auch einiges an Krankheit und Todesgewissheit hineinhören, realistisch gehört aber klingt er gerade so kokett kaputt, wie er schon geklungen hat, als es ihm noch zu gut ging. Ein Glück, denn so lieben wir ihn, und so wollen wir gedenken. Marc Morelands Schwanengesang derweil gerät immer wieder zu einem musikalisch begleiteten Alter-Mann-Gebrabbel darüber, dass der Ehrliche der Dumme ist & die da oben sowieso machen was sie wollen & nirgendwo darf man mehr rauchen & die jungen Leute heutzutage. Man muss nicht jedes Gebrabbel abnicken, aber dem Sound kann man sich schlecht entziehen. Der Wall-of-Voodoo-Sound war eben kein Zufall, sondern zu keinem geringen Anteil das Werk von Gitarrist Moreland mit seiner Gleichzeitigkeit der derzeit modernen New-Wave-Beeinflussung und einer furchtlosen und ehrlichen Country-Verbeugung.

Hurra, wir leben noch

Wo wir gerade bei Wall of Voodoo sind und krampfhaft einen lebensbejahenden Ausklang für diesen deprimierenden Eintrag suchen: Die beiden Sänger der Band sind noch recht munter. Stan Ridgway veröffentlicht Ende August sein neues Soloalbum. Wenn es so wird, wie die letzten sieben sind, wird es ein Meisterwerk (keine Sorge, auf der Bühne wird er ‚Camouflage‘ bestimmt trotzdem noch spielen, wenn man nur penetrant genug grölt).

Wie man noch tiefer unter dem Radar der Öffentlichkeit fliegen kann als Stan Ridgway, hat der zweite Wall-of-Voodoo-Sänger Andy Prieboy vorgemacht, auch wenn seine beiden Soloalben Upon My Wicked Son und Sins of Our Fathers zu den weltweit zwei bis fünf besten Alben gehören, die man für Geld kaufen kann. Er tingelte viele Jahre vorwiegend durch die USA mit seinem Musical White Trash Wins Lotto, der Geschichte von Axl Rose bzw. „jemanden wie Axl Rose“ (Anwalt). Prieboy, einer der weltweit besten ein bis drei Liedermacher, hat sich heute in seinem Malibu Ghraib Studio eingeigelt und legt hin und wieder auf seiner Website ein Ei.

Dort findet sich auch eine Version des Songs ‚Shine‘, auf der Stan Ridgway die Mundharmonika bläst. Der Umstand klingt erstmal nicht ungewöhnlich, wo die beiden doch in derselben Band gewesen waren. Ist aber doch ungewöhnlich, weil selbstredend keine vernünftige Band mehr als einen Sänger braucht. Ridgway und Prieboy sind sich zu Voodoo-Zeiten nie begegnet, der eine hatte den anderen abgelöst. Dann gab es ca. 2006, lange nachdem die letzte Wall-of-Voodoo-Besetzung sich unter Alkoholeinfluss und ohne ordentliche Auflösung schlicht aus den Augen verloren hatte (Prieboys Darstellung), ein Foto, das Fans der Band augenblicklich die Pupillen hochdrehen und in Zungen sprechen ließ. Uneingeweihte sahen darauf nur zwei grau melierte Herren beim Sonntagsspaziergang und zuckten mit den Schultern, aber ich und die beiden anderen Wall-of-Voodoo-Historiker wussten: Das sind Andy Prieboy und Stan Ridgway auf demselben Foto!

Scheibenkleister, ich wollte es hier zeigen, aber ich kann es ums Verrecken nicht wiederfinden. Weder zuhause noch im Internet. Es ist, als hätte es nie existiert. Aber ich habe es gesehen, damals! Ich habe es Bekannten gezeigt, und sie haben mit den Schultern gezuckt, so als würden sie nicht begreifen, dass das das coolste Foto der Nullerjahre ist. Ist es aber. Wo immer es sein mag.

Die Geschichte hinter dem Foto war weniger schön als seine schlichte Existenz. Ridgway ging damals Klinkenputzen für eine Wall-of-Voodoo-Wiedervereinigung, die dann kurzzeitig im Vorprogramm von Cindy Lauper (lebt) stattgefunden hat, obwohl kaum einer mitgemacht hat (neben Marc Moreland war auch Trommler Joe Nanini schon tot, und Marcs notorisch ungesunder Bassisten-Bruder Bruce Moreland war so zerstritten mit Ridgway, dass er gar nicht erst gefragt wurde). Genau so gut hätte Billy Corgan sich Smashing Pumpkins nennen können. Oder Andrew Eldritch sich Sisters of Mercy. Oder David Bowie sich Tin Machine. Oder Lou Reed sich Lou Reed.

Schwamm drüber, wir alle haben mal klamme Tage. Das neue Ridgway-Album wird bestimmt toll, die neuen Prieboy-Songs sind es schon.

Und damit wären wir zurück im Reich der Lebenden und verabschieden uns – nur für heute – mit dem schönsten Reim Rowland S. Howards:

You’re good for me like coca-cola
I don’t get any younger, you don’t get any older

Gut, klingt von ihm gesungen besser als von mir getippt. Müssen Sie unbedingt hören, solange Ihnen Zeit bleibt.

Boys! Boys! Boys!

Vor ein paar Jahren unternahm ich eine Bildungsreise durch die Biermuseen Japans. Wie es sich gehört, kaufte ich dabei in den Museumsandenkenläden mehrere Postkartensets mit nostalgischen Motiven aus der Bierplakatreklame. Auf den meisten Karten war ein Bier in einer Flasche oder einem Glas und ein Mensch abgebildet, mal ein Mann, mal eine Frau. Lebenserfahrung zeigt, dass Frauen und Bier immer eine gute Kombination sind, während Männer und Bier schnell langweilig wird. Zu Hause also wanderten die Karten mit Frau/Bier-Abbildungen an die Wand, die Männer-Postkarten in eine ‚Zeug-das-ich-später-mal-wegschmeiße‘-Schublade, in der noch Platz war. Ich nahm mir allerdings fest vor, die Männerpostkarten vielleicht einmal als Lesezeichen zu verwenden, damit sie sich nicht ganz so nutzlos vorkommen, wie sie sind.

Leider eignen sich Postkarten in Größe und Konsistenz selten als Lesezeichen. Man braucht schon ein Buch, das was aushält. Wie zum Beispiel Role Models, John Waters‘ jüngst erschienenes, längst überfälliges Newsupdate zum War on Taste. Zur Markierung meines Lesefortschritts wählte ich durch Zufall diese Postkarte:

Ein Motiv, das bei der ersten Begutachtung überhaupt nicht zu mir gesprochen hatte. Was sagt dieses Bild? Dicke Männer trinken gerne Bier. Was für ein Unsinn! Ich schaue auch Werbung, daher weiß ich, dass nur gut gebaute, charismatische Haudegen gerne Bier trinken. Männer wie du und ich.

Nun war es in letzter Zeit sehr heiß, da liest man nur in kurzen Schüben. Ständig ging die Karte rein und raus, und je öfter ich sie dabei betrachtete, desto mehr freundete ich mich mit ihr an. Eigentlich sieht der Typ doch ganz sympathisch aus. Zu viel Lippenstift hin oder her, sein Lächeln wirkt aufrichtig und einladend. Seine Frisur und sein Schnauzer mögen für sich etwas komisch aussehen, aber sie passen gut zur Gesamterscheinung. Und so dick ist er auch wieder nicht, genau betrachtet.

Das Bild kommuniziert freilich nicht nur, dass der gar-nicht-so-dicke Mann gerne Bier trinkt, sondern auch mit Erfolg Golf spielt, die schönste Sportart der Welt. Sturzlangweilig anzuschauen und modisch völlig inakzeptabel (wie allerdings jede Sportart außer Eiskunstlauf), in der Ausübung aber ein Fest für Körper, Geist und Seele. Zu dumm (und komplett unverständlich), dass ausschließlich Schwachköpfe Golf spielen, sonst wäre ich sofort dabei. Vielleicht könnte man die Gebühren und Ausrüstung teurer machen, damit nicht mehr jeder Hans und Franz auf den Platz kommt.

Der Mann auf der Postkarte ist bestimmt kein Schwachkopf, das spüre ich. Das schönste Detail des Bildes ist rechts unten: Da steht noch ein Bier auf dem Tisch. Es lädt ein, sich zu dem Mann zu setzen, und mit ihm auf seinen frisch gewonnenen Pokal anzustoßen. Eine Bierwerbung kann ein Freund sein, und diese ist mir einer geworden. Ich habe Mr. Waters‘ Buch längst ausgelesen und verwende ein Lesezeichen niemals für mehr als ein Buch (ein nervöser Tick), aber diese Postkarte ist mir dennoch zum ständigen Begleiter geworden. Sie liegt auf meinem heimischen Schreibtisch, wenn ich daheim bin. Gehe ich aufs Amt, packe ich die Karte so selbstverständlich ein wie das Butterbrot und lege sie auch dort auf meinen Schreibtisch.

All die Jahre wurde mir nachgesagt, in erster Linie von mir selbst, ich hätte eine Schwäche für japanische Frauen. Aber jetzt weiß ich, ich habe mir und der Welt nur etwas vorgemacht, eine Lüge gelebt, ein richtiges Leben im falschen versucht, was es bekanntlich nicht geben kann. Ich muss feststellen: Ich habe in Wirklichkeit eine Schwäche für japanische Männer. Zumindest für die aus der Bierwerbung.

Verblüffend ist die Erkenntnis nicht. Schließlich berichtete schon der neunundneunzigmalkluge Jeffrey Eugenides in seinem 2002er Saisonbestseller Middlesex davon, dass der Hang zu asiatischen Frauen beim Manne nur das Vorzeichen einer noch nicht diagnostizierten Homosexualität sei, weil diese Asiatinnen ja alle so knabenhafte Körper haben. Haben Sie das gewusst, liebe asiatische Ehefrauen? Erstens, Sie sehen gar nicht aus wie Frauen. Zweitens, Ihr Mann ist schwul. Ich hatte das vorher auch nicht gewusst. Ich hatte ja noch nicht mal gewusst, dass Knabenliebe und Homosexualität jetzt doch dasselbe ist. Ich hatte angenommen, die Theorie gälte als überholt, seit Menschen in weiten Teilen der Welt nicht mehr öffentlich verbrannt werden, wenn sie sagen, dass sich vielleicht die Erde um die Sonne dreht. Aber ich muss mich geirrt haben, Dr. Eugenides wird es schon wissen. Keine Ahnung, ob er einen Doktortitel hat, aber bestimmt, soviel wie er weiß.

Ich jedenfalls habe sofort gesucht, ob ich noch mehr der einst verschmähten Männerpostkarten wiederfinde. Leider fand ich nur eine, die hier:

Auch eine sympathische Type, ein Lebemann, der weiß, was das Leben lebenswert macht.

Aber wo schaut der denn da hin?!

Andererseits, ich kann ihn verstehen, wenn ich sie mir so ansehe, mit ihren knabenhaften Körpern und rauen, männlichen Posen …

Aber nein, ich darf mich da nicht reinsteigern. Das wäre ein Rückschritt in meiner menschlichen und männlichen Entwicklung. Ich war doch schon weiter. Ich bin so verwirrt, weiß nicht mehr, wo ich hingehöre. Schuld ist die Werbung. Und Jeffrey Eugenides. Und Ayako Imoto.

Die Nachrichten: Das Manifest

Ich hatte die Güte und die Ehre zwei neue DVDs für Das Manifest zu besprechen. Darauf zu sehen waren der thailändische Agentinnenfilm Final Target (ich rate dringend ab) und die südkoreanische Romkom My Sassy Girl (ich rate halbherzig zu).

Update 12. 8. 2010

Ich pack das mal noch hier mit rein: Für The Sniper, Porno-Edes vorerst letzten Film, habe ich auch ein Gutachten geschrieben.

Knack und Baku

Seit Jahren fragt man mich entgeistert: „Wie können Sie nachts überhaupt noch schlafen?!“ Man ist besorgt um mich, weil ich nicht von den Gruselfilmen lassen mag. Meine Antwort war lange Zeit jugendlich unbekümmert: „Och, ich baller mir einfach jeden Abend sowas von die Birne zu, dass ich eh nichts mehr mitkrieg.“

Jetzt sind aber Alkoholkranke nur solange total süß, wie sie klein sind. Da hauen sie mit lässig fahrigen Gesten, sexy Nuscheln, keckem Grinsen und funkelnden Augen ein Bonmot nach dem anderen raus, vor allem in ihrer eigenen Vorstellung, und es ist drollig, ihnen dabei zuzusehen. Wenn sie aber groß werden, haben sie nur noch schlechte Haut und fahlen Blick, man wendet sich lieber ab. Von Jennifer Jason Leigh als Dorothy Parker zu dem einsamen Typen mit der Knollennase, den man hin und wieder an der Tanke trifft, ist es ein sehr kurzer Weg.

Wie gut, dass ich nicht mehr so viel trinken muss, ich habe ja jetzt Baku (Abbildung oben). Nur eines aus Stoff, aber es wirkt. Ich bekam es neulich in Tokio von einer guten Seele anlässlich eines vorläufigen Abschieds geschenkt. Es handelt sich beim Baku um ein mythisches Wesen der chinesischen und japanischen Folklore, das böse Träume frisst. Es wird oft in der Form eines Tapirs dargestellt. So eins hab ich. Was ein Tapir frisst, weiß ich nicht. Steht aber bestimmt auf Wikipedia.

Das Baku ist mein neues Krafttier, seit mein Wellensittich den Löffel abgegeben und ins Gras gebissen hat. Es wohnt tief in meiner inneren Höhle. Wenn es dort zu dunkel wird, geht das große Fressen los, und ich kann wieder was sehen.

Auch eine Lösung: Einfach nur Filme schauen, von denen man böse Träume gar nicht erst bekommt, sondern nur wunderschöne. Die Filme des Regisseurs Satoshi Miki sind da eine sichere Bank. Gerade reinbekommen: Instant Swamp.

Läuft schon länger in meiner Höhle, aber das ist ja keine Schande: Turtles Are Surprisingly Fast Swimmers. Wer diesen Film schaut, muss sich leider drauf einstellen, dass er lebenslänglich nicht mehr um eine Ecke oder in einen Schrank schauen kann, ohne „Hwä Hwä Hwä Hwä Hwäää“ zu machen. Das geht nicht wieder weg. Ist es aber wert.

Ich leg mich wieder hin.

Hello Kitty darf nicht sterben

Ich wunderte mich einmal sehr, als eine befreundete Autorin für ein Magazin sehr sachlich eine DVD besprach, deren äußerst infantiler Inhalt im Wesentlichen darin bestand, dass die Filmemacher auf möglichst brutale Weise Teddybären vernichteten. Ich kannte die Autorin als eine Liebhaberin und Bewahrerin von Teddybären, daher meine Verwunderung. Sie aber erläuterte mir, dass sie sich mit einer buddhistisch korrekten Geisteshaltung auch in diesem Zusammenhang an den kleinen Rackern erfreuen könne.

Wenn die das kann, dann kann ich auch ein Buch mit dem entsetzlichen Titel Hello Kitty Must Die lesen. Es handelt sich um den Debütroman der Amerikanerin Angela S. Choi, der bald auch auf Deutsch erscheint. Choi erzählt von der jungen Anwältin Fiona, die schwer unter ihrer chinesisch verwurzelten Familie zu leiden hat, und darunter, dass sie, Fiona, kein Jungfernhäutchen hat. Das entdeckt sie, als sie sich am Anfang des Romans mithilfe eines Artikels aus dem Ehehygienefachgeschäft selbst entjungfern möchte. Bestürzt rennt sie zum Chirurgen, um sich ein Häutchen einsetzen zu lassen. Der Arzt entpuppt sich als ein ehemaliger Schulkamerad, der seinerzeit von der Schule flog, weil er gerne Leute anzündete. Es ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

So weit, so pfiffig. Es könnte der Beginn eines wunderbaren Romans sein, wenn nicht alles von Anfang an so ermattend unpfiffig geschrieben wäre. Angela S. Choi wird häufig mit Chuck Palahniuk verglichen, hauptsächlich wohl, weil es so auf dem Buchumschlag steht, und der Mensch plappert gerne nach, was schon mal ein anderer Mensch geplappert hat. Mittlerweile ist ein Palahniuk-Vergleich freilich einer, bei dem man sich nicht sicher sein kann, ob er schmeichelhaft oder gehässig gemeint ist. Aber selbst wenn der Name des putzigen Nullerjahrekultautoren inzwischen einiges an Strahlkraft eingebüßt hat, so muss man Palahniuk doch eines lassen: Er hat eine ganz eigene Stimme. Sie mag einem irgendwann auf den Geist gehen, aber sie ist unverwechselbar, in guten wie in schlechten Zeiten. Choi hingegen schreibt im Duktus generischer Chick Lit (nicht Chuck Lit, höhö, Verzeihung). Ihre Ich-Erzählerin soll eine geistreich-sarkastische Beobachterin sein, ist aber bloß ein geistloser Jammerlappen, der sich aus einem Plattitüdenreservoir von unvorstellbaren Ausmaßen vollsaugt. Später gibt es in der Handlung wohl noch Serienmord und Nachtleben, wie in jedem Debütroman, aber so weit bin ich nicht gekommen. Auf Seite 50 dachte ich mir: Das Kapitel noch, dann wieder ein gutes Buch. Gottlob ging das Kapitel nur bis Seite 52.

Viele Menschen brüsten sich damit, jedes Buch, das sie zu lesen beginnen, auch zu Ende zu bringen. Meistens sind das Menschen, die sich um ihr Geld selbst dann noch Gedanken machen, wenn es schon ausgegeben ist. Dann lautet die irrationale Argumentation: Ich hab das bezahlt, also lese ich es auch. Mir kommt diese doppelte Bestrafung nicht in die Tüte. Das Geld mag verloren sein, aber die Zeit kann ich noch retten.

Mit dem thematischen Kreisen ums Töten und Ausgehen in Kalifornien scheint man eher bei Bret Easton Ellis als bei Chuck Palahniuk. Man muss aber nur einen Blick in den neuen Ellis werfen, um zu verstehen, warum man doch ganz woanders ist. Inzwischen gilt zwar als gesichert, dass es sich bei Imperial Bedrooms nicht um den größten Wurf des Autoren handelt, aber er ist dennoch ein exzellentes Beispiel für das, was dabei herauskommt, wenn ein ernsthafter Schriftsteller hoch konzentriert das tut, was er besonders gut kann. Das ist ein Rhythmus, bei dem man mitmuss, da stimmt jedes Bild, da steckt hinter jedem kleinen Fehler eine große Absicht. Das hätte kein Imitator so schreiben können, auch wenn sich seit 20 Jahren jeder zweite Nachwuchsautor für den neuen Bret Easton Ellis hält.

Angela S. Choi dankt in ihrem Buch u. a. ihrem ‚Creative Writing Coach‘. Ich habe dieser Creative-Writing-Chose nie getraut. Wahrscheinlich wird man dabei gecoacht, so viel wie möglich so wenig kreativ wie möglich zu schreiben, damit man so klingt wie jeder andere, der schonmal ein Buch verkauft hat. Das ist näher bei Kerstin Gier als bei Chuck Palahniuk oder Bret Easton Ellis. Meinetwegen ist das Kerstin Gier mit einer Kettensäge, aber Kettensäge ist in diesem Fall leider auch keine Lösung.

Ach, der Kerstin-Gier-Vergleich tut mir schon wieder leid. Die Gier und ihre Vermarkter führen zumindest niemanden an der Nase herum. Wer einen Gier in die Hand nimmt, tut dies nicht, weil er erwartet, das Buch könnte jede Sekunde für den Preis der Leipziger Buchmesse shortlisted werden. Der amerikanische und der deutsche Verlag von Choi tun aber so, als handele es sich um kapitale LITERATUR.

Es müsste einen geben, der mit dem Zeigefinger hoch in der Luft herumschlägt und mit einem feucht lispelnden Quaken ruft: „Das ist keine Literatur!“ Gibt es aber nicht. Muss man selbst machen.

Jetzt bitte nicht das ewige Chick-Lit-Argument, dass das alles eben nicht für Männer gedacht und gemacht wäre. Man nenne mich hoffnungslos progressiv, aber ich weigere mich zu glauben, dass Frauen schon genetisch das literarische Urteilsvermögen fehlt. Es wird Frauen geben, die sich von der Fließband-Frauenliteratur um Schuhe, Sex, Shopping und Serienmord mehr beleidigt als angesprochen fühlen. Ich bin mir ganz sicher, irgendwo gibt es sie. Mein ewiges Mantra.

Zum kritischen Hello-Kitty-Diskurs hat der Roman übrigens wenig Neues beizutragen. Es wird der alte Hut aus dem Schrank geholt, dass Kitty-chan konteremanzipatorisch sei, weil sie keinen Mund habe und somit keine Parolen rufen könne. Choi fügt dem hinzu, dass man ohne Mund auch anderen Aktivitäten nicht nachgehen kann, aber dies ist ein familienfreundlicher Blog. Ich halte dagegen: In einer Gesellschaft, in der niemals niemand nicht aufhört zu schnattern, ist Kitty ein liebenswert unangepasster Freigeist, eine echte Rebellin. Sie kann sich auch ohne Verbaldurchfall verständlich machen, sie ist eine Meisterin der nonverbalen Kommunikation. Ein Blick von ihr oder auf sie sagt alles. Wie jede echte Rebellin bringt Hello Kitty das Establishment verlässlich zur Verzweiflung. Die gleichgeschalteten Schäfchen der Generation Slipknot kann man kaum besser verstören als mit Kittys radikaler und kompromissloser Niedlichkeit. Die Kleine hat es faustdick hinter den Öhrchen. Lang lebe Hello Kitty.

P.S.: Ja, ich habe schon verstanden, dass die Hello Kitty im Roman nicht nur die japanische Stilikone meint, sondern auch den amerikanischen Slang-Ausdruck für fügsame Mausemädchen asiatischer Herkunft. Hat mir und dem Roman aber nicht geholfen.

Japanischer Stehsatz (2): Reise nach Shimotsuma

Habe ich jemals erwähnt, dass mir der Film Kamikaze Girls einigermaßen gut gefällt? Könnte sein, vereinzelt wirft man mir vor, ich kenne gar kein anderes Thema. Stimmt auch, heute ganz sicher nicht. Denn heute erfülle ich mir den großen Traum jedes kleinen Kamikaze-Mädchens: Ich fahre nach Shimotsuma. [Gemeint ist freilich nicht das konkrete Heute, sondern das poetische Heute.]

Sie wissen: Der Film (und der zugrunde liegende Roman und der abgeleitete Comic) heißt im Original Shimotsuma Monogatari, also in etwa ‚Shimotsuma-Geschichte‘, denn in Shimotsuma spielt sich das Meiste ab. Ich bin ein wenig verunsichert, weil es offenbar keinen großen Shimotsuma-Monogatari-Tourismus gibt. Googlet man Shimotsuma bekommt man hauptsächlich Informationen zum Film und vereinzelt zum Ort (Hauptsehenswürdigkeit: McDonald’s-Restaurant mit Wi-Fi). Ich weiß, dass ich nicht der einzige Liebhaber des Films bin, schon gar nicht der einzige westliche, aber ich finde bei zumindest oberflächlicher Recherche keinen aufgeregten Blogger, der schriebe: „Ich war da! It was magic!“ Heißt das, ich muss eine Flagge an einem spitzen Stock mitnehmen und bei der Erdung „Erster!“ rufen? Sowas habe ich gar nicht.

Selbst in Japan ist Shimotsuma kaum bekannt. Erwähne ich gegenüber Tokioter Freunden, dass Shimotsuma Monogatari mein Lieblingsfilm ist, sind sie besorgt, welches Bild Deutschland von Japan hat, wenn solche Filme es hinüber schaffen. Erwähne ich weiter, dass ich vorhabe Shimotsuma zu bereisen, wundern sie sich, dass dieser Ort wirklich existiert.

Tut er aber. Hat schätzungsweise 40.000 Einwohner (Quellen widersprechen einander) und liegt in der Präfektur Ibaraki. Im Film Kamikaze Girls gibt Protagonistin Momoko in einem Off-Monolog eine akkurate Beschreibung, wie man von Shimotsuma mit dem Zug nach Tokio kommt, wo sie gerne einkauft. Man müsste das also nur umgekehrt nachmachen und käme wahrscheinlich von Tokio in Shimotsuma an. Allerdings sind seit dem Film ein paar Jahre vergangen, und das japanische Schienennetz wird unentwegt überarbeitet, weshalb es inzwischen auch anders geht. Außerdem starten wir unsere Reise nicht in der Tokioter Daikanyama-Nachbarschaft, die Momokos Ziel ist. Dort gibt es heute nur Straßencafés mit gegelten Notebook-Posern und die überschätztesten Clubs der Stadt, da haben wir nichts verloren. Unsere Reise beginnt im schönen Sangenjaya, und sie geht so:

Erst nimmt man die Den-en-toshi-Linie bis Shibuya. Man könnte auch laufen. Aber Laufen in diesem Outfit? Ich bitte Sie, das ist doch wohl nicht möglich. In Shibuya bleibt man einfach sitzen, denn hier verwandelt sich die Den-en-toshi-Eisenbahnlinie automatisch in die Hanzomon-U-Bahn-Linie, die man bis Omotesandō nimmt, es ist gleich die nächste Station. Dort steigt man um in die Chiyoda-Linie. Es dauert 29 Minuten bis Kita-Senju. Hier steigt man in den modernen Tsukuba-Express, der 21 Minuten bis Moriya braucht, einer Partnerstadt von Greeley, Colorado und Mainburg, Germany. Jetzt ist man schon eindeutig in Ibaraki, und es gibt erste Spuren von Shimotsuma.

Im simplen aber sympathischen Futterhof des Bahnhofs Moriya isst man vorsichtshalber eine Nudelsuppe und trinkt ein Bier, weil man nicht weiß, was einen kulinarisch und überhaupt in Shimotsuma erwartet. Gut gestärkt steigt man in die Joso-Linie, die einen in 42 Minuten nach Shimotsuma bringt. Man fährt mit ihr immer tiefer in das sagenumwobene Land, in dem es keine Ausländer gibt. Commodore Perrys Schwarze Schiffe kamen nur bis Yokohama.

Und dann ist man auch schon da. Der wiedererkennbare Bahnhof bestätigt sofort, dass der Film vor Ort gedreht wurde. Viele Szenen spielen am und im Bahnhof mit seinen zwei Gleisen und einem Häuschen. Zu spät fällt mir ein, dass eigentlich der ganze Film davon handelt, dass man aus Shimotsuma unbedingt weg will, wenn man einigermaßen fit in der Birne ist. Und ich wollte da unbedingt hin? Vielleicht nicht richtig nachgedacht.

Der Bahnhof macht in der Totalen nicht viel her, aber die Details machen mich glücklich. Dieser Fernseher im Wartebereich wird von Regisseur Tetsuya Nakashima im Film immer wieder verwendet für angeberische Überleitungen und ironische Kommentierung der Handlung:

Jetzt läuft da allerdings nichts.

Hier sitzt Momoko mehr als einmal:

Hat mich jemand beim Fotografieren beobachtet, denkt der bestimmt: „Wie rührend! Dieser alte Mann hat noch nie in seinem Leben Plastikstühle gesehen.“ Ist aber unwahrscheinlich, dass mich jemand beobachtet hat. Überhaupt werde ich in Shimotsumas Straßen weitaus seltener schräg gemustert als anderswo in Japan. Dafür müsste erstmal jemand auf den Straßen unterwegs sein. Würde vielleicht helfen, wenn zumindest ein einziges Geschäft geöffnet hätte. Gut, dass ich vorher gegessen habe.

Statt geöffneter Geschäfte gibt es Kohlköpfe. Im Film ein wiederkehrendes Motiv als Symbol für Land und Leute.

Viele Szenen in Kamikaze Girls spielen an Bahnübergängen wie diesem (Beispielabbildung):

Apropos Bahnübergang: Zielstrebig habe ich mich vom Bahnhof in den unattraktiveren Teil des Ortes aufgemacht. In der anderen Richtung haben durchaus ein paar Geschäfte geöffnet. Allerdings nicht dieser Pachinko-Salon.

Es könnte der sein, in dem die Mädchen im Film spielen. Sieht inzwischen aus, als hätte da schon länger niemand mehr gespielt.

In der örtlichen Filiale der Gebrauchtmedienhandelskette Book-Off möchte ich mir gerne die japanische DVD von Shimotsuma Monogatari als Andenken kaufen. Haben sie aber nicht! Stattdessen gibt es – ungelogen – Spinnweben vor dem Regal mit den japanischen Filmen. Keine Halloween-Deko-Spinnweben, sondern Real-Deal-Vernachlässigungsspinnweben.

Ich habe Momoko von vornherein gut verstanden, aber ich verstehe sie jetzt sogar besser.

Ich bin ohne Flachs mittelschwer schockiert, dass man hier touristisch rein gar kein Kapital aus dem Kultstatus von Buch und Film schlägt. Gut, es handelt sich unterm Strich um Shimotsuma-Schmähwerke, aber das sollte man mit Humor nehmen, wenn man daran verdienen kann. Es müssen nicht gleich goldene Statuen von Momoko und Ichigo sein, aber Pappfiguren für Photo-Ops auf den Plastikstühlen im Bahnhofsgebäude sollten ja wohl drin sein.

Das Waldrestaurant und die Jusco-Filiale habe ich leider nicht gefunden. Aber ich habe auch nicht lange gesucht, denn ich wollte nicht riskieren, Züge und Anschlusszüge zu verpassen. Ich zähle auf Ihr Verständnis.

Aus gegebenem Anlass: Trailer Kamikaze Girls (Wiederholung)

Japanischer Stehsatz (1): Desfes31 feat. Mitsume Temo

Hatte ich ganz verschwitzt: Unmittelbar bevor ich neulich nach Taipeh ausflog, war ich ja noch in Tokio auf der Design-Festa, ist mir aber erst in Bremen wieder eingefallen, deshalb schreibe ich darüber in München. Sie können folgen? Ich komme ganz schön rum. Mein Leben möchte ich mal haben, wenn ich das so lese.

Die Design-Festa findet zweimal im Jahr im Messe- und Veranstaltungszentrum Tokyo Big Sight auf Odaiba statt. Ziel der Kunstmesse ist es der Welt zu versichern, dass junge japanische Kunst nachwievor zu 99% aus Kulleraugen oder Totenschädeln oder einer Kombination aus beidem besteht. Über 7.000 Künstler waren dazu auch diesmal wieder angereist und haben die Botschaft 1A kommuniziert. Die Welt kann sich weiterdrehen, es bleibt alles beim Alten, kowai und kawaii gehen Hand in Hand, und sonst geht gar nichts.

Kann man vernünftig über eine Veranstaltung mit über 7.000 Spinnern berichten? Bestimmt, aber ich spinne doch nicht. Das würde in Arbeit ausarten, und davon halte ich nichts. Lieber greife ich mir nach dem Zufallsprinzip ein Objekt raus und stelle es stellvertretend für die ganze Veranstaltung vor.

Und die glücklich strahlende Gewinnerin ist: Mitsume Temo.

Es handelt sich um eine süße neue Figur von Akanuma Kishira (nicht vor Ort) und dem italienischen Grafikdesigner Takis Proietti Rocchi (nicht im Bild, wozu auch). Auf der Messe dargestellt wird Mitsume Temo von Model Hina (im Bild, aus gutem Grund). Mitsume Temo hat es sich zur Aufgabe gemacht, die jugendliche Niedlichkeitskultur gegen Angriffe aus dem Ernst des Erwachsenenlebens zu verteidigen. Auf der offiziellen Website steht es bestimmt noch ausführlicher. Bitte lesen Sie dort, ich bin doch nicht im Informationsdienstleistungsgewerbe. Mich interessiert nur, dass ich ein Foto von einer jungen Frau mit rosa Perücke habe.

Jeder, der auf der Desfes oberflächliches Interesse an Frl. Temo bzw. Frl. Hina signalisierte, bekam eine 30-teilige Mitsume-Temo-Pappfigur zum Ausschneiden und Zusammenbasteln aufgeschwatzt, die man auch nicht wie aus Versehen am Stand liegen lassen durfte.

Darauf freue ich mich jetzt schon. Aber ich werde mich erst später daran versuchen und das Foto nachreichen, wenn Sie nichts dagegen haben (macht er ja doch nicht).

Und jetzt schnell weg von der Design-Festa. Sonst müssten wir uns noch damit auseinandersetzen, was diese junge Dame da macht:

Aber das überlasse ich der Fantasie. Ihrer. Ich habe dazu keine Meinung.

Kurz: Kokuhaku

Interessiert sich hier jemand für Tetsuya Nakashima? Ja, ich. Besser und knapper hätte es Japan kaum hinbekommen können, als den neuen Film meines Lieblingsregisseurs (u. a. Kamikaze Girls und Memories of Matsuko) genau eine Woche vor meiner vorläufigen Abreise noch schnell in die Kinos zu bringen. Gerne würde ich mit Kloß im Hals von einem Geschenk sprechen, aber freilich musste ich Eintritt bezahlen.

Kokuhaku (告白) heißt der neueste Streich, international wird wohl Confessions draus, was auch hinkommt. Takako Matsu spielt eine Lehrerin, die zwei ihrer Schüler verdächtigt, für den Tod ihrer Tochter verantwortlich zu sein. Als sie ihrer Klasse mitteilt, dass sie den Schuldienst quittiert, gesteht sie ihnen auch gleich, dass sie ihre Tochter rächen wird und ihr Racheplan bereits im vollen Gange ist. Sie ist nicht die einzige im Raum, die etwas zu gestehen hat. Und nicht die einzige mit mörderischen Plänen. Mehr sollte man nicht verraten, um die vielen überraschenden Wendungen nicht auszuplaudern, und um wirkungsvoll zu kaschieren, dass man rein sprachlich nicht alles verstanden hat.

Viel wird darüber schwadroniert, dass Nakashima mit diesem Film endlich erwachsen würde, als wenn er das nötig hätte. Keine Anime-Sequenzen und Tanzeinlagen, kein Genrewechsel alle fünf Minuten, keine grellen Farben und schnellen Schnitte, dafür Story, Story, Story. Ich aber sage euch: Kokuhaku ist ein waschechter Nakashima, nur anders als die anderen. Und eine Tanzeinlage gibt es wohl. Handlungsstark waren alle bisherigen Filme des Regisseurs. Wer das nicht erkennt, hat vermutlich Schwierigkeiten, sich auf gewisse Geschichten einzulassen. Was Nakashimas Filme überdies eint ist die Tatsache, dass sie alle optisch 1A, aber ebenso alle optisch unterschiedlich sind. Die Geschichte diktiert, wie sie bebildert werden will. Kamikaze Girls mit seinen überzeichneten aber liebenswerten Figuren muss als knallbunter Comic-Film daherkommen. Memories of Matsuko erzählt ein ganzes Leben in nur etwas über zwei Stunden, deshalb muss sich das Genre und damit die Bildsprache ständig ändern, denn das echte Leben hat im Idealfall mehr als nur ein einziges Genre. Melodram, Komödie, Porno, Horror – alles drin. Der Kinderfilm Paco and the Magical Book wäre viel zu traurig, wenn er nicht fröhlich inszeniert wäre. Und Kokuhaku kann nicht anders als dem schweren Schicksal seiner Figuren mit ruhigen Bildern und gemäßigtem Tempo den nötigen Respekt zu zollen. Ruhige Bilder heißt selbstverständlich nicht, dass der Film weniger sorgfältig gestaltet wäre als seine Vorgänger. Waren frühere Nakashimas wie Videoclips, ist der neue wie ein Gemälde. Beides legitime Kunstformen übrigens, die eine ist im Jahre 2010 nicht weniger erwachsen als die andere. Alles in Kokuhaku ist an seinem Platz. Man sollte nicht glauben, dass irgendein Spiegelbild Zufall ist, oder dass irgendein Regentropfen nicht genau dahin fällt, wo der Meister gesagt hat. Ebenfalls typisch: Konstante, eklektizistische Musikbegleitung zwischen J-Pop, Radiohead, Klassik und Avantgarde. Mal musicalmäßig weit vorne, oft so subtil, dass nur anspruchsvolle Ohren sie bewusst wahrnehmen.

Die Geschichte wirft vieles in ihren Topf. HIV! Häusliche Gewalt! Amoklauf! Mobbing! Liebe! Tod! Trauer! Undsoweiter! Die Verknüpfungen sind dabei häufig überraschend, manchmal auch etwas arg konstruiert. Aber einem Kunstwerk Konstruktion vorzuwerfen scheint mir falsch. Kokuhaku ist, bei allen Unterschieden, wie alle Filme des Regisseurs ein in erster Linie emotionales, dann erst intellektuelles Kunstwerk. Soll heißen: Zielt aufs Herz, aber der Kopf muss nicht draußen bleiben. Es ist definitiv unter allen Nakashima-Filmen der, der nach dem ersten Sehen am längsten nachwirkt. Eigentlich ist es zu früh, jetzt schon etwas drüber zu schreiben. Aber so ist das Internet. In erster Linie wollte ich ja auch nur damit angeben, dass ich den Film schon gesehen habe, und Sie nicht. Wahrscheinlich ist davon keiner außer mir selbst beeindruckt. Aber das muss reichen.

TETSUO III: KRACHMACHER

Eigentlich wollte ich nichts über TETSUO THE BULLET MAN schreiben, weil sich spontan gar keine Meinung einstellen wollte. Aber als nach ein paar Stunden mein Gehör zurückkehrte, fingen langsam auch die anderen Sachen in meinem Kopf wieder an zu funktionieren.

Normalerweise bin ich dagegen, Filmtitel u. ä. durchgehend in Versalien zu schreiben, aber bei TETSUO THE BULLET MAN sehe ich keine andere Möglichkeit. Ich kann mich gerade noch beherrschen, nicht drei Ausrufezeichen anzuhängen. Einer Tokioter Stadtillustrierten erzählte der Hauptdarsteller Eric Bossick stolz, bei der Vorführung des Films auf dem Tribeca-Filmfestival in New York wären zum ersten Mal in der Festivalgeschichte die Lautsprecher durchgeknallt. Der Filmvorführer in Shibuyas renommiertem Cinema Rise, wo ich zuhören durfte, wollte wohl ausprobieren, ob er das auch hinbekommt, und ich würde sagen, viel hat nicht gefehlt. Möglicherweise wurde vom Verleih verfügt, dass immer alle Zeiger im roten Bereich sein müssen, sonst macht es keinen Spaß.

Für alle, die nur Avatar kennen: TETSUO THE BULLET MAN ist der dritte Teil der Tetsuo-Reihe von Regisseur bzw. Multikünstler Shinya Tsukamoto. Die Filme setzen einander nicht direkt fort, sondern variieren jedesmal dieselbe Prämisse eines Mannes, der sich in eine Maschine verwandelt und Unheil anrichtet, nachdem ihm selbst Unheil widerfahren ist. Erzählerische Stringenz ist dabei weniger wichtig als provokante Ästhetik und ungewöhnliches Sounddesign. Der erste Film der Reihe, Tetsuo, ist mir flauschige Nostalgie, weil es der erste Film war, den ich bewusst als japanischen Film wahrnahm. Ich hatte bestimmt schon andere mit Riesenmonstern und Schwertkämpfern gesehen, aber das war in einem Alter gewesen, als man sich noch nicht drum scherte, wo die Filme herkamen. Tetsuo begeisterte mich und andere wie mich und überzeugte uns noch vor der bevorstehenden Manga- und Anime-Invasion davon, dass diese Japaner ja alle verrückt sein müssen. Wir waren jung. Heute weiß ich freilich, dass nicht nur nicht alle Japaner Filme wie Tetsuo machen, sondern die meisten Japaner diese Filme noch nicht mal kennen. Und sich am Kopf kratzen, wenn sie mit ihnen konfrontiert werden.

Den zweiten Film, Tetsuo II: Body Hammer, mochte ich nicht sonderlich. Schon die Tatsache, dass er in Farbe war, empfand ich als hollywoodmäßigen Ausverkauf. Wir waren jung. Dennoch wartete ich hibbelig auf den angekündigten Flying Tetsuo. Ein fliegender Tetsuo?! Kann man sich sowas vorstellen?! Kann man, aber der Film kam nie.

Es brauchte 17 Jahre, bis Shinya Tsukamoto sich an einen neuen Tetsuo-Film machte. Weil Tsukamoto besonders im Ausland einen Oh-diese-verrückten-Japaner-Kultstatus hat, wurde TETSUO THE BULLET MAN gleich zu 99,9% in Englisch gedreht, und den Rest der Tonspur durften Nine Inch Nails vollballern. Ob man mit dieser Verwestlichung einverstanden ist oder nicht: In 17 Jahren können Erwartungshaltungen ganz schön monströse Ausmaße annehmen. Zumal Tsukamoto zwischenzeitlich dies- und jenseits des Mainstreams bewiesen hat, dass er mehr als ein One-Hit-Wonder oder One-Trick-Pony ist (bitte schauen Sie Gemini – Tödlicher Zwilling, macht sonst niemand).

Einer der schlimmsten Füll- und Übergangssätze aus dem Baukasten der ungelernten Hobby-Filmkritik lautet: Die Geschichte ist schnell erzählt. Und wenn schon! Ob eine Geschichte schnell erzählt ist oder nicht, sagt rein gar nichts über ihren Gehalt aus. Meistens noch nicht mal über ihre Handlung, allenfalls über ihren Nacherzähler. Wer auf jeden Teenie einzeln eingeht, kann aus der Geschichte von Freitag, der 13. Teil 4 – Das letzte Kapitel einen mehrseitigen Schulaufsatz zaubern. Wer gehässig sein will oder nicht viel Platz hat, kann Robert Altmans Short Cuts in einem Satz zusammenfassen, es ist lediglich ein Minimum an Analysefähigkeit und schreiberischen Geschick vonnöten.

Das Problem von TETSUO THE BULLET MAN ist nicht, dass die Geschichte in groben Zügen schnell erzählt ist: Mann verwandelt sich zu seiner eigenen Überraschung in einen Kampfroboter und rächt den Tod seines Sohnes. Das Problem ist, dass die Geschichte nicht nur grobe Züge hat, sondern zwischen der kreischenden und donnernden Mensch-Maschine-Körperhorror-Action auch noch erzählen will, wie es dazu kommen konnte, und wie die Familie jetzt damit umgeht. Das menschliche Drama wird getragen (bzw. eben nicht) von Fließband-Dialogen, die oft fremdpeinlich sind. Und glaubwürdiger wird die Story mit Sicherheit nicht dadurch, dass der Maschinenmensch durch vergilbte Dokumente mit sepiafarbenen Fotos und altmodisch geschwungener Handschrift fummelt, aus denen er erfährt, dass seine Eltern schon lange an Maschinenmenschen arbeiteten. Wenn wir davon ausgehen, dass der Film in unserer Gegenwart spielt, und der Protagonist so alt ist wie sein Darsteller (Mitte 30), dann kommen diese Aufzeichnungen ungefähr aus den 1970ern? Vordigitales Zeitalter sicherlich, aber hatte man noch keine Farbfotos und Schreibmaschinen? Ich erinnere mich nicht mehr genau.

Darüber kann man aber direkt hinwegsehen, wenn man davon ausgeht, dass sich der ganze Tetsuo-Wahnsinn in einer Realität außerhalb der Realität abspielt. TETSUO THE BULLET MAN ist durchgehend im typischen Tetsuo-Stil inszeniert, also hektische Kamera, schnelle und assoziative Schnitte, Old-School-Spezialeffekte, und alles im Takt des Industrial-Beats. TETSUO THE BULLET MAN ist zwar in Farbe gedreht, aber die Farbe wurde dermaßen zurückgedreht, dass sie nur selten, dann aber effektiv, auffällt. Dass audiovisuelle Donnern macht jedem Spaß, der schon mal Spaß an einem Tetsuo-Film hatte. Die schwache Story macht nichts. Es sind die Dialoge, über die man trotz allem schlecht hinweghören kann. Der Film ist nachahmenswerte 79 Minuten kurz. 69 oder noch ein bisschen weniger hätten es womöglich auch getan, Kürze ist keine Sünde. Dies ist die Art von Film, wo ich ganz Mann bin: Das ganze Gequatsche raus, Hauptsache der Typ wird Kampfroboter und macht Kampfrobotersachen.

Und jetzt bitte Flying Tetsuo. Meinetwegen mit Musik von Einstürzende Neubauten oder Napalm Death oder beiden, aber bitte ohne Worte oder wie dieser Weiberkram heißt.

Hatoyama muss im Hemd bleiben!

In der Post-Koizumi-Ära ist es Tradition, dass sich ein japanischer Premierminister keinesfalls länger als ein Jahr im Amt breit macht. Jetzt hat auch Yukio Hatoyama seinen Rücktritt angekündigt, er ist schließlich schon seit letztem September dabei. Das war ein großes Hallo damals, als seine DPJ die seit gut 50 Jahren durchregierende LDP ablöste. Aber in letzter Zeit sind Hatoyamas Umfragewerte in kaum noch messbare Bereiche abgesunken, weil er in einem halben Jahr nicht alle Missstände aus 50 Jahren LDP-Regierung beseitigen konnte, und weil es ihm nicht gelungen war, alleine die Amerikaner aus Okinawa zu vertreiben.

Ich habe Hatoyama immer gemocht. Er war bescheiden und manierlich, um nicht zu sagen liebenswert schüchtern, seine Frau ist mal mit Tom Cruise im UFO geflogen oder so (fragen Sie sie selbst), und er hatte seine ganz eigene Vorstellung von Modebewusstsein. Viele seiner Hemden sind legendär, eines wurde erst jüngst als Replikat in limitierter Auflage für Liebhaber nachgeschneidert:

Ob Hatoyama politisch ein großer Verlust ist, kann man schlecht sagen, wir hatten ja kaum Zeit, ihn und seine drei Vorgänger richtig kennenzulernen. Modisch muss er aber auf jeden Fall weitermachen. Dieses Hemd darf sein Land nicht im Stich lassen.

Die hiesige Presse hatte übrigens richtig beobachtet, dass Hatoyama zuletzt bei TV-Interviews direkt in die Kamera sprach anstatt die Interviewer anzuschauen, wie er es zuvor getan hatte. Diesen Wandel hatte man auch bei seinen Vorgängern beobachten können, kurz bevor sie zurücktraten. Es war heute Morgen also kein allzu großer Schock. Ich weiß nicht, wohin Horst Köhler bei Interviews zuletzt geschaut hat. Ich bekomme hier sowas nur am Rande mit, und meistens sind die Nachrichten aus Deutschland mehr Lena als Horst.