Papier ist das neue Vinyl

In letzter Zeit ertappe ich mich häufiger dabei, wie ich mit Vergnügen wieder gedruckte Bücher lese.

Keine Sorge, dies wird nicht der 2.587.325ste Klagegesang über den Verlust von Haptik und Geruch beim Lesen.

Okay, irgendwie doch. Aber nicht ganz so kläglich wie bekannt, hoffe ich. Denn eigentlich bin ich ein vehementer Verfechter des E-Buchs. Ich würde sogar sagen: Ich bin ein Very Early Adopter des E-Readings, man. Obwohl ich sonst auf jede ganz offensichtlich großartige Innovation erst mal typisch deutsch reagiere: Bah, braucht kein Mensch, diesen Mist. Dafür geben die da oben also unsere Steuergelder aus. Der Ehrliche ist der Dumme, sage ich euch.

Dem elektronischen Buch war ich dennoch von Anfang an gewogen. Mal Hand aufs Herz: Ein Buch, das nur gefällt, wenn es riecht und schubbert, ist vermutlich kein allzu gutes Buch. Ein bisschen sollte bei Büchern auch auf inhaltliche, womöglich sogar literarische Qualität geachtet werden. Ich finde es schön, dass das Buch nun aus seinen Deckeln befreit wurde, und wie ein kleines Vögelchen mit manchmal noch unsicherem Flügelschlag (total süß, muss man sich mal vorstellen) von Gerät zu Gerät flattert und piept: „Lies mich! Lies mich! Lies mich auf dem Lesegerät! Lies mich auf dem Telefon! Lies mich auf dem Walkman! Lies mich auf dem Heimcomputer! Lies mich überall! Ja, ich will es! Ich muss mal von vorne bis hinten so richtig durchgelesen werden! Piep-piep!“

Sagte ich: Very Early Adopter des E-Readings, man? Möchte sogar sagen: Pioneer des E-Publishings, dude. In grauer Vorzeit sprach mich mal ein junger österreichischer Selfmade-Powerplayer an, der meinte, dass Handy-Literatur (also Literatur auf dem Handy, nicht Literatur über das Handy) das Nächste Große Ding sei, und er die Technologie für den Vertrieb hätte. Ich glaubte ihm, weil in Japan lief das schon wie verrückt. Da musste ich nur Manga und Sushi und eins und eins zusammenzählen und überließ ihm ein Schubladenmanuskript, das sogleich in vier Teilen als Handy Novel feilgeboten wurde.

Glücklicherweise hatte ich meine Arbeitsstelle nicht im gleichen Moment gekündigt. Der ersten (und letzten) Jahresabrechnung war später zu entnehmen, dass der erste Teil zweimal kostenpflichtig heruntergeladen worden war (einmal von mir), und die anderen gar nicht.

Inzwischen hört man vermehrt von E-Buch-Millionären, also startete ich jüngst einen erneuten Versuch, mit demselben Manuskript, aber unter anderem Namen. Millionär, das wär was. Veröffentlicht wurde überall dort, wo solche E-Buch-Millionäre halt ihre Millionen machen.

Das ganze brachte mir nur (sehr) geringfügig bessere Verkäufe als bei meinem ersten Experiment, aber immerhin schriftlichen Kontakt zu einem anderen selbstverlegenden Autoren, einen aufgeregten Fantasy-Pornografen, der mich in die große Weltverschwörung einweihte: All diese angeblichen erfolgreichen Selfmade-Literaten aus den Spiegel-Online-Artikeln und Buchmesse-Diskussionsrunden kauften ihre Bücher in großen Stückzahlen selbst, um hohe Platzierungen in den Charts der Verkaufsplattformen zu erklimmen, und ließen ihre begeisterten Kundenrezensionen ebendort von Mitverschwörern fälschen beziehungsweise erledigten auch das gleich selbst, und und und das sei voll fiese. Damit hatte der aufgeregte Fantasy-Pornograf natürlich in allen Punkten recht, nur fehlt mir bei diesem Thema angesichts schlimmerer Nachrichten aus aller Welt das Erregungspotenzial.

Jetzt schreibe ich wieder nur übers E-Buch. Dabei sollte es mir doch darum gehen, dass gedruckte Bücher auch ganz gut sind. Am besten wäre allerdings beides; wenn man ähnlich wie bei vielen Blu-rays, DVDs und Vinyl-Schallplatten zum Kauf eines physischen Buchprodukts gleich das metaphysische dazubekäme. Bei Schallplatten beeinflusst das durchaus meine Kaufentscheidung. Ich bin inzwischen trotz langer Befürwortung vom reinen Download abgerückt. Nicht aus Altersstarrsinn (medizinischer Fachbegriff: Nostalgie), sondern aus Altersgedächtnisschwäche. Wenn ich etwas nur als Datei kaufe, vergesse ich es häufig am nächsten Tag und bis in alle Ewigkeit. Schallplatten und CDs hingegen liegen irgendwo rum, irgendwann findet man sie wieder und freut sich über die heiße Mucke. Die Mehrkosten sind für einen zukünftigen E-Buch-Millionär kein Thema. Aber zusätzlich digital möchte ich die Musik trotzdem haben, weil es praktischer ist und genauso klingt. Wer ernsthaft findet, dass das nicht so ist, bildet sich was ein oder setzt beim Musikhören die falschen Prioritäten. Bei Filmen derweil ist mir die digitale Kopie schnurz. Welcher ernsthafte Filmfreund mit einem klitzekleinen Funken Selbstachtung schaut Filme auf den Minimonitoren mobiler Geräte? Früher sagte man dazu Hörspiel. Wenn ich auf einer Filmverpackung ‚inklusive Digital Copy‘ lese, falle ich wieder zurück in meine tiefdeutsche Seele und maule: Hoffentlich zahle ich für diesen Quatsch nicht extra …

Apropos typisch deutsch: Viele hier sind ja der irren Auffassung, es gehöre zu ihren unveräußerlichen Menschenrechten, dass sie mit einem Produkt machen können, was sie wollen, nur weil sie es gekauft haben. Zum Beispiel 10.000 exakte Kopien, falls mal 9.999 kaputtgehen. Und wenn man diesen Menschen sagt, sie sollen nicht albern sein, werden sie bockig. Ich will mitnichten darauf pochen, dass ich als Buchkäufer ein Recht auf alles Mögliche hätte. Freuen würde mich aber ein Entgegenkommen seitens der Verlage in der o.g. Angelegenheit schon. Ich schlackere allerdings mitunter mit den Ohren, welche Rechte ich tatsächlich bereits habe. Vor ein paar Jahren war mir aus einer Laune heraus nach elitärem Bezahlfernsehen. Als das vorne und hinten nicht funktionierte, ließ ich einen Techniker kommen, der ebenfalls ratlos vor der Dose stand und mir mit vor Pathos bebender Stimme auftrug, ich möge mich an meinen Vermieter wenden, denn: „Sie haben ein Recht auf digitales Fernsehen!“ Da wurde mir gleich ganz patriotisch in der Brust. Ich fand es eigentlich schon vergleichsweise ausreichend, in einem Land zu leben, in dem ich ein Recht auf körperliche Unversehrtheit, Nahrung, Wasser, Wärme und Würde habe. Huch, ich hätte fast Würste statt Würde geschrieben.

Christian Krachts gegenständlich und inhaltlich schönes neues Buch Imperium gibt es nicht digital [korrigiere: gibt es mittlerweile wohl]. Dieses war eines von einigen Büchern, die mich in jüngster Zeit vermehrt zurück zum gedruckten Buch ge- beziehungsweise verführt haben. Das hat nur bedingt mit der hübschen Umschlaggestaltung, dem guten Material und dem geschmackvollen Schriftbild zu tun. Hätte das Buch, zum Beispiel, 1056 Seiten, wie, zum Beispiel, der neue Stephen King, wäre mir das Südsee-Cover, das Lesebändchen und der sonstige Manufactum-Klimbim nach 20 Seiten herzlich schnuppe gewesen, und ich hätte mich umgeschaut, ob nicht irgendwo im Internet eine Sicherheitskopie abliegt (nicht aufregen, rechtmäßig bezahlt hätte ich ja bereits). Das Buch hat allerdings genau 800 Seiten weniger und fällt somit in den Bereich, in dem ein Buch als Buch lesenswerter ist denn als E-Buch. Da Literatur in Deutschland häufig in Pfund gemessen wird, spricht mancher verhalten abfällig über den vermeintlichen Mangel an Umfang dieses Werkes. Ich aber sage: Das ist genau der richtige Umfang! Büchern, die 400 Seiten deutlich überschreiten, sollte man misstrauen, sie sind im Regelfall geschwätzig und unliterarisch. Ausnahmen gibt es, allerdings nur selten (siehe besagten letzten King). Als Faustregel könnte man aufstellen: King digital, Kracht gedruckt. Es würde mich nebenbei sehr wundern, dieses Jahr noch zwei bessere Bücher zu lesen als diese beiden. Ich werde es trotzdem versuchen.

Warum dann nicht Kracht auch gleich digital, wenn E-Bücher so toll vögelchenflatterhaft sind? Weil man nach jahrelanger E-Lektüre feststellt, dass das Lesen am Lesegerät auf Dauer etwas unangenehm Gleichmacherisches hat. Meines simuliert zwar das Buch als Konzept nahezu perfekt, nur ist es sinnlich immer dasselbe Buch. Nun ist jedes Buch eine eigene Welt, da haben die Phrasendrescher ausnahmsweise recht. So zermürbt es zusehends, wenn die Verpackung bei allen gleich ist, denn die gehört zum Weltendesign dazu.

Warum dann nicht gleich nur noch gedruckt, ging schließlich früher auch? Das ist auch doof. Dass etwas früher ging, bedeutet ja nicht, dass es heute nicht besser gehen darf. Kein Lesegerät schlägt die Haptik eines kompakten Buches, aber jedes Lesegerät schlägt die Haptik eines Backsteins. Darüber hinaus ist Abwechslung eine schöne Sache. Nach vielem Gedruckten freue ich mich jedes Mal, wenn ich als Leser den Reader wieder zur Hand nehmen darf, mitunter sogar für spindeldürre Lektüren.

Ich teile übrigens nicht die häufig gehörte Kompromissauffassung, das E-Buch-Format sei schön und gut für flüchtige Trendlektüre, aber Lebensbücher müssten auf jeden Fall gedruckt und schwer im Regal ächzen. Würde direkt sagen: Eher im Gegenteil. Meine E-Bücher habe ich so gut wie immer komplett bei mir, quasi nah am Herzen, sie werden garantiert auch jede Lebensraumverschiebung mitmachen. Meinen Druckbüchern kann ich diese Garantie nicht ausstellen.

Zur Causa Kracht fällt mir außerdem ein, falls ich mal kurz über mich selbst sprechen darf: In meinem eigenen Buch Gebrauchsanweisung für Japan habe ich neulich auf Seite 145f. zu meiner Empörung diese Textstelle gefunden:

Nie würde ich auf die Idee kommen, eine Postkarte mit folgendem Wortlaut zu verfassen: „Hallo Mami, bei den Schlitzaugen gefällt es mir wie immer gut, liebe Grüße aus Yokohama.“

Herr Diez, übernehmen Sie! Lassen Sie das nicht so stehen! Bitte reißen Sie das markierte Wort sofort aus dem Zusammenhang (es ging um Langnase und andere Schmähwörter) und schreiben Sie einen entlarvenden Gedankengutartikel für ein auflagenstarkes ‚Nachrichten‘-Magazin. Ich könnte noch ein paar verkaufte Einheiten gebrauchen zur Finanzierung meines Bibliothekanbaus.

Und zur Causa Causa fällt mir ein, dass das ein ganz schreckliches Modewort ist, für dessen Verwendung ich mich in aller Form entschuldige. Wann ging das eigentlich los, dass alles Causa sein muss? Kachelmann?

Ist auch egal, zurück zum Thema: E-Bücher sind gut, P-Bücher sind gut, alles ist gut. In umsichtiger Dosierung. Mein einziges größeres Problem mit dieser ganzen E-Buch-Geschichte sind meine kulturpessimistischen Bedenken, dass kommende Lesegenerationen nicht mehr zwischen richtigen (also von kompetenten Fachkräften sorgfältig ausgewählten, betreuten, redigierten und gestalteten) Büchern und selbstverlegten Egotrips werden unterscheiden können. Viele haben schon jetzt Schwierigkeiten damit. Leider sind 99,9% der sogenannten Indie-Autoren (Euphemismus für unverlegte Egotripper) geistige Geschwister einer drolligen Nebenfigur aus dem Film Schmeiß die Mama aus dem Zug. Es ist mehr als 20 Jahre her, dass ich den gesehen habe, ich bin also alles andere als zitierfest. Es gibt da jedenfalls einen Herrn in einem Creative-Writing-Kurs, der ganz stolz ist auf sein Epos 200 Frauen, die ich gerne schweinigeln würde. Wie gesagt: Ist etwas her. Vielleicht sind es mehr oder weniger Frauen, vielleicht ist der Titel im Detail ein wenig anders. Aber die Kernaussage stimmt. Heute bleibt derlei leider nicht hinter den Mauern der Erwachsenenbildung gefangen, sondern wird direkt ins Netz geschweinigelt.

Verlage sind nicht Feinde der Autoren, sondern Freunde der Leser. Es kann selbstredend gut sein, dass hin und wieder ein Autor eines tatsächlich brillanten Werkes nicht mal den kleinsten seriösen Kleinstverlag von einer Veröffentlichung überzeugen kann. Dann ist es ein potentieller Gewinn für die Welt, dass es Selfpublishing gibt. Leider wird die Welt aber von diesem einen brillanten Werk gar nichts mitbekommen, denn sie ertrinkt in abertausenden Schweinigel-Titeln. Möglich, dass sich dieses Missverhältnis beizeiten selbst reguliert. Sehr zuversichtlich bin ich jedoch nicht; Qualität setzt sich äußerst selten durch.

Oh je, jetzt ende ich mit gesenktem Blick und geschürzter Unterlippe, dabei sollte es um erfreuliche Dinge gehen. Lesen wir zur Zerstreuung ein wenig Trivialliteratur, zwei gelungene Exemplare der Gattung habe ich unlängst besprochen (als E-Bücher, gibt’s aber auch so):

Neil Cross: Luther – die Drohung

Jeffery Deaver: Carte Blanche

Es ist offiziell: Fips Asmussen übernimmt „Wetten dass ..?“

Huch, war doch nur ein Traum. Ein Traum, der im harschen Licht der Leselampe zerplatzt wie eine Seifenlase an einem Amboss, auf dem ein Dunkelgnom eine Schattenklinge schmiedet, in einem scheußlichen Fantasy-Roman voller misslungener Metaphern.

Ich habe Wetten dass ..? nicht mehr gesehen, seit Frank Elstner das nicht mehr macht. Dass das so ein junger Luftikus mit langen Haaren übernommen hat, kann ich bis heute nicht gutheißen. Wenn es mit dem deutschen Fernsehen so weitergeht, dann haben wir bald amerikanische Verhältnisse, wo jeder zehn oder sogar zwölf Sender empfangen kann und die Kinder Coca-Cola trinken dürfen.

Gestern aber wollte ich mal nicht so sein, es ist schließlich Weihnachten, und mal wieder in die beliebte Samstagabendshow hineinschauen. Leider bin ich nach fünf Minuten erneut eingenickt und dabei wohl an der Fernbedienung aufgeschlagen, aber jetzt weiß ich, wie es wirklich ist: Pierce Brosnan übernimmt Wetten dass ..?! Und Thomas Gottschalk wird der neue Bond, in Doppelmoderation mit Mike Krüger, der auch den Song zum neuen Agenten-Abenteuer GoldNasen einsingen und sich dabei auf der Gitarre begleiten wird.

Ansonsten gibt es zu gucken und zu lesen:

Black Butler 1

Tom Rob Smith: Agent 6

Statt R.E.M.-Nachruf: Kein R.E.M.-Nachruf, sondern ein Fahndungsaufruf

Der Flug FRA-PVG ist eine gute Gelegenheit, sich mal wieder alle R.E.M.-Platten auf dem portablen Plattenspieler anzuhören.

So sollte mein versöhnlicher R.E.M.-Nachruf beginnen, den ich schon vorvorgestern hochdroben inmitten von Turbulenzen in meinem Notizblock krakelig vorskizziert hatte. Aber ich bin jetzt doch zu aufgewühlt dafür. Nicht, weil die Band, die zuletzt besser war als zuvorletzt und immer besser als ihr Ruf in der blasierten, gehörlosen Schweinepresse, sich aufgelöst hat, sondern weil mein iPod schanghait wurde! Ich benutze diesen schönen Ausdruck aus meiner Seefahrerzeit nur, weil er örtlich gerade so gut passt, wahrscheinlich walteten aber keine kriminellen Kräfte. Entweder im Flugzeug oder im Flughafentaxi liegen gelassen. Ich ringe keineswegs so sehr mit der Fassung, wie es richtige Materialisten in meiner Lage wohl täten, denn ich erinnere mich noch daran, dass Besitz dich besitzt. Aber ein klitzekleines bisschen ringe ich doch. Der iPod darf nicht in falsche Hände geraten. Keiner soll wissen, dass ich heimlich Spice Girls und Kasabian höre. Und woher die Mitschnitte von Maid Deka und Deka Wanko kommen, kann ich zwar erklären, aber nicht gut.

Sollte Sie jemand auf der Nanjing Road (Abb.) ansprechen auf ein unverbindliches Interesse an „watch-dvd-iphone-massage“, sagen Sie bitte sofort verbindlich: „Aber ja! Her mit dem Zeug! Ich zahle jeden Preis!“ (mein Wertvoller Reisetipp des Tages) Fragen Sie gegen, ob dieser Fachhändler auch einen iPod Classic in geschmackvoller japanischer Gothic-Verkleidung mit schwarz-rotem Rosenmuster und farblich passenden Sony-Kopfhörern im Programm hat, dessen Abspiellisten von „… But Alive“ bis „Irgendwas mit Schriftzeichen“ gehen. Das ist meiner! Unscharfe Fotos finden Sie hier und hier. Ich bin bereit einen geringen, von Herzen kommenden Finderlohn zu zahlen. Oder eine DVD oder Massage.

Was mich mehr bewegt als die Frage nach dem Verbleib des Plasteklumpens: Wenn R.E.M. sich getrennt haben, heißt das dann, dass U2 gewonnen haben?! Das darf doch nicht wahr sein!!!

Jubiläum: Der 100. Eintrag! (Wiederholung)

Wider besseren Instinkt las ich die Woche ein Interview mit dem hauptberuflichen Schallplattenindustrieerklärer Tim Brenner, in dem Ohrenschlackernmachendes zu erfahren war. Zum Beispiel, dass die Schallplattenindustrie die digitale Revolution verschlafen habe, und dass das Album als Format überholt wäre, denn es sei überhaupt nur aus technischen Notwendigkeiten heraus entstanden (mehr als eine Dreiviertelstunde ging halt nicht drauf) und keineswegs aus künstlerischer Erwägung. Also weg damit.

Wäre ich eine gezeichnete Ente, würde ich sagen: Seufz. Ich müsste vielleicht weniger oder könnte leiser seufzen, würde diese Unwahrheit nicht seit Jahr und Tag landaus, landein von jedem Plappermaul als Wahrheit verkauft werden. Ich habe zwar das Album als solches hier schon einmal als die relevanteste und schönste aller musikalischen Darreichungsformen gepriesen, aber ich tue es gerne noch einmal, weil erstens das Netz das vergesslichste aller Medien ist, zweitens andere ja auch ständig dasselbe sagen (j’accuse, Tim Brenneur!), und drittens mir unlängst erst wieder bewusst geworden ist, wie recht ich habe.

Es sollte bekannt sein, dass die Gründe, aus denen etwas entsteht, und die Gründe, aus denen es fortbesteht, nicht dieselben sein müssen. Das Album mag seine klassische Länge schnöden Kapazitätsproblemen verdanken. Dass es sich aber über Jahrzehnte bewährt hat, liegt daran, dass diese Länge durch einen glücklichen Zufall genau die richtige war und ist. Mit einem Album hat man was in der Hand, und das nicht nur im buchstäblichen Sinne, sondern vor allem im übertragenen. Mit einem Download-Album hat man musikalisch ebenso viel in der Hand wie mit einer Polyvinylchloridplatte. Klein-klein aus dem Analog/Digital-Grabenkrieg soll an dieser Stelle keine Rolle spielen, Musik ist Musik. Rund 10 Songs, mit denen man sich beschäftigen kann und muss. Das tut man auch, und zwar intensiv und gerne, denn 10+X neue Songs eines geschätzten Künstlers auf einmal zu bekommen ist ein Ereignis, für das man mal kurz mit Twittern aufhört. Anders verhält es sich mit einzeln veröffentlichten Songs. Da hört man mal rein und macht nach der Hälfte aus, wenn es nicht auf Anhieb als Meisterwerk erkennbar ist (was machen noch mal die Smashing Pumpkins heute?). Ähnlich bei Darreichungsformen des anderen Extrems. Wer hört sich schon CD-Boxen so intensiv an, wie sie es möglicherweise verdient hätten? Ich habe einen recht genauen Eindruck des ersten Drittels des letzten Dreier-Albums von Joanna Newsom, aber danach verschwimmt alles, und man weiß nicht, ob es Newsoms oder Neuenkirchens Schuld ist. Ich habe außerdem den vagen Verdacht, dass besagtes ein stärkeres Werk hätte werden können, hätte man mit Mut zum Mülleimer aus den hammermäßigsten Krachern der drei Mini-Alben ein einziges Album von moderater Länge gemacht. Aber das ist nur geraten, für eine fundierte Meinung müsste ich erst mal dazu kommen, mir die zweite und dritte Scheibe genauso aufmerksam anzuhören wie die erste.

Wenn nun einer behauptet, wie das die Woche einer in einem Interview getan hat, das Album sei „keine Kunstform“, dann hat der unrecht. Selbstverständlich ist ein anständiges Album hohe Kunst in Inhalt und Form, denn es handelt sich nicht nur um eine Zweckgemeinschaft einzelner Songs, sondern um ein Gesamtwerk, dessen Summe blabla Einzelteile blabla, Sie wissen schon. Das gilt, Gott bewahre, keineswegs nur für ausgesprochene Konzeptalben. Wobei es auch mal an der Zeit wäre, die ständig unreflektiert nachgeplapperte Pauschalkritik an diesem Genre zu überprüfen, und es nicht immer nur an seinen schlimmsten Beispielen zu messen. Im Grunde ist jedes auf dem üblichen Wege entstandene Studioalbum ein Konzeptalbum, denn Auswahl und Reihenfolge der Songs folgt einem dramaturgischen Konzept. Die Songs stehen nicht nur für sich selbst, sondern auch in Beziehung zueinander, und sie repräsentieren die verantwortlichen Künstler in einer bestimmten Phase ihres Lebens und Schaffens. Deshalb sind Hit-Sammlungen und andere Kompilationen meist so unbefriedigend, es fehlt zum einen das dramaturgische Auf und Ab, vor allem aber das einende je ne sais quoi.

Das bisher beste Album des laufenden Jahres ist bekanntlich Ninth vom vielversprechenden Nachwuchstalent Peter Murphy. Es ist ein Paradebeispiel für ein gelungenes Album, weil es nicht nur voller guter Songs ist, sondern weil man das erst dadurch merkt, dass es ein Album ist. Da gibt es Lieder, die sofort gefallen, etwa die mopsfidelen Velocity Bird oder Memory Go. Dann die, die man im zweiten Durchgang mitnimmt, zum Beispiel die poetisch-spinnerten I Spit Roses oder Seesaw Sway. Diese Songs hätte man womöglich auch bemerkt und für gut befunden, wenn sie für sich irgendwo rumgeflogen wären. Aber dann gibt es auch so etwas wie das brummige Secret Silk Society, das das erste, zweite, dritte … Mal nach typischem Füllmaterial klingt, bis man seinem dunklen Sog erliegt. Als vorletztes Stück kommt es an genau der richtigen Stelle im Gesamtzusammenhang, man wird dem Sog wieder sanft entrissen vom Rausschmeißer Crème de la Crème, den ich zunächst für zu beschaulich gehalten hatte. Als Kontrast zum Vorgänger und als Abschluss des Albums ist er aber ganz wunderbar. Solche Lieder brauchen Zeit zum Gedeihen, und das geht nur, wenn sie in ein Album gepflanzt sind. Als itunes-Hörproben haben sie keine Chancen.

Selbst wenn man langweilig, also aus Sicht der Wirtschaft und des Marketings, an die Sache herangeht, ist das Album als solches unverzichtbar. Auch wenn es sich nicht mehr so gut verkauft wie zu Zeiten, als das Kino noch zwei Groschen gekostet hat, Fußball Männersache war und der Pfannkuchen wie Pfannkuchen schmeckte, so ist es doch als Aufhänger für mediale Öffentlichkeit und weitere musikalische Aktivitäten nicht zu ersetzen. Welches Leitmedium berichtet schon darüber, wenn jemand einen neuen Song ins Internet stellt? Bei einem ganzen Album sieht das anders aus. Gerne weisen Schallplattenindustrieerklärer darauf hin, dass der große Reibach heute auf der Bühne gemacht wird. Das ist schön, da gehört Musik hin. Aber eine Tournee ohne reichlich neues Material (Sie haben es erraten: Album!) hat etwas Trauriges, da verkommt ein Künstler schnell zur eigenen Cover-Band.

In diesem Sinne: Man sieht sich beim Konzert am 23. 10.

Adam and one and a half Ants: Winning!

Ich nutze Flugreisen vor allem dazu, mir auf Flughäfen stapelweise Zeitschriften zu kaufen, die ich dann doch nicht lese. Aber bei dieser wusste ich sofort, dass ich eine Ausnahme machen würde:

Adam Ant auf dem Cover einer Musikzeitschrift? Eigentlich eine Selbstverständlichkeit! Zirka 1981.

Die Älteren hier kennen Adam Ant als „den ersten coolen Typen in der Popmusik, der Make-up trug.“ Das sagte einmal sinngemäß irgendeine behauptete Autorität. Und das stimmt natürlich, solange man David Bowie, Marc Bolan und knapp 10.000 andere mal außer Acht lässt. Die Jüngeren kennen Adam Ant, wenn überhaupt, als den Charlie Sheen der britischen Popmusik: Kein Job, aber große Klappe, gut dokumentierte Krankheitsgeschichte und gelegentliche Live-Auftritte in Begleitung zweier Göttinnen. Seit längerem ist die Rede von einem neuen Album mit dem unverrückten Titel Adam Ant Is the Blueblack Hussar in Marrying the Gunner’s Daughter, was nun fertig ist und bald (ca. 2012) erscheinen soll, nach der aktuellen World Tour of London.

Adam Ant ist wie Star Wars: Man tut so, als wäre es einem inzwischen piepegal, aber liest heimlich doch jede Meldung. Es ist verständlich: Als ich zum ersten Mal „Stand and Deliver“ hörte, hatte es mein Leben verändert. Ich wusste, dass ich fortan meine eigenen Platten kaufen würde (müssen). Noch heute werde ich ganz aufgeregt, wenn morgens das Posthorn geht. Es wurmt mich nachwievor, dass ich den Adam-Ant-Bravo-Starschnitt zwar fast komplett, den linken Bauch aber verpasst hatte.

Mit gereiften Ohren und weitergedrehtem Erdenrund hört man, dass im Ant-Oeuvre viel Unsinn ist, aber überraschend vieles hat weiterhin einen Reiz, der über niedere Nostalgie hinausgeht, ist so originell, energetisch und relevant wie eh und je. Manches versteht man als schuldiger Erwachsener sogar besser denn als unschuldiger Hosenmatz.

Im vorliegenden Interview gibt Adam Ant sich so, wie wir ihn in letzter Zeit kennen und zu nehmen gelernt haben. Er flucht und raucht viel, spricht von fast fertigen neuen Großtaten, kündigt neben dem Album eine Ants-Reunion mit Terry Lee Miall und Kevin Mooney fürs kommende Jahr an und behauptet vieles, weil das Interview lang ist. Zum Beispiel, dass er die Ants nur aus väterlichem Instinkt aufgelöst habe, um die Mitglieder vor sich selbst zu schützen, und dass er den Cooler-Pirat-Look erfunden hätte, den Johnny Depp geklaut hat. Nein, Adam, den haben Piraten-Filme erfunden. Und Johnny Depp läuft nur in einem solchen so rum. Außerdem sagt Ant: „Die Definition von Bipolarer Störung ist promiskuitiven Geschlechtsverkehr zu haben, sich ungewöhnlich anzuziehen und zu verhalten.“ Nein, Adam. Ich bin zwar kein Mediziner, aber ich glaube nicht, dass das die Definition ist. Aber was weiß ich. Ich bin nur ich, und Adam ist ein „Warrior“ (Unterschied zum Warlock: Kann schwere Waffen und Rüstungen tragen, hat aber keine magischen Fertigkeiten).

Recht hat Ant freilich, wenn er behauptet, der einzige lebende authentische Punk-Rocker zu sein. Dafür stehen schon die Aussagen, mit denen er unrecht hat. Das Interview macht Lust auf mehr authentischen Punk-Rock for Antpeople, und ich hoffe aufrichtig, dass Adam Ant Is the Blueblack Hussar in Marrying the Gunner’s Daughter ein großer Wurf wird. Wenn nicht: Auch nicht schlimm, das Leben ist weitergegangen.

Dass das Magazin Vive Le Rock so heißt wie das (bislang) beste Album Adam Ants, ist erklärtermaßen kein Zufall. Dass also auf das Ant-Interview ein Artikel über The Wolfmen folgt, das neue Projekt der ehemaligen Ant-Wegbegleiter Chris Constantinou und Marco Pirroni, ist nicht weiter verdächtig. Aber je weiter ich blätterte, desto mulmiger wurde es mir. Da kam ein (aktuelles) Interview mit New Model Army, die Kritik eines (kürzlichen) Konzerts von Spear of Destiny, und im Anzeigenteil wurden (anstehende) Auftritte von The Levellers und Sigue Sigue Sputnik annonciert. Panisch schlug ich das Heft zu und lebte wieder in der richtigen Gegenwart. Aber jetzt weiß ich: Paralleluniversen sind kein Science-Fiction-Schnickschnack. Was ist wohl in der Dimension von Vive Le Rock geschehen, das den Lauf der Geschichte dort derartig verändert hat?

Nena, Blümchen, Miyavi, meine Güte wie die Zeit vergeht (oder eben nicht)

Es ist schon eine Weile her, dass ich zum letzten Mal bei einem Konzert war, bei dem vorne Teenager kreischen und Ärmchen in die Luft recken, während hinten der erziehungsberechtigte Fahrdienst wartet und milde lächelt. Über eine Woche ist das schon her. Da war nämlich das Konzert von Miyavi, einem jungen japanischen Gitarrengott, wenn auch kein Songwritergott, der in Japan in erster Linie dafür bekannt ist, dass er im Ausland bekannt ist.

So fürchterlich bekannt scheint er im Ausland auch nicht zu sein, der mittelkleine Münchner Austragungsort war mit etwas gutem Willen gerade mal zu einem Drittel gefüllt. Rein akustisch war davon aber nichts zu merken, der harte Kern machte einen Krach wie ausverkauft und überbucht. Miyavi selbst war auch nicht leise, aber es war doch das Gekreisch der Anerkennung und Wertschätzung, das noch außerhalb der Halle in einigen hundert Metern Entfernung gut zu hören war, und mich nach langem Herumirren aufgrund altersbedingter Orientierungslosigkeit doch noch mit leichter Verspätung zum Konzert finden ließ, das offenbar mit löblicher japanischer Pünktlichkeit begonnen hatte.

Dass man mich hier als zahlenden Konzertbesucher aus freien Stücken und ohne minderjährige Begleitung nicht für voll nahm, machte man mir bereits beim Einlass unmissverständlich klar. Niemand wollte meine Karte sehen. Aber ich bestand erstens auf Kontrolle der Eintrittskarte, zweitens auf Durchsuchung meiner Herrenhandtasche. Auch alte Menschen haben ein Recht auf Schikane! Nur weil wir nicht mehr so glänzendes Haupthaar haben wie Miyavi gehören wir längst nicht aufs gesellschaftliche Abstellgleis!

Billige Spötter könnten anmerken, dass das Konzert nicht nur wegen der hysterischen Stimmung voller als tatsächlich wirkte, sondern dass die Größe von Miyavis Ego ebenfalls nicht wenig Raum einnahm. Dazu sage ich in spöttischem Tonfall: „Was?! Ein Rockstar mit einem gesunden Selbstbewusstsein?! Was fällt dem ein! Der bringt noch die ganze Rockmusik in Verruf!“

Miyavi beherrscht die einstudierte Mischung aus großen Gesten und Tuchfühlung, die ich von einem Rockstar erwarte. Rockmusik ist in erster Linie Unterhaltungs- und Dienstleistungsgewerbe, die Revolution ist spätestens seit Elvis‘ erster Goldenen Schallplatte vorbei (1956, für 1.000.000 mal ‚Don’t Be Cruel‘, heute braucht’s weniger), allerspätestens seit ‚Muss i denn zum Städele hinaus‘ (1960). Nichts ist furchtbarer als sauertöpfische Authentizitätsrocker, die meinen, sie müssen so vor ihr Publikum treten, wie sie sich gerade fühlen, in der Annahme, sie spielten die Musik für sich und nicht für die zahlenden Gäste. Nein, sie müssen sich gefälligst zusammenreißen und ihre Arbeit machen, und zwar mitreißend und gut, sonst gehe ich das nächste Mal zu jemand anders. Ein Anlageberater sagt sich ja hoffentlich auch nicht: „So, heute ist mir eine Laus über die Leber gelaufen, da gebe ich aus Authentizitätsgründen mal eine schlechte Anlageberatung. Rock’n’Roll!“

Miyavi liebt sein Publikum aufrichtig. In dem Sinne, dass er es aufrichtig liebt, Publikum zu haben. So muss das sein, da erwidere ich die Liebe gerne. Natürlich nicht in erster Reihe, sondern hinten mit den Eltern. Also, nicht mit meinen Eltern. Aber ich denke sogleich an sie, denn sie standen auf ganz ähnlichen Plätzen vor vielen Jahren, während ich vorne zu Nena oder Extrabreit voll abmoshte. Drolliges Detail am Rande des Geschehens: Heute werden der ehrenwerte Extrabreit-Sänger Kai Havaii und ich in literarischen Belangen von derselben Agentur vertreten. Das hätte ich mir damals, als kleines Mädchen aus der Vorstadt mit einem Nasenring aus Phosphor, auch nicht träumen lassen.

Ich erinnere mich gerne an die Konzerte von vor 20 Jahren und an das von letzter Woche (an letzteres etwas besser, noch). Andere haben auch schöne Erinnerungen. Mein liebster Youtube-Kommentar zum Miyavi-Konzert:

…. außerdem hab ich seine spucke in den mund bekommen^^….

Da zeigt sich, dass junge Menschen gar nicht so verzogen sind, wie vielfach angenommen wird. Auch mit kleinen Dingen kann man ihnen eine Freude machen.

Zwischen meiner eigenen Ärmchen-reck-Phase und dem Miyavi-Konzert war wohl das einzige ähnliche Ereignis, dem ich beiwohnte, ein Blümchen-Konzert in den Neunziger Jahren, das ich mit journalistischem Auftrag besuchte. Ich kam als blasierter Gästelistenschnorrer, ich ging als stolzer und glücklicher Besitzer einer selbst bezahlten ‚Blümchen‘-Wollmütze. Auftritt und Privataudienz hatten mich restlos von Fräulein Blümchens Qualitäten als Mensch und Entertainer überzeugt. Ich hoffe dennoch, dass Blümchen, die heute unter dem Pseudonym Jasmin Wagner schauspielert, mit einem Comeback noch mindestens bis 40 wartet, um es für alle interessanter zu machen. Ich würde jedenfalls kommen, mit meiner Mütze. Ich habe sie noch irgendwo, finde sie aber gerade nicht, weil ich kürzlich aufgeräumt habe. Dies hingegen habe ich natürlich immer griffbereit:

(Warum dort „Für Blohm & Voss“ steht, ist eine lange Geschichte, deren Erzählung auf unbestimmte Zeit verschoben werden muss.)

Eines verbindet Blümchen und Miyavi über die unübersehbare äußerliche Ähnlichkeit hinaus: Es macht Spaß ihnen dabei zuzusehen und zuzuhören, wie sie auf der Bühne das tun, was sie am besten können. Bei Miyavi ist das Gitarrespielen, bei Blümchen habe ich vergessen, aber da war etwas. Miyavi ist ein so exzellenter Gitarrist, dass es nicht weiter stört, dass seine Songs kompositorisch und lyrisch Quatsch sind. Entscheidend ist, wie es hinten rauskommt. Der Ton macht die Musik. Ich würde jederzeit wieder zu einem seiner Konzerte gehen. Ob ich mir je wieder eines seiner Alben besorgen würde, würde ich mir zweimal überlegen, und es dann wahrscheinlich doch tun, wie ich mich kenne.

Eine Mütze habe ich mir diesmal nicht gekauft, aber ein T-Shirt. Freilich trage ich es nur beim Sport, also fast nie. Mein gespanntes Verhältnis zu beschrifteter Bekleidung thematisierte ich bereits in meinem Aufsatz Judas rennt über meine spät erblühte Liebe zum Dauerlauf. Weil zitieren einfacher ist als neu formulieren:

Für obenrum habe ich beschlossen, meine alten Bandshirts aufzutragen. Obwohl das eigentlich hochgradig inkonsequent ist. Ich habe mir im Alltag nicht viele modische Regeln auferlegt, ganz bestimmt nicht. Vielleicht im mittleren zweistelligen Bereich, würde ich sagen, konservativ geschätzt, um mal eine Hausnummer zu nennen. Und bei den meisten lasse ich auch mal Fünfe gerade sein, wenn gerade keiner guckt. Aber bei allem Laissez-faire, zwei Bekleidungsregeln erlauben keinen Interpretationsspielraum und müssen unbedingt in jeder Situation befolgt werden, auch beim Sport und auf dem Sterbebett:

  • 1. Männer über 12 tragen keine kurzen Hosen.
  • 2. Männer über 22 gehen nicht beschriftet aus dem Haus.

Für den Sterbebettfall muss man zwar nicht zwangsläufig aus dem Haus gehen, aber Sie wissen schon, wie es gemeint ist. Wie ein Cowboy bevorzugt in seinen Stiefeln stirbt, möchte ich gerne in langer Hose entschlummern, sobald es an der Zeit ist. Und nach Möglichkeit nicht in einem T-Shirt, auf dem steht: New Model Army 51st State Tour 1987.

(Zitat Ende. Zitiert nach mir selbst, da kann mir keiner was.)

***

Erstaunlich, wie schnell man Kreisch-Konzert-Verhältnisse trotz langer Abstinenz wieder als Normalzustand wahrnimmt. Anfangs dachte ich noch mit leicht distanzierter Elternmeinung: Wenn dieser Miyavi zwischen den Songs auf die Gitarre boxt, kreischen dann alle, weil sie daran wirklich erkennen, welches das nächste Lied ist, oder kreischen die bloß, weil er auf die Gitarre geboxt hat? Aber bald war mir wieder eingefallen, dass das egal ist.

Ein paar Tage später besuchte ich das Münchner Konzert von Anna Calvi, bei dem Anna Calvi erwartungsgemäß die Jüngste war. Es ist nicht bedeutungslos, dass mir das Calvi-Album als große, schwarze Kunststoffschallplatte vorliegt, das von Miyavi als ungreifbarer Download. Das Konzert war gut, die Stimmung auch, dann geschah das Unfassbare: Frau Calvi trank einen Schluck Wasser (direkt aus der Flasche, so sind die jungen wilden Dinger), und irgendwas fehlte. Da fiel es mir ein: Wieso kreischt denn keiner?! Sie hat doch einen Schluck Wasser getrunken! Und da wiederum fiel mir ein: Ach ja, ich bin hier ja der einzige Teenie.

Meiner strikten Ablehnung der Hobbyfilmerei bei Konzerten habe ich gut versteckt in einem überlangen früheren Beitrag Luft gemacht. Weil wir Menschen vom Planeten Erde aber so wunderbar widersprüchliche Naturen sind, habe ich kein Problem damit, hier die Hobbyfilmerei eines anderen zu klauen:

P.S.: Ich wollte es eigentlich geschmeidig in den Text einfließen lassen, aber man wird vergesslich mit dem Alter: Ich danke sehr herzlich der Leserin, die mich auf die Miyavi-Tour überhaupt erst aufmerksam gemacht hat. Sie weiß, wer sie ist, wenn sie noch nicht so vergesslich ist, wie ich es bin. Und ich wünsche weiterhin alles erdenkliche Gute.

Zwei Schweineartikel, die ich zum Glück nicht geschrieben habe (und weitere Schweinereien)

Selbstverständlich habe ich ein iPig gekauft, Sie ja hoffentlich auch.

Es hat einen guten Klang und ist kleidsam für jeden Raum. Seit Wochen will ich meine Freude mit der Welt teilen, doch fehlen mir die Worte. Zwei halbgare Fragmente warteten Internet-Ewigkeiten im Entwurfslimbo, bis ich mir eingestehen musste, dass ich am Schwein gescheitert bin. Unser Verhältnis bleibt ungetrübt, wir werden weiterhin wunderschöne Stunden miteinander verbringen, das kleine Ferkel und ich, aber wir werden sie für uns behalten. So wie diese beiden Artikel, die nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken werden:

1. verworfener Schweineartikel: 10 Dinge, die man zu seinem iPig sagen kann

Es gibt im Deutschen unglaublich viele Redewendungen und Verbalinjurien um Schweine, Säue und Ferkel, eine lustiger als die andere. Aber wenn man davon wirklich etwas Sinnvolles zu seinem Musikschwein sagen möchte, bleiben mal gerade drei übrig:

  • „Komm raus, du Sau!“ (bei Erhalt der Ware)
  • „Ich glaub, mein Schwein pfeift!“ (bei Bedienungsfehler oder Bobby McFerrin)
  • „Das ist doch Schweinerock!“ (Led Zeppelin u.ä., hab ich aber nicht)

Zugegeben, ich bin schon auf 10 gekommen, aber darunter ist wenig mit direktem Schwein- und Musikbezug, und viel verzweifelt Sinnloses, wie: „Es gibt Schweinelachs!“, oder: „Hic porci cocti ambulant!“ Damit macht man dem Tier nur Angst.

2. verworfener Schweineartikel: Das total süße, schielende Schweinchen (Internet-Kult!) sagt die Oscar-Gewinner voraus

Pustekuchen! Gar nichts hat das Schwein gesagt! Und ich bin in dieser Angelegenheit viel zu leidenschaftslos, um Ihnen hintenrum durchs Schwein eigene Prognosen oder Wünsche unterzujubeln. Das hat das Schwein nicht verdient, und Sie auch nicht. Ich habe keinen Favoriten. Ich werde sogar zum ersten Mal seit Jahren gut gelaunt früh zu Bett gehen anstatt mürrisch aufzubleiben. Nein, es hat nichts damit zu tun, dass der famose offizielle Vorschlag der japanischen Delegation gar nicht erst für den Fremdsprachenoscar nominiert wurde. Oder dass mein Favorit für den Englischoscar, den ich ja gar nicht habe, genau genommen bloß ein Abklatsch eines japanischen Films ist.

Abklatsch ist ja auch nicht mehr schlimm. Kein Schwein muss um sein Amt fürchten, wenn es etwas abklatscht oder abklatschen lässt. Nationaler Skandal ist das nur, wenn es ein minderjähriges Mädchen in einem ausgedachten Roman tut. Wenn es erwachsene Männer in wissenschaftlichen Arbeiten und Lebensläufen tun, zum Beispiel, ist es halb so wild.

Bei diesem hypothetischen Thema fällt mir ein, dass mir vor ein paar Jahren auch einmal das Angebot gemacht wurde, gegen eine Unkostenbeteiligung meinen versäumten Universitätsabschluss nachzumachen ohne etwas zu machen. Für einen geringen Aufpreis und ohne zusätzlichen Arbeitsaufwand meinerseits wäre auch ein Doktor-Upgrade drin gewesen. Ich habe damals davon abgesehen, weil ich dem Sicherheitszertifikat der Website hinsichtlich der Übertragung meiner Kontodaten nicht genügend vertraute, und weil ich fürchtete, es könnte berufliche Konsequenzen haben, wenn die Chose auffliegt. Letzteres war freilich blauäugig.

Weihnachten für Profis

Falls es in Ihrer Fernsehzeitung nicht steht: Es ist Weihnachten! Das coolste Fest der Welt! Darum will ich heute gar nicht viele Worte machen, ich bin schon viel zu aufgeregt, es gibt Aal. Nur ein paar besinnliche saisonale Eindrücke aus Tokio, der weihnachtlichsten Stadt der Welt.

Im gediegenen Einkaufs-, Büro-, Gastronomie- und Kulturzentrum Roppongi Hills gibt es einen Weihnachtsmarkt wie bei Muttern im Garten:

Hier hat es alles, was die Weisen aus dem Morgenland dem Jesukindlein an die Krippe brachten:

Im noch gediegeneren Einkaufs-, Büro-, Gastronomie- und Kulturzentrum Tokyo Midtown, also zwei Ecken weiter, wird viel Licht angeknipst, wenn es dunkel ist:

Die blauen Lichter fliegen bisweilen wild durch die Gegend, vielleicht wäre ein Video das bessere Medium, aber so neumodisch bin ich nicht.

Ebisu ist die entspannte Flaniergegend für die Ü30-Flanierer wie Sie und ich, die zu gebrechlich sind für Shibuya und sich mit wechselndem Erfolg einreden, dass sie Shibuya sowieso total doof finden:

Und als der Stern über Betlehem seine Position erreicht hatte, da sang für alle AKB48, die Guinness-geprüft meiste Band der Welt: [Ach, das Video, schon wieder wurde es entfernt. Mir fehlt die Kraft, erneut ein anderes Exemplar zu suchen, nur um es mir dann doch wieder entreißen zu lassen. Ich lasse es jetzt schwarz, als Mahnmal: Kinder, Videopiraterie lohnt sich nicht, man hat nur Ärger.] [Mich laust der Affe, jetzt sehe ich es wieder! Aber ich hab nichts gemacht, ehrlich. Bitte entscheiden Sie fortan selbst, ob das Video da ist oder nicht. Höhere Mächte scheinen im Spiel.]

Und sie brachten mit sich den offiziellen AKB48-Weihnachtskuchen: