Nena, Blümchen, Miyavi, meine Güte wie die Zeit vergeht (oder eben nicht)

Es ist schon eine Weile her, dass ich zum letzten Mal bei einem Konzert war, bei dem vorne Teenager kreischen und Ärmchen in die Luft recken, während hinten der erziehungsberechtigte Fahrdienst wartet und milde lächelt. Über eine Woche ist das schon her. Da war nämlich das Konzert von Miyavi, einem jungen japanischen Gitarrengott, wenn auch kein Songwritergott, der in Japan in erster Linie dafür bekannt ist, dass er im Ausland bekannt ist.

So fürchterlich bekannt scheint er im Ausland auch nicht zu sein, der mittelkleine Münchner Austragungsort war mit etwas gutem Willen gerade mal zu einem Drittel gefüllt. Rein akustisch war davon aber nichts zu merken, der harte Kern machte einen Krach wie ausverkauft und überbucht. Miyavi selbst war auch nicht leise, aber es war doch das Gekreisch der Anerkennung und Wertschätzung, das noch außerhalb der Halle in einigen hundert Metern Entfernung gut zu hören war, und mich nach langem Herumirren aufgrund altersbedingter Orientierungslosigkeit doch noch mit leichter Verspätung zum Konzert finden ließ, das offenbar mit löblicher japanischer Pünktlichkeit begonnen hatte.

Dass man mich hier als zahlenden Konzertbesucher aus freien Stücken und ohne minderjährige Begleitung nicht für voll nahm, machte man mir bereits beim Einlass unmissverständlich klar. Niemand wollte meine Karte sehen. Aber ich bestand erstens auf Kontrolle der Eintrittskarte, zweitens auf Durchsuchung meiner Herrenhandtasche. Auch alte Menschen haben ein Recht auf Schikane! Nur weil wir nicht mehr so glänzendes Haupthaar haben wie Miyavi gehören wir längst nicht aufs gesellschaftliche Abstellgleis!

Billige Spötter könnten anmerken, dass das Konzert nicht nur wegen der hysterischen Stimmung voller als tatsächlich wirkte, sondern dass die Größe von Miyavis Ego ebenfalls nicht wenig Raum einnahm. Dazu sage ich in spöttischem Tonfall: „Was?! Ein Rockstar mit einem gesunden Selbstbewusstsein?! Was fällt dem ein! Der bringt noch die ganze Rockmusik in Verruf!“

Miyavi beherrscht die einstudierte Mischung aus großen Gesten und Tuchfühlung, die ich von einem Rockstar erwarte. Rockmusik ist in erster Linie Unterhaltungs- und Dienstleistungsgewerbe, die Revolution ist spätestens seit Elvis‘ erster Goldenen Schallplatte vorbei (1956, für 1.000.000 mal ‚Don’t Be Cruel‘, heute braucht’s weniger), allerspätestens seit ‚Muss i denn zum Städele hinaus‘ (1960). Nichts ist furchtbarer als sauertöpfische Authentizitätsrocker, die meinen, sie müssen so vor ihr Publikum treten, wie sie sich gerade fühlen, in der Annahme, sie spielten die Musik für sich und nicht für die zahlenden Gäste. Nein, sie müssen sich gefälligst zusammenreißen und ihre Arbeit machen, und zwar mitreißend und gut, sonst gehe ich das nächste Mal zu jemand anders. Ein Anlageberater sagt sich ja hoffentlich auch nicht: „So, heute ist mir eine Laus über die Leber gelaufen, da gebe ich aus Authentizitätsgründen mal eine schlechte Anlageberatung. Rock’n’Roll!“

Miyavi liebt sein Publikum aufrichtig. In dem Sinne, dass er es aufrichtig liebt, Publikum zu haben. So muss das sein, da erwidere ich die Liebe gerne. Natürlich nicht in erster Reihe, sondern hinten mit den Eltern. Also, nicht mit meinen Eltern. Aber ich denke sogleich an sie, denn sie standen auf ganz ähnlichen Plätzen vor vielen Jahren, während ich vorne zu Nena oder Extrabreit voll abmoshte. Drolliges Detail am Rande des Geschehens: Heute werden der ehrenwerte Extrabreit-Sänger Kai Havaii und ich in literarischen Belangen von derselben Agentur vertreten. Das hätte ich mir damals, als kleines Mädchen aus der Vorstadt mit einem Nasenring aus Phosphor, auch nicht träumen lassen.

Ich erinnere mich gerne an die Konzerte von vor 20 Jahren und an das von letzter Woche (an letzteres etwas besser, noch). Andere haben auch schöne Erinnerungen. Mein liebster Youtube-Kommentar zum Miyavi-Konzert:

…. außerdem hab ich seine spucke in den mund bekommen^^….

Da zeigt sich, dass junge Menschen gar nicht so verzogen sind, wie vielfach angenommen wird. Auch mit kleinen Dingen kann man ihnen eine Freude machen.

Zwischen meiner eigenen Ärmchen-reck-Phase und dem Miyavi-Konzert war wohl das einzige ähnliche Ereignis, dem ich beiwohnte, ein Blümchen-Konzert in den Neunziger Jahren, das ich mit journalistischem Auftrag besuchte. Ich kam als blasierter Gästelistenschnorrer, ich ging als stolzer und glücklicher Besitzer einer selbst bezahlten ‚Blümchen‘-Wollmütze. Auftritt und Privataudienz hatten mich restlos von Fräulein Blümchens Qualitäten als Mensch und Entertainer überzeugt. Ich hoffe dennoch, dass Blümchen, die heute unter dem Pseudonym Jasmin Wagner schauspielert, mit einem Comeback noch mindestens bis 40 wartet, um es für alle interessanter zu machen. Ich würde jedenfalls kommen, mit meiner Mütze. Ich habe sie noch irgendwo, finde sie aber gerade nicht, weil ich kürzlich aufgeräumt habe. Dies hingegen habe ich natürlich immer griffbereit:

(Warum dort „Für Blohm & Voss“ steht, ist eine lange Geschichte, deren Erzählung auf unbestimmte Zeit verschoben werden muss.)

Eines verbindet Blümchen und Miyavi über die unübersehbare äußerliche Ähnlichkeit hinaus: Es macht Spaß ihnen dabei zuzusehen und zuzuhören, wie sie auf der Bühne das tun, was sie am besten können. Bei Miyavi ist das Gitarrespielen, bei Blümchen habe ich vergessen, aber da war etwas. Miyavi ist ein so exzellenter Gitarrist, dass es nicht weiter stört, dass seine Songs kompositorisch und lyrisch Quatsch sind. Entscheidend ist, wie es hinten rauskommt. Der Ton macht die Musik. Ich würde jederzeit wieder zu einem seiner Konzerte gehen. Ob ich mir je wieder eines seiner Alben besorgen würde, würde ich mir zweimal überlegen, und es dann wahrscheinlich doch tun, wie ich mich kenne.

Eine Mütze habe ich mir diesmal nicht gekauft, aber ein T-Shirt. Freilich trage ich es nur beim Sport, also fast nie. Mein gespanntes Verhältnis zu beschrifteter Bekleidung thematisierte ich bereits in meinem Aufsatz Judas rennt über meine spät erblühte Liebe zum Dauerlauf. Weil zitieren einfacher ist als neu formulieren:

Für obenrum habe ich beschlossen, meine alten Bandshirts aufzutragen. Obwohl das eigentlich hochgradig inkonsequent ist. Ich habe mir im Alltag nicht viele modische Regeln auferlegt, ganz bestimmt nicht. Vielleicht im mittleren zweistelligen Bereich, würde ich sagen, konservativ geschätzt, um mal eine Hausnummer zu nennen. Und bei den meisten lasse ich auch mal Fünfe gerade sein, wenn gerade keiner guckt. Aber bei allem Laissez-faire, zwei Bekleidungsregeln erlauben keinen Interpretationsspielraum und müssen unbedingt in jeder Situation befolgt werden, auch beim Sport und auf dem Sterbebett:

  • 1. Männer über 12 tragen keine kurzen Hosen.
  • 2. Männer über 22 gehen nicht beschriftet aus dem Haus.

Für den Sterbebettfall muss man zwar nicht zwangsläufig aus dem Haus gehen, aber Sie wissen schon, wie es gemeint ist. Wie ein Cowboy bevorzugt in seinen Stiefeln stirbt, möchte ich gerne in langer Hose entschlummern, sobald es an der Zeit ist. Und nach Möglichkeit nicht in einem T-Shirt, auf dem steht: New Model Army 51st State Tour 1987.

(Zitat Ende. Zitiert nach mir selbst, da kann mir keiner was.)

***

Erstaunlich, wie schnell man Kreisch-Konzert-Verhältnisse trotz langer Abstinenz wieder als Normalzustand wahrnimmt. Anfangs dachte ich noch mit leicht distanzierter Elternmeinung: Wenn dieser Miyavi zwischen den Songs auf die Gitarre boxt, kreischen dann alle, weil sie daran wirklich erkennen, welches das nächste Lied ist, oder kreischen die bloß, weil er auf die Gitarre geboxt hat? Aber bald war mir wieder eingefallen, dass das egal ist.

Ein paar Tage später besuchte ich das Münchner Konzert von Anna Calvi, bei dem Anna Calvi erwartungsgemäß die Jüngste war. Es ist nicht bedeutungslos, dass mir das Calvi-Album als große, schwarze Kunststoffschallplatte vorliegt, das von Miyavi als ungreifbarer Download. Das Konzert war gut, die Stimmung auch, dann geschah das Unfassbare: Frau Calvi trank einen Schluck Wasser (direkt aus der Flasche, so sind die jungen wilden Dinger), und irgendwas fehlte. Da fiel es mir ein: Wieso kreischt denn keiner?! Sie hat doch einen Schluck Wasser getrunken! Und da wiederum fiel mir ein: Ach ja, ich bin hier ja der einzige Teenie.

Meiner strikten Ablehnung der Hobbyfilmerei bei Konzerten habe ich gut versteckt in einem überlangen früheren Beitrag Luft gemacht. Weil wir Menschen vom Planeten Erde aber so wunderbar widersprüchliche Naturen sind, habe ich kein Problem damit, hier die Hobbyfilmerei eines anderen zu klauen:

P.S.: Ich wollte es eigentlich geschmeidig in den Text einfließen lassen, aber man wird vergesslich mit dem Alter: Ich danke sehr herzlich der Leserin, die mich auf die Miyavi-Tour überhaupt erst aufmerksam gemacht hat. Sie weiß, wer sie ist, wenn sie noch nicht so vergesslich ist, wie ich es bin. Und ich wünsche weiterhin alles erdenkliche Gute.

Sumo spült sich runter, Washlet seit 30 Jahren obenauf

Die Nachrichtenlage in Japan bleibt angespannt: Seit dieser Woche steht fest, dass an Sumo gar nichts mehr gut ist. Dass im fetten Stil betrogen wird, erzählen Täter zwar schon seit rund 40 Jahren, und das „Hey Kids, Mathe ist cool!“-Buch Freakonomics hatte bereits 2005 vorgerechnet, dass Sumo rein rechnerisch ohne Beschiss nicht möglich ist. In Japan gilt etwas aber erst als rechtskräftig, wenn man es auf dem Handy lesen kann. Nachdem nun auf Mobiltelefonen E-Mails gefunden wurden, die belegen, dass Siege und Niederlagen und entsprechende Geldbeträge regelmäßig in aller Seelenruhe vor den Kämpfen verbindlich besprochen wurden, ist die Wut, Trauer und Betroffenheit groß. Ob das Fernsehen Sumo weiterhin zeigen kann, oder ob sowas überhaupt noch stattfinden sollte, wird hitzig diskutiert. Leider kann man nicht mal die nicht integrationswilligen Gastathleten aus dem Ostblock (von Japan aus: Westblock) verantwortlich dafür machen, dass Sumo sich abschafft, obwohl die doch sonst für jeden Skandal rangenommen werden. Die drei bislang eindeutig überführten Mauschler und Drahtzieher sind gebürtige Japaner, zum Beispiel Chiyohakuhō Daiki, der deshalb namentlich genannt wird, weil man von ihm am leichtesten an Bilder kommt.

Ob es über kurz oder lang wirklich so ein dickes Ding ist, wird sich zeigen. Da Sportwetten in Japan ohnehin gegen das Gesetz sind, gibt es gegen Absprachen erst gar keines. Die Empörung ist also rein moralisch, juristisch ist das ganze eine Nullnummer. Gemüter kühlen sich meist schneller, als man gucken kann. Schon jetzt weisen Kommentatoren darauf hin, dass nicht alle Absprachen schnöde monetäre Beweggründe haben, sondern auch als soziales Netz verwendet werden, um alternde und schwächelnde Ringer etwas länger in der privilegierten Sumo-Welt zu halten.

Wie auch immer es ausgeht: Andere japanische Traditionen leben ganz sicher weiter. Das Washlet, diese wunderbare Mischung aus Toilette und Intimspülmaschine, feiert dieser Tage 30. Geburtstag und bleibt eine einzige Erfolgsgeschichte. 70% aller japanischen Haushalte mögen nicht drauf verzichten, allein Erfinderfirma Toho hat weltweit (also asienweit) 30 Millionen Exemplare losgeschlagen. Das Verkaufsargument zur Produkteinführung gilt immer noch: Hände wischt man ja auch nicht nur mit Papier ab, wenn sie schmutzig sind.

Bonus-Nachricht, weil ich Sie nicht ohne Hello-Kitty-Geschichte ins Bett schicken möchte: In Saitama wurde ein 36-jähriger Einbrecher gefasst, weil er Hello-Kitty-Sandalen trug, die per Schuhabdruck einem Tatort zugeordnet werden konnten. Da hatte der Mann aber Glück. Ich habe gesucht und gesucht, aber nie Hello-Kitty-Sandalen in meiner Größe gefunden (tsching-bum).

Wichtiger Hinweis für Funsportler und andere Lebensmüde

Wer sich die Mühe macht, die Spitze des zweithöchsten Gebäudes der Welt Taipei 101 zu bereisen (oben), der findet dort nicht etwa grenzenlose Freiheit, sondern ganz irdische Verbote (unten).

Genießen Sie also die Aussicht (unten) und seien Sie nicht enttäuscht, wenn Sie runter auch wieder den Fahrstuhl nehmen müssen.

Ich selbst bin längst wieder zuhause in Tokio. Was habe ich in Taiwan getan außer Buchstaben sammeln (siehe zuvor) und aus dem Fenster gucken? Schwitzen. Und wie war’s? Ich singe es mit der Sängerin Gustav: Verlass die Stadt. Wälder, Berge, Meer, alles wunderschön. Taipeh hingegen charakterlos bei Tag und Nacht. Muss man auch mal sagen dürfen. Günstig und gut essen kann man, sagen alle, und es stimmt schon, aber Geiz und Völlerei darf nicht der oberste Maßstab sein. Und wer hat bei der Hitze schon immer Appetit.

Irgendwann findet man es bei allem Wohlgeschmack auch nicht mehr wunderbar authentisch, in einer Garage unter Neonlicht auf Plastikstühlen in Gesellschaft anderer Schwitzender in Unterhemd und Shorts zu essen, während man lauwarmes Wasser aus Pappbechern nippt. Man sehnt sich klammheimlich nach einem echten Restaurant mit Klimaanlage, Dimmer, Getränkekarte und bekleideten Menschen. Gibt es. Zum selben Preis jedoch auch anderswo in der Welt.

Aber die Landschaft: Alle Achtung, die ist wirklich gut geworden. Wenn es die auch noch in kühler gäbe.

Just do it (soon)

Nach meiner furchtlosen Visite des Yasukuni-Schreins gehe ich heute wieder hin, wo es wehtut (wenn auch nicht so weh, als würde ich dabei einen Mikoshi tragen). Der Miyashita-Park ist ebenfalls ein Politikum, wenn auch eines, bei dem die Weltpolitik mit den Schultern zuckt. In Tokio aber wird durchaus kontrovers diskutiert.

In den Miyashita-Park gerät man als Tourist nur, wenn man zu Tower Records will und im Bahnhof Shibuya den falschen Ausgang erwischt hat. Der Park ist auf Karten in Reiseführern der Vollständigkeit halber eingezeichnet, wird aber im Text sicherlich keine Erwähnung finden. Mit Sicherheit steht hingegen in jedem Reiseführer der Hinweis, dass man sich in dieser Stadt selbst als Frau immer und überall ohne Leibgarde frei bewegen kann. Fragt man Tokioterinnen nach der Richtigkeit dieser Einschätzung, pflichten sie im Großen und Ganzen bei. Hängen aber oft noch an: „Außer vielleicht im Miyashita-Park.“ Es handelt sich um einen schmalen, leidlich grünen Streifen zwischen Eisenbahnschienen und Meiji-dori. Ein öffentlicher Park, er gehört also den Bürgern, und die Bürger haben ihn seit Jahrzehnten aufgegeben. Man erinnert sich allenfalls an ihn, wenn man Sperrmüll hat und die Gebühren sparen möchte.

Jetzt hat der Sportartikelhersteller Nike für einen zunächst begrenzten Zeitraum den Park gekauft. Die Firma will dort renovieren und Gratis-Skatergedöns errichten. Außerdem hat Nike für die vereinbarte Zeit das Recht, den Park nach eigenem Gutdünken umzutaufen. Es gilt also als sicher, dass der Miyashita-Park bald Nike-Park heißen wird.

Könnte einen als Skater freuen. Könnte allen anderen Menschen völlig egal sein, wie einem der Park schon immer völlig egal war. Dennoch regt sich jetzt Protest. Wir sind das Volk, und der Park gehört uns, meinen ein paar Aktivisten, die ohne gute Argumente viel Presse bekommen.

Eines der besseren Argumente ist noch, dass der Miyashita-Park beliebt bei Obdachlosen sei. Das ist allerdings kein spezifisches Phänomen dieses einen Parks, sondern wirft auf höherer Ebene die Frage auf, wie eine Gesellschaft mit ihren Opfern umgeht. Es kann keine Lösung sein zu sagen: „Wir lassen die Obdachlosen einfach im Miyashita-Park, den haben wir eh aufgegeben, passt ja.“ Es wäre mir darüber hinaus neu, dass Obdachlose schäbige Parks gegenüber gepflegten bevorzugen. In Tokios schöneren Grünanlagen sind sie durchaus auch anzutreffen. Und es dürfte ihnen genauso egal wie mir sein, ob der Park Miyashita, Nike oder sonstwie heißt.

Mir scheint der jetzige Miyashita-Park ohnehin weniger wie eine Oase für Obdachlose als ein günstig gelegener Ort, wo junge Leute hingehen um Drogen zu kaufen und sich zu erbrechen. Von Drogenhandel halte ich eh nicht viel, und was das Erbrechen angeht: Können das die jungen Leute nicht in den Zügen der Yamanote-Linie machen, wie alle anderen auch?

Könnte es sein, dass es beim Protest nicht etwa um Solidaritätsbekundung mit nicht existierenden Miyashita-Liebhabern geht, sondern um stumpfen Anti-Amerikanismus, gepaart mit plumpen japanischen Nationalstolz, getarnt als Kapitalismuskritik? Schließlich ist es ausgerechnet ein amerikanisches Unternehmen, das hier ein bisschen aufräumen möchte. Dass, ebenfalls in Shibuya, schon seit geraumer Zeit ein ebenfalls öffentliches Veranstaltungszentrum nicht mehr Shibuya Public Hall heißt, sondern nach meiner Lieblingsbrause C.C. Lemon Hall, scheint niemanden groß aufzuregen. C.C. Lemon kommt freilich nicht aus dem Hause Coca-Cola, sondern von der urjapanischen Suntory-Abfüllerei.

Das Vitamin C von wie vielen Zitronen passt wohl in die Halle, wenn in der Haushaltsflasche schon 210 sind?

Shinto Loveparade

Bei lokalen shintoistischen Straßenfesten ist es Brauchtum, mit großem Hallo und vereinten Kräften Schreine durch die Straßen zu tragen. In Nachbarschaften, in denen Ausländer oder ausländerfreundliche Organisationen beheimatet sind, dürfen auch Ausländer mittragen, was diese offenbar gerne tun. Als ich zum ersten Mal davon hörte, dachte ich spontan: Wow – das interessiert mich null. Zuschauen ja, wenn ich in der Gegend bin und es Getränkeverkauf gibt, aber bestimmt nicht aktiv mitschleppen.

Als aber unlängst die Agentur, die mir meine Tokioter Wohnung vermietet, rumfragte, wer denn gerne den Agenturschrein beim Misaki-Festival im Stadtteil Jimbocho mittragen möchte, reckte ich sofort den Arm in die Höhe und rief: „ICH, ICH, ICH!“ Dabei hatte sich meine Einstellung gar nicht großartig geändert. Aber da war der nuttige Gedanke: Ich mach das, damit meine imaginären Leser was zu lachen haben.

Bei der Agentur handelt es sich übrigens um das berüchtigte Sakura House, einen Rucksacktouristen-Stapler von übelstem Leumund. Bevor es weitergeht, möchte ich gerne kurz eine Lanze für Sakura House brechen. In erster Linie ist die Firma bekannt für ihre sog. Guest Houses, in denen wildfremde Menschen sich Schlaf-, Pflege-, Koch- und Spaßbereiche teilen müssen. Dem Vernehmen nach geht es dort tagtäglich und die ganze Nacht zu wie in amerikanischen Filmkomödien über Studentenverbindungshäuser. Das ist nicht jedermanns Sache, meine ganz sicher nicht, deshalb habe ich um diese Art der Unterbringung zeit meines Lebens einen großen Bogen gemacht und gedenke das weiterhin so zu halten. Wer es mag, hat allerdings meinen Segen, da bin ich altersmilde. Ich gebe nur zu bedenken: Wer Jugendherberge bucht, darf sich nicht beschweren, wenn er Klassenfahrt bekommt. Inzwischen macht Sakura House außerdem zusätzlich in einfachen aber regulär ausgestatteten Hotels und eben auch in ganz normalen Wohnungen, falls es länger und teurer sein darf. So eine habe ich. Sie ist komplett unverdächtig. In einer ganz normalen Nachbarschaft mit Mülltrennung, Müttern und Kindern. Das einzige, was sie von einer wirklich ganz normalen japanischen Wohnung unterscheidet, ist, dass auf typisch japanische Fantasiegebühren wie dem legendären ‚Schlüsselgeld‘ verzichtet wird. Ich bin sehr zufrieden, bisher. Nur einmal bekam ich eine völlig aus der Luft gegriffene Mahnung in etwas aggressivem Ton wegen säumiger Miete, vier Tage nach überpünktlicher Bezahlung. Kurz drauf war das Internet für einen knappen Tag kaputt. Ob zwischen den Ereignissen ein Zusammenhang besteht, weiß ich nicht, aber Schwamm drüber, vergeben und vergessen. Vom Sakura-Ringelpietz bekomme ich nur etwas mit, wenn ich per E-Mail zu Sakura-Ringelpietz-Veranstaltungen eingeladen werde und mich aus freien Stücken darauf einlassen kann oder nicht. Womit wir wieder beim Thema wären.

Wer so einen Schrein, amtlich: Mikoshi, tragen will, muss sich ordentlich anziehen. Unten trägt man Tabi:

Obenrum trägt man einen Happi und ein gequältes Lächeln:

Im Hintergrund sehen Sie den Mikoshi selbst. Hier noch einmal, ohne dass einer die Sicht verstellt:

Im Vordergrund, daher perspektiv ungünstig größer, ist der kleinere Kinderschrein. Ich hatte gehofft, ich könnte mich freiwillig für den melden, aber alle tun so, als hätten sie nichts gehört. Ich werde vorne links am Erwachsenenmikoshi platziert. Als wir das Ding an den dafür vorgesehenen Holzbarren hochheben, bin ich ehrlich schockiert: Das ist ja schwer! Ich meine: richtig schwer! Ich hatte angenommen, es handele sich um eine Spaßattrappe für Touristen. Ich weiß noch nicht, ob ich das bis zum Ende durchhalten werde, oder bis zur nächsten Ecke. Ich weiß auch gar nicht genau, wo das Ende der Strecke ist. Eher 10 Meter oder 10 Kilometer? Ich habe vorher nicht gefragt und mache mir jetzt ein bisschen Sorgen. Uns wurde gesagt, man solle keine Hemmungen haben abzugeben, wenn man nicht mehr kann. Ich habe nach wenigen Sekunden alle Hemmungen verloren, sehe aber nirgends einen, an den ich abgeben könnte. Die, die erstmal nicht rangekommen sind, haben wohl inzwischen mitbekommen, dass das kein Spaß ist und halten sich jetzt in sicherer Entfernung.

Ich muss beim Tragen extrem in die Knie gehen, um mich dem Niveau der anderen Träger anzupassen. Dabei rutscht meine Hose, die ich vorher extra etwas lockerer geschnallt hatte, damit nichts kneift. Ich kann freilich meine Hände weder zum Hosehochziehen vom Schrein nehmen, noch um mir den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen, der dort literweise rauskommt. Die Hose rutscht gottlob nicht komplett hinunter, aber ich sehe inzwischen wahrscheinlich aus wie ein Shinto-HipHopper. Echte Japaner tragen den Mikoshi zwar auch in einem Sumo-artigen Look nahezu arschfrei, aber freiwillig und ohne Hose um die Knöchel.

Das Gewicht des Schreins und die Hitze (die vor wenigen Minuten noch eine lang herbeigesehnte angenehme Wärme war) sind nicht die einzigen Probleme, vielleicht nicht mal die größten. Leider muss man mit dem Schrein auch noch ständig auf und ab wackeln, damit die Bimmeln fein bimmeln. Irgendwas geschrien wird auch. Keiner versteht, was da geschrien wird („Toga, Toga“? „Tora, Tora“?), aber alle machen mit, so gut es geht.

Sportunterrichtsflashback: Mittendrin klatscht mich einer der Aufseher ab. Es kränkt zwar meine Ehre, dass er mich als zu schwächlich erkannt hat, ich bin aber zugleich heilfroh über seine glänzende Auffassungsgabe. Ich habe mich jedoch zu früh geschämt und gefreut, denn er will mich gar nicht meiner Pflicht entbinden, sondern mich nur weiter hinten platzieren. Dort sind nämlich nur Mädchen, die gar nicht richtig mitmachen. Die Gesellschaft hier ist zwar viel charmanter als bei den Angebern da vorne, aber jetzt habe ich das Gefühl, den ganzen Schrein ganz alleine zu tragen. Außerdem stehe ich hier unter ständiger Beobachtung dieses Aufpassers, der es offenbar auf mich abgesehen hat. Immer, wenn ich dabei bin, eine eigene und bequemere Tragetechnik zu entwickeln, quetscht er mich wieder mit starken Händen in die schmerzhafte korrekte Haltung. Wenn jeder Innovationsgedanke, jeder Einfluss von außen im Keim erstickt wird, wird sich nie etwas ändern in diesem Land. Es ist wie in diesem japanischen Sprichwort, das jedem Japaninteressierten schon aus den Ohren rauskommt. Sie wissen schon. Das mit dem hervorstehenden Nagel, der eingeschlagen gehört, wenn er ein guter Nagel sein will. Heute bin ich dieser Nagel. Der Aufpasser soll mal lieber die Damen aus Australien, Europa und ‚Die Staaten‘ darauf hinweisen, dass ab und an die Fingerchen aufs Holz legen nicht als Tragen gilt. Die ganze Last liegt buchstäblich auf meinen Schultern, bzw. meiner rechten Schulter.

Das Ende ist geografisch gesehen überraschend nah. Überspitzt könnte man sagen, dass wir den Schrein nur von hinterm Haus vor das Haus getragen haben. Viel mehr wäre aber auch wirklich nicht drin gewesen. Die ganze Aktion kam einem nicht nur wegen der Anstrengung länger vor, sondern auch, weil sie tatsächlich länger als nötig war. Alle paar Meter wurde angehalten. Nicht etwa um zu verschnaufen, sondern um besonders angestrengt zu wackeln und zu schreien. Hätten wir den Mikoshi ohne viel Theater auf schnellstem Wege ins Ziel gebracht, wären wir schon dreimal fertig. Aber leider geht es um das Theater.

Ich traue mich die Frage, ob wir das Ding auch wieder zurück tragen müssen. Nein, wird uns gesagt, aber wir dürfen, wenn wir möchten. Niemand möchte.

Wie anstrengend war es genau? Es war so anstrengend, dass ich hinterher Schwierigkeiten habe, die Arme hoch genug zu heben, um mir Wasser ins Gesicht zu spritzen. Meine rechte Schulter schmerzt, ist gerötet und gehäutet. Ich will es fotografieren, aber versuchen Sie mal ein Foto von Ihrer eigenen Schulter zu machen. Hört sich einfach an, ja-ha. Ich schreibe diesen Eintrag übrigens mit eintägiger Verzögerung. Eigentlich wollte ich gleich nach dem gestrigen Ereignis reinhauen. Geistig war ich bei vollem Bewusstsein, aber meine Arme schafften es nicht, meine Hände lange genug über der Tastatur zu halten. Und eh Sie mich für verweichlicht halten: Ich bin in Höchstform. Ich renne mehrmals die Woche mehrere Runden um den Kaiserpalast. Eine Runde gilt wegen der günstigen Citylage als so gesund wie eine Schachtel Zigaretten. Ich bin also bestens durchtrainiert und abgehärtet. Aber der Mikoshi hat mich trotzdem kalt erwischt.

Bei der Manöverkritik nach Absetzen des Schreins merken die Frauen und Asiaten an, dass der Mikoshi viel zu hoch getragen wurde. Ich und andere Normalgroße vertreten die Auffassung, dass er viel zu tief hing. Aber es gibt keine ernsthaften Vorwürfe, es wird bei Sekt, Bier und Brezeln gelacht und getan, denn man ist gemeinsam heilfroh, lebendig aus der Sache rausgekommen zu sein. Und eigentlich sind wir uns sowieso alle einig: Es war eine wertvolle Erfahrung, aber, um David Foster Wallace zu paraphrasieren, in Zukunft ohne uns.