Als ich heute nach Mont-Blanc-Bildern in meinem Mobiltelefon suchte, fand ich dort auch dieses Foto, das ich wohl mal gemacht hatte, um mich später drüber aufzuregen (obwohl die Bildqualität schon auf eine gewisse Grunderregung im Moment der Aufnahme schließen lässt):
Es hat mich zu diesem kleinen Epos inspiriert:
Es war einmal ein Apostroph, das lebte dort, wo es hingehörte: Im Wörtchen GEHT’S. Als es in die Trotzphase kam, sagte das Apostroph: „Ich will nicht mehr dort leben, wo ich nach Meinung anderer hingehöre, das ist doch total spießig! Das Wort AUFS steht viel höher, von da oben ist bestimmt die Aussicht schöner, und nebenan ist gleich das Wort COFFEE, eines dieser exotischen ausländischen Wörter, für die es in der deutschen Sprache keine Entsprechung gibt! Da will ich hin!“
So zog das Apostroph gen Norden, aus dem GEHT’S wurde ein GEHTS und bald war das AUFS ein AUF’S.
Doch die Freude war von kurzer Dauer. Die Menschen lachten jetzt über das Apostroph, das hatten sie vorher nie getan. Sie riefen Schmähnamen wie „Deppenapostroph!“ und machten ganz ungeniert Handyfotos. Das Apostroph sah ein: „Ich habe einen Fehler gemacht! Ich gehör einfach nicht in dieses Wort! Die Aussicht ist auch nicht so toll, und COFFEE kommt mir schon zu den Ohren raus! Ich will zurück ins GEHTS!“
Doch das GEHTS war jetzt beleidigt: „Ich war zwar schöner mit dir, doch komm ich in der Not auch ohne dich aus. Vielleicht suche ich mir irgendwann ein anderes Apostroph, dich möchte ich hier jedenfalls nicht mehr sehen.“
Wie es weitergeht, erfahren Sie in Die Rache des Wanderapostrophs.
In den vergangenen Wochen hatte ich viel Spaß mit Menschen und nichts als Scherereien mit Maschinen. Das hat mir eine wichtige Lektion über das Leben und seine Prioritäten gelehrt: Ich sollte mich weniger um Menschen und mehr um Maschinen kümmern. Damit ich ab sofort noch mehr Zeit mit Telefonen und anderen Computern verbringen darf, bin ich nun Facebook beigetreten. Machen Sie es doch auch, dann können wir so tun, als kennen wir uns.
Tatsächlich bin ich dieser Tage nicht nur einmal Facebook beigetreten, sondern vier- oder fünfmal. Jedes Mal bin ich nach wenigen Minuten mit geblähten Nüstern wieder ausgetreten. Diesmal bleibe ich vielleicht länger. Mein vorheriges Problem war, dass ich keine normale Seite anlegen wollte, sondern eine sogenannte ‚Fan-Seite‘. Nun ist es keineswegs so, dass ich über Nacht durch einen vermeintlichen Kaninchenbau in eine Wi-Wa-Wunderwelt gepurzelt wäre, in der ich es für möglich oder auch nur erstrebenswert gehalten hätte, jemals so etwas wie ‚Fans‘ zu haben. ‚Fans‘ braucht kein Schwein, Leser reichen völlig aus. Trotzdem wollte ich dem ganzen einen offiziellen Anstrich verleihen; ich will schließlich Bücher verkaufen, keine Klassentreffen organisieren. Leider muss man aber ein privates Profil haben, wenn man eine sogenannte ‚Fan-Seite‘ anlegen möchte. So eines habe ich mir dann geholt, doch es war mir so ungeheuer, dass ich jedes Mal nach kurzer Zeit gegoogelt habe, wie das noch mal ging mit dem Account-Löschen. Diesmal versuche ich mich zusammenzureißen.
Das mit der sogenannten ‚Fan-Seite‘ habe ich mir erst mal abgeschminkt. Das jetzige Profil ist privat, Sie können also unbesorgt sein, davon gerät niemals etwas an die Öffentlichkeit. Ist schließlich nur Facebook.
Weil das Internet auch ein visuelles Medium ist, hier ein lustiges Bild von mir in einem Lätzchen:
So gelöst kann man schauen, wenn in der heißesten Korrekturphase zweier Bücher und der Schreibphase eines dritten die Festplatte abstürzt und man eingesehen hat, dass geblähte Nüstern daran nichts ändern werden. Das Bild ist übrigens auch auf meiner neuen Facebook-Seite. (Nein, Mama, ich war nicht schon wieder der einzige, der ein Lätzchen tragen musste.)
Damit ist die letzte Phase meiner elaborierten Social-Media-Strategie abgeschlossen. Es sei denn, ich verstehe irgendwann, was Pinterest ist.
Sensationsmeldung des Jahres: Wir haben von Weihnachten noch Schokolade übrig! Zu den besonders gut gemeinten Exemplaren unterm Baum gehört dieses:
Wir haben diese Tafel schnell ‚Keanu-Schokolade‘ getauft. Das Präfix ‚Keanu-‘ hat sich in unserem Haushalt für Produkte, Speisen und Dienstleistungen durchgesetzt, die bemüht asiatisch daherkommen, ohne aus Asien zu kommen. Selbstverständlich benutzen wir den Begriff eher zuneigend als herablassend. Es ist der Gedanke, der zählt. Man kann nicht von jedem schleswig-holsteinischen Chocolatier erwarten, dass er zwischen ji und tera/dera zu unterscheiden vermag, schreibt sich schließlich alles gleich (寺), heißt das gleiche (Tempel), wird nur kontextabhängig anders gelesen. Vielleicht klang dem Chocolatier tera auch zu sehr nach einem Hauch von Terror.
Schon mit diesem bloßen Hinweis begebe ich mich auf dünnes Eis, denn als Enthusiast sollte man tunlichst darauf achten, nicht den schmalen Grat zwischen enthusiastischem Mitteilungsdrang und verbitterter Besserwisserei zu überschreiten (der schmale Grat verläuft auf dünnem Eis, stelle ich gerade fest). Verbitterte Besserwisserei macht hässlich und einsam, man hängt irgendwann nur noch mit anderen verbitterten Besserwissern rum, mit denen man sich naturgemäß auch irgendwann überwirft.
Also nicht aufregen und in aller Ruhe Keanu-Schokolade schnuckern, gerne auch cineastische Keanu-Schokolade:
Ich freue mich darauf, seit ich zum ersten Mal den ersten Trailer gesehen habe. Nicht, weil ich ein Anknüpfen an die Samurai-Dramen Kurosawas erwarte, sondern eines an das Große Alberne Hongkong-Kino Tsui Harks erhoffe. Dass die verbitterten Besserwisser solche Filme nicht verstehen, ist bekannt und sollte nicht weiter irritieren. Es sei ihnen von einem Enthusiasten gesagt: Extreme künstlerische Freiheit in der Nacherzählung der Legende um die 47 Ronin hat in Japan Tradition. Diese Freiheit kann man anderen kaum verwehren. Gerne dürfen auch Keanu & Co. ein paar Unsinnigkeiten hinzufantasieren. Und Hand aufs Herz: Ohne Robert De Niro hätten Sie doch eh noch nie was von dieser Geschichte gehört.
Ich habe 47 Ronin zwar noch nicht gesehen und behalte mir das Recht vor, später den Wendehals zu machen. Aber fürs erste finde ich es ganz, ganz gemein, dass der Film so gemeine Kritiken bekommen hat. Man könnte glauben, die Menschheit habe inzwischen den Geist des ‚Cheer Up Keanu Day‘ völlig vergessen. Wer Keanu nicht liebt, ist nicht fähig zu lieben. Selbstverständlich sind die Matrix-Filme total bekloppt. Doch sie sind mit einer solchen künstlerischen Konsequenz bekloppt, dass man davor schon Respekt haben muss. Da hat jemand stur die Geschichte zu Ende erzählt, die er erzählen wollte, auch wenn schnell klar wurde, dass niemand sie so zu Ende hören will. Keanu ist immer mit so viel Herzblut bei der Sache, dass man ganz vergessen kann, dass seine Filme in der Mehrzahl gar nicht seine Filme sind. Sind sie aber doch, Keanu-Filme sind immer Keanu-Filme, andere Beteiligte egal. Das steht so fest, dass ich jetzt sogar zu faul bin, den Namen der Matrix-Geschwister zu googeln. Keanu allein ist verantwortlich. Keanu ist darüber hinaus der einzige Schauspieler, bei dem ich mir nicht plump vertraulich vorkomme, wenn ich ihn beim bloßen Vornamen nenne. Er ist einfach kein Reeves.
Bei der Kritik an 47 Ronin wird häufig die These aufgestellt, die Japaner könnten ihre eigenen Legenden viel besser selbst verfilmen und hätten es nicht nötig, sich ausgerechnet von den Amis etwas vormachen zu lassen. Das jedoch ist Wunschdenken. Man muss es leider sagen, wie es ist: Die Japaner können’s nicht (mehr), und irgendwer muss es ihnen ja (wieder) vormachen. Das japanische Kino steckt seit geraumer Zeit in einer seltsamen Krise. Das E-Kino wirft gelegentlich das eine oder andere Juwel ab (wenn auch nicht mehr mit der gleichen Verlässlichkeit wie zu Glanzzeiten), aber das große U-Kino operiert nur noch auf Til-Schweiger-Niveau. Filme, die ohne Zuschauerkonditionierung durchs Landesfernsehen kein Schwein interessieren würden und die deshalb die Reise ins Ausland gar nicht erst antreten, zumindest nicht im großen Stil. Dabei könnte man, wenn man wollte. Es müssten nur mal die richtigen Leute zusammen wollen. Gutaussehender dramaturgischer Murks wie Space Battleship Yamato (wir berichteten hier, inklusive Keanu-Tofu) oder Rurouni Kenshin zeigen, dass das technische Verständnis da ist, auf koreanischem oder amerikanischem Hochglanz-Niveau zu produzieren. Pappig gemachte aber brillant konzipierte Filme wie die der Death Note– und 20th Century Boys-Reihen beweisen, dass es durchaus Autoren gibt, die komplexe Geschichten unterhaltsam erzählen können. Jetzt müssten nur mal die einen mit den anderen. Dann bräuchten wir auch Keanu nicht mehr. Zumindest nicht dafür. Dann könnte er endlich Bill und Teds endkrasser Trip nach Legoland (aka Matrix 4) machen.
So weit ist es schon gekommen: Als ich neulich heimlich die Vorgarten-Produktion Salvage Mice netflixte, überkam mich ein lange nicht mehr gefühltes Glücksgefühl. Denn mir wurde bewusst: Das war der amüsanteste japanische Film, den ich seit sehr langem gesehen habe. Dieses Bewusstsein ist ein schmerzliches, denn in besseren Zeiten wäre jenes Filmchen für kaum mehr als ein Schmunzeln zwischendurch gut gewesen.
Wie die Schokolade schmeckt, weiß ich übrigens noch nicht. Ich nehme sie in vier Wochen mit ins Kino.
Letzte Woche haben meine Frau und ich einen ziemlichen Bock geschossen. Wir tun zwar immer so, als hätten wir das Savoir-vivre mit silbernen Löffeln gefressen, aber das Konzert der Münchner Symphoniker mit dem japanischen Meisterpianisten Nobu Tsujii haben wir nach der Hälfte verlassen. Nicht aus Protest oder Missfallen, sondern weil wir zu blöd waren, eine Pause von einem Ende zu unterscheiden.
Zu unserer Verteidigung: Die Sitte der Saufpause, insbesondere bei klassischen Konzerten, war uns durchaus geläufig. Allerdings war bei speziell diesem schon das, was sich nur als erster Block herausstellte, von einer befriedigenden, geldwerten Länge gewesen. Außerdem hatte der ganze Verbeugungs- und Rausgehen-und-wieder-reinkommen-Zirkus der Hauptakteure so etwas Finales gehabt. Wir waren durchaus zufrieden und hatten nicht das Gefühl, etwas verpasst zu haben, als wir schon in der Kneipe saßen und zwei nicht schlechte Plätze in der Philharmonie leer blieben.
Ich bin also vermutlich nicht die allerhöchste Instanz, wenn es um Ratschläge für einen gediegenen Klassikkonzertbesuch geht. Trotzdem möchte ich mich gern daran versuchen, denn die Episode erinnert mich an einen skizzierten aber nicht ins Reine geschriebenen Text, den ich vor ein paar Monaten in einem fremden Land wütend mit einem gelben Bleistift in ein rotes Notizbuch kritzelte, hier:
(Eigentlich schreibe ich nicht gerne mit Bleistift, aber ich habe es mir inzwischen angewöhnt, weil eines Tages ominöse blaue Kugelschreiberflecken auf unserem Ku-Klux-Sofa erschienen waren. Angeblich bin ich es gewesen und der Bleistift wurde zur Bedingung gemacht.)
Meine Frau und ich waren nach Prag gereist, weil es einer der wenigen Orte der Welt war, an denen wir beiden kleinen Kosmopoliten noch nie gewesen waren. Speziell zog es uns in den Smetana Saal, da dort meine Schwiegermutter schon einmal vor unserer Zeit auf ihrer einsaitigen Koto gespielt hatte (Schwiegermutter nicht im Bild):
(Soll ich noch etwas mehr mit meiner Schwiegermutter prahlen? Bitteschön: „Sie hat sogar schon für den Kaiser von China gespielt!“ Nein, das war gelogen. Aber das hier stimmt: „Sie hat sogar schon für die Kaiserin von Japan gespielt!“ Es gibt Fotobeweise. Deren Verbreitung steht mir nicht zu, aber ich habe sie gesehen.)
Wir hätten uns den Saal auch ohne Ton anschauen können, aber weil wir das Savoir-vivre mit silbernen Löffeln gefressen haben, entschlossen wir uns zu einem anständigen Konzertbesuch. Die Prager Philharmoniker gaben ein buntes Smetana-Potpourri, was man halt so gibt für Touristen wie uns, die nicht so recht wissen, was sie hören wollen. Es war sehr schön, ich habe mir später eine CD gekauft von diesem Smetana.
Die Hölle allerdings, das waren die anderen. Ich schämte mich für die Menschheit. Im Hotel zählte ich unter dem Titel, der über diesem Eintrag steht (ohne das in Klammern), in besagtem Notizbuch die Unmenschlichkeiten runter, die ich während des Konzertes in den Zuschauerrängen mit eigenen Augen gesehen und Ohren gehört hatte:
1. Kaugummi kauen
2. Fotografieren
3. Mit Blitz
4. Rascheln mit Einkaufstüten aus Plastik
5. Überhaupt Plastiktüten in einen Konzertsaal bringen
6. Kurze Hosen tragen (Mann)
7. Sportschuhe tragen (Frau)(ginge für Mann natürlich auch nicht, wurde aber keiner erwischt, diesmal)
8. Mit dem Smartphone hantieren
Ich weiß, das klingt nach meinem üblichen Gejammer über den üblichen Sittenverfall. Das macht es allerdings nicht weniger furchtbar oder wahr. Einer meiner schlimmsten Tage ist immer noch der, an dem in Münchner Bussen die Schilder mit den durchgestrichenen Handys abmontiert wurden. Vielleicht war das der Tag, an dem die Menschheit sich selbst aufgegeben hatte. Ab da waren selbst Plastiktüten im Konzertsaal keine Dystopie mehr.
Ich hatte diese Notizen zunächst für mich behalten, weil erstens sowieso immer nur die wenigen nicken, die eine Belehrung nicht nötig haben, während die anderen (Hölle) eh unbelehrbar sind, und weil mir zweitens jede Gelegenheit fehlte. Die beiden neuen Bücher ließen mir keine Ruhe, sie schrien jede Nacht durch. Inzwischen ist aber das eine aus dem Haus und das andere zahnt immerhin nicht mehr.
Apropos rotes Notizbuch und gelber Bleistift: Prag ist selbstverständlich genau der richtige Ort, wenn man in Sachen schriftstellerischer Prätention mal so richtig durchdrehen möchte. Es war mir im Urlaubsrausch nicht zu peinlich im offiziellen Künstler-Café Slavia diese Fotografie anfertigen zu lassen:
Und das hier erst: Mit dem Gemälde des Absinth-Trinkers, der von der Muse besucht wird. (Ich habe natürlich ebenfalls eine Flasche Absinth im Duty-Free-Shop gekauft, wie sich das für den verwegenen Abenteuerreisenden geziemt, doch ich habe mich noch nicht getraut davon zu nehmen.)
Ich werde diese Bilder niemals jemandem zeigen.
Apropos Klassiker-Konzert: Diese Woche war ich bei Nick Cave and the Bad Seeds und es wird wohl das letzte Konzert von Nick Cave gewesen sein, das ich in einem derartigen Rahmen besucht habe. Seien Sie unbesorgt, weder folgt hier die Altpunker-Nörgelei, dass der feine Herr heutzutage auf der Bühne nur noch Lieder singt, anstatt sich im gemeinsam mit dem Publikum Erbrochenen zu aalen, noch gibt es gesundheitliche Gründe. Herr Cave und ich sind beide mopsfidel und das Konzert war als solches eine einzige Freude. Ich gehe nicht davon aus, dass es sich vom Konzert des Vorabends und Folgeabends in anderen Städten sonderlich unterschieden hat, aber Routine ist kein Schimpfwort. Es gibt kaum etwas Erbaulicheres, als einem guten Routinier bei der Routine zuzusehen und Nick Cave ist ein großartiger Routinier.
Das Publikum war ebenfalls in Ordnung, keine Plastiktüte weit und breit. ALLERDINGS: Nie wieder werde ich mich für einen Künstler, der STIL mit vier Großbuchstaben zu buchstabieren weiß wie kein zweiter, in eine derart stillose, zugige, menschen- und kunstunwürdige, seelenverätzende Betonhalle wie das Münchner Zenith begeben. Für nichts und niemanden. Nein, es war nicht mein erstes Mal, ich wusste, was mich erwartet, aber irgendwann ist das Fass halt vollgetropft. An einem solchen Ort möchte ich fortan nicht mal mehr als Schwein tot am Haken hängen. Ein solcher Ort ist nicht nur eine Schande für das leuchtende München, sondern sogar für das gesichtslose Industriegebiet am Stadtrand, in das er hineingerotzt wurde. Anfangs befürchtete ich noch, es könnte mir zu warm werden angesichts der „heißen Musik“ (Jugendslang!), wenn ich meinen Mantel nicht abgebe. Doch zu guter Letzt war es nicht nur nicht nötig gewesen, den Mantel abzulegen; ich habe ihn nicht mal öffnen müssen in der Betonkälte. Noch habe ich den Schal gelockert. Für eine gewisse Zeit habe ich sogar – keine humoristische Übertreibung! – die Mütze wieder aufgesetzt (dabei weiß ich im Gegensatz zu 95 % der Bevölkerung, dass man in Innenräumen keine Kopfbedeckungen trägt). Und beim Bier und den Gepflogenheiten des Einschenkens kommt einem der alte Woody-Allen-Witz vom schrecklichen Essen in viel zu kleinen Portionen wieder hoch. Bisweilen gibt Herr Cave ja besondere Konzerte in gediegenerem Rahmen, mit Holzinstrumenten in Stucksälen. Ältere Anhänger, die sich schon in den 70ern und 80ern in Melbourne, London, Berlin und anderen Angeberstädten mit ihm durchs Erbrochene wälzten, tun das gerne als unpunkige Schnöselei ab. Ich allerdings muss sagen: Unter diesen Bedingungen erlebe ich Nick Cave und etwaige Mitmusiker gerne wieder. Doch das, was mir in dieser Woche angetan wurde, tue ich mir nicht noch mal an.
Aber reden wir nicht mehr vom Zenith, das ist ja jetzt vorbei. Das einzige, was mir am Konzert selbst vielleicht doch ein wenig negativ aufgefallen war (allerdings erst nach ca. 24 Stunden Bedenkzeit, zählt also nicht), ist, dass in der Songauswahl zwar eine zünftige Mischung aus „ziemlich alt“ und „ganz neu“ geboten wurde, die Kategorien „etwas älter“ und „relativ neu“ jedoch komplett ausgeklammert wurden. Aus diesem Grund zum Abschluss ein Lied aus jener Zeit, die vielleicht nicht die beste war, aber auch nicht so schlecht, wie alle immer tun.
Als sich vor ein paar Jahren die Band Suede wieder vertragen hat, hätte ich fast das getan, was ich normalerweise nur für Alte Meister der Schönen Künste tue: ein fremdes Land bereisen (genauer das England), um die Sache mit eigenen Augen zu sehen. Doch kam etwas dazwischen. War nicht schlimm, dachte ich vor ein paar Monaten, denn es kündigte sich ein Konzert in München an, was mit öffentlichen Verkehrsmitteln viel besser zu erreichen ist. Ich habe mir eine Karte kommen lassen und mich auf den 19. November gefreut.
Ich freue mich immer noch auf den 19. November, aber zu Suede kann ich jetzt nicht mehr. Ich musste abwägen zwischen der besten britischen Band der Neunziger und dem seit Jahrzehnten bedeutendsten amerikanischen Gegenwartsautoren. Ich habe mich für Stephen King entschieden. Ausschlaggebend war in erster Linie Sentimentalität. Sentimentalität beflügelt freilich nichts besser als Musik. Suede indes gehört bei aller Hingabe nicht zu den Bands, die mir in meinen formativen Jahren die Tränen getrocknet haben (dafür kamen sie zu spät). Überhaupt habe ich sie richtig erst zu schätzen gelernt, als sie sich schon vorübergehend aufgelöst hatten. Zuvor war mir immerhin wohlwollend aufgefallen, dass sie einmal einen vage Twin-Peaks-haften Videoclip hatten machen lassen, was ich zwar nicht unbedingt originell, aber doch sympathisch fand.
Ein Jahrtausend später holte ich mir ihr Singles-Albums Singles, hörte es mir an, faltete die Hände und betete: Lieber Gott, wenn du jemals alle Lieder von meiner Festplatte löschen solltest, bitte verschone diese!
Eine Band erst nach ihrer hauptsächlichen Schaffensperiode kennenzulernen hat Vorteile. Man kann sich die Oliven (Rosinen mag ich nicht) rauspicken und muss nicht in schmerzhafter Echtzeit all die typischen Verfallserscheinungen mitbekommen, die immer klare Indikatoren für baldige Bandauflösungen sind (Stilwechsel, Umbesetzungen, Bartwuchs). Andererseits verpasst man auch das Gute, den Sturm, den Drang, die Protzpriviliegien, dass man das alles schon kannte, bevor „alle“ es cool fanden.
Wenn die Zeiten vorbei sind, dass man jeden Morgen hinter der Indie-Dorfdisco in einer Bierlache auf hartem Asphalt aufwacht, ein gepiercetes Parka-Girlie mit verquollenen Augen an seiner Seite, verbindet man irgendwie keine guten Geschichten mehr mit Musik. Das Beste, was ich über Suede und mich erzählen könnte: Zu der Musik kann man gut joggen. Das klingt fast so läppisch wie: Zu der Musik kann man gut Auto fahren. Es wäre gelogen, würde ich behaupten, dass ich Menschen, die so etwas sagen, gewohnheitsmäßig die Freundschaft kündige. Tatsächlich funktioniert mein Instinkt so tadellos, dass ich mit ihnen gar nicht erst Freundschaft schließe.
Ein bisschen hinkt der Vergleich zum Glück schon. Zwar mangelt es mir an eigener Erfahrung, doch könnte ich mir vorstellen, dass man sich beim Autofahren konzentrieren muss, auf die Straße achten, dass man ausnahmsweise keinen umbringt, zum Beispiel Jogger. Beim Sport hingegen kann man seinen Gefühlen freien Lauf lassen, auch mal ganz in der Musik aufgehen. Sie ist also beim Sport anders als beim Fahren keine bloße Hintergrundberieselung, sondern kann durchaus als Hauptsache en détail gewürdigt werden. Zumindest, wenn man es richtig macht. Man darf es mit dem Meister aller Sportmotivatoren halten:
Mir fällt gerade ein: Etwas popwürdiger als die Gute-Musik-zum-Joggen-Anekdote ist vielleicht, wie ich einmal die traumhafte Suede-Ballade „Trash“ in einer Karaoke-Kabine in Takadanobaba gesungen habe. Wenn ich mich doch nur noch vernünftig daran erinnern könnte. Was in Karaoke-Kabinen in Takadanobaba passiert, bleibt in Karaoke-Kabinen in Takadanobaba.
(Nachstellung, nicht ich in dem Video)
Es gäbe für mich also keinen wirklich triftigen Grund, bei einem Suede-Konzert Schlüpfer zu werfen. Bei Stephen King hingegen werfe ich gerne Schlüpfer aufs Podium, wenn er am 19. November anlässlich des Krimi-Festivals in München lesen wird. (Ich habe übrigens vor, nächstes Jahr selbst dort zu lesen, auch wenn die Veranstalter noch nichts davon ahnen. Wahrscheinlich nicht im Circus Krone, eher in einem Thai-Sushi-Imbiss mit drei Plätzen. Dafür wird es wahrscheinlich auch unter 29 Euro pro Person kosten.)
Meine erste Begegnung mit Stephen King hat so vieles bewirkt (bei mir), dass ich ganz genau weiß, wo ich anfangen muss. Ich war 14 Jahre alt und der Film Christine kam in die deutschen Kinos. Da ging es um ein Killerauto aus der Hölle, das musste ich sehen.
Ich hatte mich zum Kinobesuch mit einem Jungen aus meiner Bande verabredet, nennen wir ihn Tom. Leider war der Horrorschocker ab 16 Jahre freigegeben. Die Kinokartenverkäuferin fragte uns: „Na, wie alt seid ihr denn?!“
Ich sagte wie aus der Pistole geschossen: „16!“, und blieb die Coolness selbst, bilde ich mir ein.
Tom sagte: „Äh … äh… 16 …?“, und wurde rot wie eine Tomate. Wo er Tomaten noch nicht mal mochte.
Wir haben also Christine an diesem Tag nicht gesehen. Stattdessen habe ich mir den Roman gekauft und danach war nichts mehr, wie es einmal war. Ich hatte nicht für möglich gehalten, dass derlei fesselnd von ganz normalen Menschen in der ganz normalen Welt erzählt werden konnte. Das Horrorauto war mir schnell völlig schnurz. Zuvor hatte ich nur Bücher gelesen, in denen es um Kampfraumschiffkommandeure oder prähistorische Barbaren ging. Stephen King und Stephen King allein führte mich von Jugendbüchern zu Erwachsenenbüchern, von Vergangenheits- und Zukunftsthemen zu Gegenwartsthemen, machte aus meinem unverbindlichen Interesse am Horrorgenre eine leidenschaftliche Liebe.
Ich habe Christine bis heute kein zweites Mal gelesen. Gut möglich, dass es nicht Kings stärkstes Werk ist. Bei der qualitativen Durchnummerierung seiner Bücher, die in letzter Zeit ein besonders beliebter Feuilletonsport zu sein scheint, landet es meist auf den hinteren Plätzen. Man mokiert sich hin und wieder, King habe das Motiv des bösen Autos ein paarmal zu häufig bemüht. Das allerdings ist ein Denkfehler. Das Automobil ist schließlich der offizielle Transporteur des Amerikanischen Traumes, und das Aufzeigen des Alptraumhaften daran ist Stephen Kings Dauerthema, wie es das Dauerthema jedes anderen zeitgenössischen amerikanischen Autoren ist, der was auf sich hält. King hat im Laufe der Jahrzehnte ein paar Gurkenbücher geschrieben, also genau so wie Philip Roth oder John Updike, aber das Wiederverwenden von Motiven muss man ihm nicht vorwerfen, das ist eine zulässige literarische Praxis. Das Spukauto ist moderner und amerikanischer als das Spukhaus, das als Konzept inzwischen doch ein wenig zu 19. Jahrhundert, ein bisschen zu sehr Alte Welt ist.
Das ist mehr Autoverteidigung, als Sie jemals wieder von mir hören werden. Eigentlich geht es darum: Wer also meine Suede-Karte haben möchte, soll sich melden. Die Person mit der rührendsten Geschichte gewinnt. Zuerst wollte ich zur Bedingung machen, dass die Geschichte Suede-Bezug haben muss. Allerdings haben Menschen mit rührenden Suede-Geschichten wahrscheinlich schon eine Karte und ich bin kein Unmensch. Es kann irgendeine Geschichte sein. Nur sputen müssen Sie sich, das alles findet schließlich schon nächste Woche Dienstag statt.
Bonuspunkte gibt es für die Verwendung des Begriffs „Heiliger Bimbam“. Ich lese gerade parallel den Stephen-King-Roman Doctor Sleep und Ben Winters‘ famosen präapokalyptischen Krimi Der letzte Polizist, beide aus journalistischer Sorgfaltspflicht in der deutschen Übersetzung. Ich bin begeistert, dass beide Bücher den schon etwas in Vergessenheit geratenen Kraftausdruck „Heiliger Bimbam“ energisch zum Comeback befeuern. Bitte alle mitmachen. Wir dürfen jetzt nicht nachlassen.
Als ich vor gut vier Jahren mit widerwilligem Zähneknirschen diesen Blog begann, war ich ein zorniger junger Dreikäsehoch von knapp vierzig Jahren. Was wusste ich schon vom Leben. Stein und Bein habe ich damals geschworen, dass der Blog mein einziges Zugeständnis an die Online-Idiotie bliebe, ich den ganzen Quatsch mit sozialem Netzwerkheckmeck und Dauergezwitscher nicht mitmachen würde. Das war meine damalige Online-Strategie.
Meine neue Online-Strategie lautet: Ich mach den ganzen Quatsch doch. Jetzt, wo es jeder macht, ist es so uncool, dass es schon wieder cool ist. Aber ich werde die Sache langsam angehen, erst mal nur den großen Zeh reinhalten. Der erste Schritt meines großen Online-Love-Ins: Heute gebe ich diesen Blog für Kommentare frei. Weitere Phasen folgen, aber ganz bestimmt nicht mehr diese Woche, ich muss mich jetzt erst mal von meinem eigenen Ungestüm erholen.
Frei heißt freilich nicht völlig frei, wo kämen wir da hin. Alle Kommentare guck ich mir erst mal an, bevor sie freigegeben werden, und das kann dauern, wir sind ja hier nicht im Internet. Beiträge, die mir nicht in den Kram passen, werden nicht freigeschaltet. Das, liebe Kinder, ist keine „ZENSU-HU-HU-HUR!!!“, sondern Ausübung meines Hausrechts, also ein durch und durch demokratischer Akt. Kraftausdrücke werden in Maßen toleriert, aber niemals honoriert. Die deutsche Sprache hat genügend Worte, um auch leidenschaftliche Zustände deutlich zu benennen, ohne sprachlich in die Gosse zu greifen. Wer Fragen hat, die nicht die ganze Klasse etwas angehen, darf sie mir per E-Mail schicken, die Adresse steht irgendwo rechts (von Ihnen aus). (Kleiner Tipp dazu: Viele Fragen können auch von Internetsuchmaschinen beantwortet werden.)
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Ehe der Monat ganz ohne Wortmeldung verstreicht, schnell der Hinweis, dass ich jüngst noch ein Buch besprochen habe, und zwar Schöne Ruinen von Jess Walter.
Von den beiden Büchern, die ich selbst gerade schreibe, erscheint eines im rührigen Conbook Verlag. Dort war man so gut, mir schon jetzt eine kleine Seite einzurichten.
Ach, wo ich schon mal hier bin, muss ich doch noch etwas loswerden. Neulich wollte ich fernsehen und habe mir für diese herrliche Retro-Beschäftigung herrlich retro eine Programmillustrierte gekauft (ja, gibt es noch, hat mich auch gewundert). Ich schlug sie an einer zufälligen Stelle auf und ließ meine Augen an einen zufälligen Punkt wandern. Ich stellte fest, dass ich die Wahl hatte zwischen etwas namens Beziehungen und andere Katastrophen und Männer und andere Katastrophen.
Ich weiß, dass ich nicht in der Position bin, Forderungen zu stellen, aber das hindert mich genauso wenig wie alle anderen Menschen vom Planeten Erde daran trotzdem welche zu stellen, wenn mir eine Laus über die Leber gelaufen ist: Ich fordere hiermit, dass keine Filme, TV-, Theater- und Audioproduktionen, Romane, Essays, Softwareapplikationen u. ä. mehr veröffentlicht werden, deren Titel ironisch auf „und andere Katastrophen“ oder – wo wir schon dabei sind – „und andere Kleinigkeiten“ enden. Es gibt bereits genug davon und es hat spätestens nach dem ersten Mal aufgehört, witzig zu sein. Diese niemals aussterbende Marotte erinnert unangenehm an den noch immer grassierenden Reloaded-Unfug, der vor Jahren durch einen Film in die Welt kam, den noch nicht mal irgendjemand mochte, wenn ich mich recht erinnere. Der Kleinigkeiten-Unfug kommt vielleicht von Verbrechen und andere Kleinigkeiten, einer von Woody Allens sechs besten Filmen (fragen sie nicht nach den anderen fünf, ich habe zufällig eine Zahl gewählt), der für seinen deutschen Titel nichts kann.
Auf dem Buchmarkt scheint der Katastrophen-Kleinigkeiten-Unfug noch verbreiteter als auf dem Filmmarkt. Ganz besonders schlimm trifft es die Vampire: Es gibt sowohl Vampire und andere Katastrophen wie auch Vampire und andere Kleinigkeiten. Lesen möchte ich keins von beiden, der Titel versaut es mir, schönen Dank auch.
Als ich übrigens in meiner Programmillustrierten den Titel Männer und andere Katastrophen sah, dachte ich spontan: Würg, könnte direkt ein Kerstin-Gier-Titel sein. Jetzt stelle ich bei meiner Recherche fest: Ist tatsächlich ein Kerstin-Gier-Titel (allerdings AUCH einer von einer gewissen Franziska Becker, während eine andere Autorin auf Mütter, Männer und andere Katastrophen erhöht).
Rechtlicher Hinweis
Ich gehe davon, dass Kerstin Gier ein tadelloser Mensch ist. Ich habe keines ihrer bestimmt zu Recht sehr populären Bücher gelesen, weshalb ich mir über deren Inhalte kein Urteil anmaßen möchte. Als objektive Tatsache kann ich nur feststellen, dass die Titel bekloppt sind.
Meine große Bitte fürs neue Jahr an alle, die Texte für die Öffentlichkeit schreiben, ganz egal ob Zeitungskolumnen, Illustriertenartikel, Gedichte, Kochrezepte, Werbesprüche, Drehbücher, Strickmuster, Pressemitteilungen, Liedtexte, Produktbeschreibungen, Gebrauchsanweisungen, Tweets oder offene Briefe: Bitte, bitte, so verführerisch es auch sein sollte, und so umwerfend clever es Ihnen erscheinen mag – halten Sie unbedingt Abstand davon, jetzt jeden Ausdruck, jede Floskel, jede Schlag- und Titelzeile mit ‚Unchained‘ zu beenden. Wir haben dieses Elend schon mit ‚Reloaded‘ und ‚Quantum‘ durchgemacht. Wir haben es zwar überlebt, aber nur knapp. Bitte nicht Hanni und Nanni Unchained, Knaller-Angebote Unchained, Pommes mit Mayo Unchained. Es ist nicht clever. Jeder andere hatte die Idee auch schon. Vielen Dank für Ihr Verständnis.
Meine große Frage ans neue Jahr: Warum haben es all die Pornografen plötzlich auf mich abgesehen? Ich habe die Kommentarfunktion dieses Blogs abgeschaltet, damit ich nicht ständig reinschauen und aufräumen muss. Allerdings habe ich die Trackback-Funktion angelassen, weil ich nicht weiß, was das ist, und es harmlos klingt. Es sind in den vergangenen Jahren nur wenige Trackback-Anfragen reingekommen, die ich alle abgelehnt habe. Die meisten waren grober Unfug, das Nachvollziehbarste war noch die Anfrage einer Seite mit Feuerwehr-News zu diesem Beitrag (jetzt kommt wahrscheinlich wieder eine, weil ich ‚Feuerwehr‘ gesagt habe). In den letzten Tagen jedoch wimmelt mein Briefkasten vor höflichen Trackback-Bewerbungen, überwiegend zu folgenden Themen: nude teens…, hardcore sex…, naked girls…, aber auch special occassion for anal…. Wussten Sie, dass es sowas im Internet gibt?!
Ich zitiere das hier so ausführlich, weil ich mir davon optimale Suchmaschinenoptimierung und die Anlockung hochwertiger neuer Leser verspreche. Solche, wie die TV-Redakteurin, die mich unlängst zum Thema ‚Frauen, die Männer in Uniform lieben‘ einladen wollte – wohlgemerkt in der Annahme, ich sei so eine (Liebe Shakira …).
Betroffen ist von der Porno-Attacke nur ein Artikel, und zwar dieser. Warum? Weil das Wort ‚Banane‘ darin vorkommt? Oder wegen ‚Pipifax‘? Umkleideraum? Fruchtriegel?
Zum Thema jenes Artikels fällt mir ein, dass ich dieses Jahr zu meinem Erschrecken schon wieder dabei bin. Wir sehen uns dann dort.
Beim Thema ‚Unchained‘ fällt mir ein, dass ich gerade inneren Frieden mit Quentin Tarantino geschlossen habe. Das freut Tarantino bestimmt sehr, denn er hat manche Träne in sein Kissen kullern lassen, weil ausgerechnet ich ihn nicht recht lieben mochte, ich konnte es spüren. Dabei hatte ich Reservoir Dogs seinerzeit sehrwohl geliebt, ich war im anfälligen Alter und hatte das passende Geschlecht. Bei Pulp Fiction musste ich schon ein bisschen lügen (nicht lieben war gesellschaftlich nicht akzeptabel). Nach dem sterbenslangweiligen (euphemistisch: sehr erwachsenen) Jackie Brown und dem albernen Kill Bill 1 plusterte ich mich auf und schwor mit der Bockigkeit des enttäuschten Liebhabers: Von hier an kommt mir kein weiterer Film von diesem Tarantino vor die Augen! Das war leichter, als gedacht. Ich ging fort und schaute nie wieder zurück, denn dieser Tarantino bedeutete mir nichts mehr, gar nichts, wirklich nicht, keinerlei Interesse, schnief.
Letztens jedoch kam es zur Entplusterung. Nach einem heißen Bad, einer Massage und einem Schluck Schnaps folgte die Einsicht: Herrje, man muss doch nicht aus jedem Kleinscheiß gleich ein radikales Politikum machen! Weil mir der Trailer zu Django Unchained gegen alle Widerstände gut gefallen hatte, beschloss ich, es noch einmal mit Kill Bill zu versuchen.
Mit meiner neuen, altersweisen ‚Ist-doch-nur-ein-Film‘-Einstellung konnte ich hinterher ohne schlechtes Gewissen zugeben: Hat gar nicht wehgetan, sondern gut unterhalten. Auf eine doofe Art zwar, aber wir sind doch alle ab und zu mal ein bisschen doof.
Das Doofe bleibt derweil das, was am Phänomen Tarantino ein wenig bedenklich ist. Er selbst kann nichts dafür, doch handeln seine Verehrer seine Filme, als handele es sich um hohe Kunst mit Anspruch und Tiefgang. Da muss man klipp und klar sagen: Nein! Tarantinos Filme sind nicht gehaltvoller als die von Michael Bay. Sie betüdeln ein anderes Publikum, aber nicht unbedingt ein besseres. Tarantino mag sich bei Filmen bedienen, die mehr als nur Oberfläche zu bieten haben. Seine eigenen Filme allerdings übernehmen nur die Oberfläche. Kill Bill wurde hauptsächlich von den japanischen Rache-Dramen Sasori und Lady Snowblood inspiriert, das zeugt von gutem Geschmack. Nun verhandeln diese Filme durchaus große Themen wie den Zusammenhang von Chauvinismus und Nationalismus, oder die Balance zwischen politischer Offenheit und politischem Opportunismus. Das, und lesbische Leidenschaft hinter Gittern. Das einzige Thema von Kill Bill hingegen ist: Ey, guck mal die Alte mit dem Samurai-Schwert!
Soll man ruhig gucken, die Alte. Aber wer danach nicht weiterguckt, bleibt doof.
Schöner hätte ich es übrigens gefunden, wenn man den deutschen Titel von Lady Snowblood direkt vom Originaltitel Shurayuki hime übersetzt hätte: Schneemetzelchen.
Heute rechne ich es Tarantinos Filmen hoch an, dass sie ihren Inspirationsquellen neue Aufmerksamkeit verschaffen. Immerhin macht er inzwischen selbst keinen Hehl aus seiner Arbeitsweise; das war bei Reservoir Dogs noch anders. Seinerzeit mussten findige Enthüllungsjournalisten von alleine drauf kommen, dass Prämisse und Figuren von Ringo Lams City on Fire abgekupfert waren. Kill Bill ist gut, die Sasori- und Schneemetzelchen-Filme sind besser. Ob es die heute ohne Tarantino-Unterstützung in liebevoll restaurierten, erschwinglichen Fassungen für zu Hause gäbe, ist stark zu bezweifeln.
Viele Spinner Asien-Experten rümpfen gerne ihr hohes Näschen, wenn ihnen sog. Orientalismus unterkommt, also die westliche Verkitschung von Asiatischem, zum Beispiel die Welt der Suzie Wong und deutschen China-Restaurants mit ihren roten Lampions und goldenen Drachen. Ich aber sage: Ein Hoch auf den Orientalismus!Suzie Wong ist nicht der schlechteste Roman, und deutsche China-Restaurants sind ganz prima (wenn nur das Essen nicht wäre)! Seit ich als Drei-Käse-Hoch zum ersten Mal in einem rot-goldenen China-Restaurant an irgendeiner norddeutschen Landstraße gastierte, wusste ich, dass ich das besser fand als Leberwurst mit Sauerkraut – ästhetisch, kulinarisch und mental. Die Authentizität kann man später ausbauen, doch es braucht einen ersten Funken. Das kann Ente süß-sauer mit Lampions genauso wie Kill Bill sein. Zusammenfassend könnte man sagen: Quentin Tarantino ist wie ein deutsches China-Restaurant. Viel Spaß auf der weiteren Entdeckungsreise.
(Diese schöne Ausgabe habe ich übrigens neulich erstanden.)
Tarantino ist bekanntlich nicht der einzige Filmemacher, der sich in Retromanie suhlt. So früh im Jahr wollen wir uns nicht gleich aufregen und so tun, als wäre das der Untergang der Welt, sondern einfach mal zugeben, dass wir uns darin mitunter selbst ganz gerne aalen. Weitaus lieber als die Filme von Tarantino und seinem Mini-Me Eli Roth sind mir seit kurzem die Filme von Ti West. Ich möchte hier nicht von seinen Auftragsarbeiten und Jugendsünden sprechen, sondern nur von seinem Hauptwerk als Autorenfilmer, also The House of the Devil und The Innkeepers. Zwei Schauerfilme in gemütlichem Tempo und nostalgischer Optik, die stärker polarisieren als alle Martyrs, Women und Serbian Films zusammen. Die einen finden diese Filme sterbenslangweilig, die anderen finden, dass den einen schlicht die nötige geistige Reife fehlt. Das ist natürlich überheblich und arrogant. Aber was soll man machen, es ist halt die Wahrheit.
Mich erinnert die Kontroverse um Ti West an einen Schwank aus meiner Jugend, als ich selbst noch kräftiger reifen musste als heute (ganz hört man freilich und hoffentlich nie auf). Wie jeder gesunde junge Mann verbrachte ich viel Zeit mit Freunden auf den Sofas verreister Eltern bei Dosenbier und Gewaltvideos. Einmal hatte ich den Film Die Wiege des Bösen auf Kassette mitgebracht, weil mich die Kinowerbung stark beeindruckt hatte. Damals warben Kinobetreiber noch mit Szenenfotos im Aushang um das Interesse der Zuschauer. Die Wiege des Bösen allerdings warb nur mit dem Hinweis, der Film sei so grausig, DASS MAN KEIN EINZIGES BILD ZEIGEN KÖNNE!!!
Unsere Empörung war groß, als sich der Film als ein einfühlsames Familiendrama über die schwierige Erziehung eines bissigen Mutanten-Babys herausstellte.
Doch nicht alle Halbstarken waren gleichermaßen empört. Einer scherte aus und gestand ganz offen: „Also, ich fand den Film gar nicht sooo schlecht. Der war so … menschlich.“
Inzwischen weiß ich: Einer von uns hatte den anderen etwas voraus, und das war nicht ich. Da hatte jemand das auf den Punkt gebracht, was ich heute an Ti Wests Filmen so schätze: Die sind so … menschlich.
The House of the Devil gefällt mir ein bisschen besser als der neuere The Innkeepers, der die Ruhe noch etwas mehr weg hat (wahrscheinlich muss ich noch ein wenig reifen). Allerdings war bei The House of the Devil das Boooring-Gebrüll der Ewigheutigen bereits ohrenbetäubend. Häufiger Kritikpunkt bei beiden Filmen ist, dass 40 bis 90 Minuten lang so gut wie nichts passiert. Vielleicht ist das eine Frage der Lebenseinstellung. Ich finde es sehr angenehm, wenn mal 40 bis 90 Minuten nichts passiert.
Ti West schießt seine Filme nicht nur in Retro-Optik, sondern auch mit Retro-Dramaturgie. Das macht ihn radikal in einem Umfeld, das schnelle Schocks und schnelle Schnitte und sonst nichts seit Jahren für ultramodern hält. Filme, die durch noch mehr Elend und Eingeweide als der letzte Film waten, werden gern als grenzüberschreitend angehimmelt. Ob da wirklich eine Grenze ist, die man überschreiten könnte, bezweifle ich. West scheint mit seinem Mut zur Reduktion viel grenzüberschreitender, das bestätigen auch die feindseligen Überreaktionen verstörter Zuschauer. Möglicherweise ist die Grenze sehr wohl da, aber wir befinden uns mehrheitlich längst auf der anderen Seite. Ti West überschreitet sie in die entgegengesetzte Richtung. Damit provoziert er mehr als jeder Brüll- und Spritzfilmer. Sicherlich gehört er zur relativ jungen Generation von Regisseuren, die der Liebe wegen und nicht der Einfachheit halber im Horrorgenre arbeiten. Das hat er gemein mit, beispielsweise, Rob Zombie. Trotzdem wirkt er wie der Anti-Rob-Zombie. Denn im Gegensatz zu Herrn Zombie versteht Ti West Horror auch. Manchmal ist Liebe allein nicht genug.
Ach, das ist ja ein schreckliches Schlusswort! Schieben wir schnell hinterher: Aber ohne Liebe geht es schon gar nicht.
Oder: Acht wirkliche wahre Wahrheiten über E-Books, und dann ist aber auch gut
So war der Plan: Ich wollte mich bitterlich beschweren, dass zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse die Illustrierten nicht mit dem Thema Neuseeland titelten, wie sie es in der Vergangenheit getan hätten, sondern mit dem Thema E-Books (ich verwende den englischen Begriff, damit man mich versteht). Leider hat der Plan nicht hingehauen. Nicht etwa, weil die Presse ihre von der breiten Masse kaum geteilte E-Book-Hysterie abgelegt hätte. Sondern weil inzwischen gar nicht mehr zur Buchmesse getitelt wird. Früher noch eine sichere Cover-Bank wie Hitler oder Wetten, dass ..?, heute Marginalie. Dann hätte ich doch lieber E-Books als gar nichts gehabt.
Trotzdem, in den Zweizeilern, denen die Messe der Presse hier und da wert ist, stimmt das befürchtete Bild wieder: Was gelesen wird, interessiert nicht. Nur wie gelesen wird, digital nämlich, diesmal aber wirklich. E-Books sind nicht totzukriegen, genau wie der Internet-Kühlschrank. Über den schrieb ich 1998 als frisch vereidigter Nachrichtenredakteur meine erste eigene Nachrichtenmeldung. Das Gerät stand damals kurz vorm großen Durchbruch. Dort steht es seitdem und geht nicht weg. Jedes Jahr ist es dem Boulevard eine neue Meldung wert, wenn wieder irgendeine Messe ist. Zuletzt wurde der Internet-Kühlschrank auf der Internationalen Funkausstellung 2012 gesehen. Aber schon bald auch in Ihrer Küche, denn er steht jetzt kurz vor dem großen Durchbruch.
Vieles wird über das E-Book und seine Bedeutung für die Menschheit behauptet. Damit Sie nicht den Überblick verlieren, möchte ich nutzwertig servicejournalistisch die wichtigsten Punkte zusammenfassen. Das eine oder andere habe ich bestimmt an anderer Stelle schon mal so ähnlich oder genauso geschrieben, aber das macht nichts. Die anderen sagen in der E-Book-Debatte ja auch ständig dasselbe.
1. Nicht jeder kann jetzt Autor und Verleger sein
Weil die Produktionsmittel so erschwinglich und leicht zu bedienen sind, kann jetzt jeder ran. Das ist genau derselbe Unsinn, der vor ein paar Jahren übers Musizieren und Filmemachen verbreitet wurde. Was hat es uns gebracht? Katzenvideos. Theoretisch konnte schon seit der Erfindung des Schreibgerätes jeder ein Buch schreiben, der den Drang verspürte. In den meisten Fällen ist nichts draus geworden. Neu ist nur, dass das Nichtsgewordene jetzt gedankenlos veröffentlicht werden kann. Doch nicht jeder Buchhochlader ist ein Verleger, genauso wie nicht jeder Katzenvideohochlader ein Filmmogul ist.
Ich bin übrigens im Besitz von Hämmern und Nägeln. Das macht mich nicht zum Handwerker, musste ich feststellen. Ich benutze jetzt wieder vermehrt Tesafilm.
2. An den literarischen Formen ändert das E-Book nichts„Ey, Alter, ich bin total geflasht: Opas Roman ist tot! E-Books eröffnen der Literatur ganz neue Möglichkeiten! Enhanced E-Books zum Beispiel … oder Fortsetzungsromane … oder, oder … noch irgendwas! Auf jeden Fall aber Enhanced E-Books und Fortsetzungsromane! Obwohl der Roman ja eigentlich tot ist …“
So tönt der junge Markt- und Medienanalytiker. Tatsächlich bleibt das E-Book ein Buch und die Kirche im Dorf. Dass alle multimedial aufgepeppten E-Books bislang spektakulär gefloppt sind, liegt nicht (wie oft kolportiert) daran, dass sie technisch noch nicht peppig genug waren. Sondern einzig und allein daran, dass diese Mischformen keine Sau interessieren. Warum auch? Hat sich jemals jemand die Gimmick-DVDs, die Plattenlabels mitunter in schierer Verzweiflung ihren CD-Veröffentlichungen beilegen, mehr als einmal angesehen? Ich habe etliche, die ich noch nie gesehen habe, obwohl mir die CDs gefallen. Musik ist halt Musik, Buch ist Buch, Film ist Film, Tetris ist Tetris. Alles schön und gut, und alles bitte zu seiner Zeit und im angemessenen Rahmen. Ein Buch, das die Unterstützung von Soundtracks, interaktiven Landkarten und Katzenvideos braucht, kann kein gutes Buch sein.
Seltsam, dass die Literaturmodernisierungsenthusiasten jetzt wieder mit dem Fortsetzungsroman kommen. Noch seltsamer, dass sie meist selbst ganz neunmalklug darauf hinweisen, dass diese Form schon zu Dickens‘ Zeiten praktiziert wurde. Man soll also mit der modernsten Form des Lesens husch husch zurück zur Publikationsform des 19. Jahrhunderts? Das ist nicht innovativ, das ist hanebüchener Humbug. Fortsetzungsromane sind außerdem nie ausgestorben. Wer sich seinen Leserhythmus gerne vorschreiben lässt, findet eine große Auswahl am Bahnhofskiosk seines Vertrauens.
Überhaupt, die Form: Mit E-Books könne man jetzt auch mal kürzere Texte raushauen, und vor allem aktuellere, so freut man sich. Ersteres konnte man schon immer (Buch ist Buch ab 49 Seiten, nicht erst ab dreistellig). Interessiert nur keinen deutschen Leser, hier wird Qualität noch in Quantität gemessen: Dickes Buch ist gutes Buch. Letzteres ist unnötig, denn nicht jede Neuigkeit muss stante pede ein Buch werden. Ein Zeitungsartikel, ein Blogeintrag, ein Tweet reichen zur schriftlichen Nachrichtenvermittlung vollkommen aus.
3. E-Books könnten vereinzelt günstiger sein, aber nicht viel
Will der Boulevard den Geizbürger wütend machen, rechnet er ihm nach Milchmädchenmanier gerne vor, wie teuer das Smartphone, das er sich sowieso nicht gekauft hat, rein nach Materialwert wäre: Meistens ein Apfel und zwei Eier. Entwicklungs-, Produktions-, Vertriebs- und Marketing-Kosten, Produktpflege und Mitarbeitergehälter einfach mal außen vor gelassen, Gewinnspanne sowieso, Gewinnspanne ist schließlich was Unanständiges. Diese Unsinnsrechnung bekommt man auch immer wieder zum Thema E-Books zu hören: Muss nicht auf Papier, darf also nichts kosten. Dabei kostet die Erstellung eines Buches das, was die Erstellung eines Buches eben kostet. E-Books sind nicht günstiger zu schreiben, zu recherchieren, zu übersetzen, zu lektorieren, zu gestalten und zu vermarkten als gedruckte Bücher. Material wird als Kostenfaktor vom fachfremden Frotzler seit Jahr und Tag überschätzt. Selbstverständlich macht es einen Unterschied, ob ein Buch gebunden im Lager oder digital auf dem Server liegt. Dieser Unterschied ist allerdings weitaus geringer, als weithin angenommen wird. Möglicherweise kann man hier und da in den E-Book-Preisen noch etwas runtergehen. Doch im Großen und Ganzen scheinen mir die Preise auf dem deutschen Markt ganz vernünftig und kaum frech.
4. Klassische Verlage werden wichtiger denn je
Die Hysteriker behaupten gerne das Gegenteil, empfinden die verlegerische Gatekeeper-Funktion (Schimpfwort über Nacht) als Bevormundung und nicht als den dankenswerten Dienst, der sie ist. Außerdem würden Verlage Autoren das Geld wegnehmen, das Blut aussaugen und ihre Erstgeborenen zu Gulasch verkochen. Tatsächlich sorgen Verlage dafür, dass Autoren von mehr als nur Mami, Papi und Facebook-Freunden gelesen werden und dafür auch noch Geld bekommen. Außerdem sorgen sie dafür, dass die Bücher der Autoren besser werden, als die Autoren gedacht hätten, und besser aussehen, als die Autoren es mit Powerpoint und Kreide hinbekommen würden. Dabei haben die Verlage jede Menge Ausgaben, die Autoren gar keine. Es ist nur gerecht, dass Verlage am Verkauf ihrer Produkte ordentlich mitverdienen. Natürlich können sich freie Autoren, Lektoren und Vermarkter zu Cliquen zusammenverschwören und durchaus professionelle Produkte am Verlagswesen vorbeipublizieren. Dafür müssen sie aber in eine finanzielle Vorleistung gehen, die sich die meisten literarischen Hoffnungsträger nicht werden leisten können.
Selbstverständlich müssen Verlage ihre Arbeit mit Hirn und Herz betreiben, sonst wird es nichts. In letzten Jahren musste ich mich bei großen Publikumsverlagen immer häufiger über Übersetzungen ärgern, die direkt aus dem Google-Translator zu kommen schienen; von schauerlichen Fehlentscheidungen, was veröffentlicht und was ignoriert wird, mal ganz abgesehen. Doch das ist eben nicht ein Problem des Verlagswesens an sich. Das ist nur das Problem, wenn Verlage ihre Arbeit nicht vernünftig machen. Wenn sie sie vernünftig machen, bleiben sie unverzichtbar.
5. Das gedruckte Buch wird uns noch sehr, sehr lange erhalten bleiben
Und zwar nicht nur als bibliophiler Luxus-Fetisch für Menschen mit Ellenbogenflicken und Brillenbändchen, wie es selbst eben diese Menschen mit hängenden Schultern und gesenktem Blick oft prognostizieren. Der E-Book-Markt in Deutschland wächst schwindelerregend, vom vorletzten Jahr aufs letzte rund 100%. Nämlich von 0,5% auf 1% Anteil am gesamten Buchmarkt. Für dieses Jahr werden von Optimisten schon wieder 100% vorausgesagt, dann wären wir bereits bei 2%.
Allerdings zeigt die Erfahrung und sagt der gesunde Menschenverstand, dass sich 100%-Sprünge nicht Jahr um Jahr um Jahr wiederholen. Außerdem ist das elektronische Buch traditionell in erster Linie etwas für den guten, alten Online-Handel. In Deutschland kommt der Versandhandel (inklusive Online, aber nicht nur) auf nicht mal 20% des gesamten Buchhandels. Dieser Anteil ist eher stabil als auf der Überholspur.
Der US-amerikanische Markt ist bekanntlich der Streber unter den E-Book-Märkten. Dort beruhigen sich die Zuwächse mittlerweile, der Marktanteil liegt bei knapp 16%. Rapide steigt hingegen die Anzahl der Dualleser: Immer mehr Schmökerfreunde, die zu Anfang des E-Booms komplett auf E waren, lesen wieder mal so, mal so. Es setzt sich die Erkenntnis durch: Das Medium ist nicht die Message.
6. E-Book-Millionärin werden Sie nicht, und ich auch nicht
Auch in deutschen Medien eine gern genommene Sensationsmeldung: Mausi X und John Y haben mit ihren selbst veröffentlichten Vampirgeschichten und Thrillern Millionen von E-Books verkauft. Das beflügelt das eigene Schreiben, möglicherweise sogar das Kündigungsschreiben.
Mit letzterem sollte man noch warten, denn Mausi und John haben ihre Millionenseller auf Englisch verfasst. Ganz viele Leser überall auf der Welt sprechen Englisch als Muttersprache. Dazu kommen weltweit noch jede Menge Anglophile, die mit Begeisterung englische Bücher lesen, obwohl es nicht ihre Muttersprache ist. Mit Deutsch sieht das in beiden Fällen anders aus.
Außerdem haben all die Mausis und Johns ihren Minuten-Ruhm genutzt, um sich klassische Verlagsverträge zu angeln. Denn ihre Millionen Bücher sind sie nur losgeworden, weil sie sie für knapp nichts verschleudert haben. Davon kommen nicht dauerhaft drei Mahlzeiten täglich auf den Tisch. Siehe Punkt 4.
7. Das Urheberrecht darf reformiert werden
Ob Koks oder Kopie: Wird ein Gesetz nur häufig genug gebrochen, krabbeln gleich die Schildbürger unter ihren Schilden hervor und brabbeln, man solle das Gesetz einfach abschaffen, dann wird es nicht mehr gebrochen, denn Kriminelle dürften doch um Gottes willen nicht kriminalisiert werden.
Dürfen sie wohl, müssen sie sogar. Ein Gesetz, das nicht greift aber in der Sache sinnvoll ist, muss reformiert werden, also verschärft. Piraten sind Verbrecher, dem Gesindel gehört das Handwerk gelegt. Auf hoher See, hoch droben in der Cloud und in den Parlamenten.
8. E-Books sind ganz, ganz toll
Sollte der Eindruck entstanden sein, ich fände E-Books blöde, ist dieser gänzlich falsch. Ich liebe E-Books, denn ich liebe Bücher. Endlich habe ich genügend Platz für alle meine Schminksachen und 700 Seiten Rushdie in meiner Handtasche. Was mir allerdings mitunter die Zehennägel bis zum Zahnfleisch hochrollen lässt (tut ganz schön weh), ist die Hysterie an allen Fronten. Das E-Book ist nicht die tollste Erfindung seit dem Buchdruck. Das E-Book ist die tollste Erfindung seit dem Taschenbuch. Das ist doch wohl toll genug. Amen.