Nudeltechno in der Stadt, die ziemlich früh zu Bett geht [Kaiho-Kolumne]

Hatte ich ganz vergessen zu erzählen: Weil es eines Abends beim Stammtisch der Deutsch-japanischen Gesellschaft in Bayern so gemütlich war, habe ich mich breitschlagen lassen, fortan eine Kolumne für das Vereinsblatt Kaiho zu schreiben. Und irgendwann werde ich auch Mitglied, versprochen.

An dieser Stelle werde ich die Kolumnen mit Zeitverzögerung zweitverwerten. Immer dann, wenn es im Heft eine neue zu lesen gibt, darf alle Welt hier einen Blick auf die alte werfen. Im aktuellen Kaiho lesen geneigte Mitglieder dieser Tage die neuesten Folge Die verschuldeten Idole von Galapagos.

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Vor ein paar Jahren verbrachte ich einige Nächte in einem Hotel in Ikebukuro. In einer dieser Nächte bezeugte ich, wie eine verhältnismäßig junge Dame mit karibischem Teint, einem roten Glitzerkleid und einem passenden Hut mit beeindruckender Krempe an die Rezeption trat. Sie wirkte ein bisschen, als sei sie gerade frisch aus dem New Yorker Studio 54 herausgetreten, und sie fragte die Rezeptionistin, wo man hier nach der besten Clubbing-Gelegenheit suchen müsse.

Die Rezeptionistin geriet daraufhin gehörig ins Schwimmen. Das mochte ganz unterschiedliche Gründe gehabt haben. Vielleicht war gerade Clubbing gerade ihr Kompetenzgebiet nicht. Vielleicht nahm sie das „hier“ zu lokal, schließlich ist der Glanz von Ikebukuro als Ausgeh-Ort schon fast so lange verblasst wie der des Studio 54 (das stört freilich nicht, wenn man den ganz besonderen Schimmer verblassten Glanzes zu schätzen weiß). Vielleicht hatte sie bei ihrem Hadern aber auch nur die Gesetzeslage im Sinn. Dann hätte ihre Antwort mit einem Blick auf die Uhr lauten müssen: „Ach, das lohnt jetzt sowieso nicht mehr. Gehen Sie lieber morgen gleich nach dem Abendessen los.“

Das Motto der Stadt, die niemals schläft, entlehnen Anhänger diverser Großstädte überall auf der Welt regelmäßig vom rechtmäßigen Besitzer (New York) und veredeln damit ihre eigenen Lieblingsstädte. Ich habe nicht selten gehört, wie das unüberlegt sogar über die japanische Hauptstadt gesagt wurde: Tokio – die Stadt, die niemals schläft. Dabei wäre ein viel passenderer Slogan: Tokio – die Stadt, die ziemlich früh zu Bett geht. Oder falls es unbedingt schlaflos klingen muss: Tokio – die Stadt, die früh aufsteht und keinen Mittagsschlaf braucht. Wenn allerdings in anderen Weltstädten das Nachtleben vornehm spät beginnt, müssen Tokios Nachtfalter schon wieder die Flatter machen. Denn Aufgrund eines Gesetzes, das im Nachkriegsjapan der Prostitution Einhalt gebieten sollte, darf in japanischen Clubs ohne Sondergenehmigung nur bis Mitternacht getanzt werden. Also eine Zeit, zu der westliche Clubber erst so langsam anfangen, sich die Schuhe zu schnüren.

Inzwischen glaubt kaum mehr jemand, dass Tanzen die Einstiegshandlung zur Prostitution ist, doch das Gesetz blieb bestehen. Vermutlich, weil es einfach vergessen wurde. Jahrzehntelang hatte sich niemanden daran gestört – in den Clubs wurden die Nächte durchgetanzt, die Justiz hatte Wichtigeres zu tun. Seit einigen Jahren aber hat man wieder ein strengeres Auge auf das veraltete Spättanzverbot. Um Ruhestörung zu unterbinden, sagt die Polizei. Weil anständige Clubs leichter zu maßregeln sind als unanständige Rotlichtbetriebe, mutmaßen Polizei-Skeptiker. Es ist durchaus keine Unmöglichkeit, eine Sondergenehmigung zu bekommen. Doch das wollen die meisten Club-Betreiber nicht, denn damit würden sie automatisch den fuzoku eigyo zugerechnet, einem dehnbaren Sammelbegriff für irgendwie anrüchige Erwachsenenunterhaltung. Es wäre wie ein Eingeständnis, dass das Gesetz doch irgendwo recht hat.

Immerhin, inzwischen bröckelt die Rechtslage. Eine baldige Reform ist sehr wahrscheinlich, schon jetzt gibt es kreative Wege der Umgehung. Seit 2013 werden Techno-Udon-Partys immer beliebter. Dabei wird gemeinschaftlich der Teig für Udon-Nudeln geknetet, mit Füßen, auf einer Tanzfläche, zu Techno-Beats. Das darf bis spät in die Nacht gehen, denn gegen nächtliche Speisezubereitung gibt es kein Gesetz. Selbstverständlich werden die Nudeln am Ende der Veranstaltung sofort zubereitet und verspeist. Tanzen beziehungsweise Kneten macht halt hungrig.

Trotz juristischem Entgegenkommen und kreativen Umwegen wird Japan in Sachen Club-Kultur wohl noch einige Zeit Entwicklungsland bleiben. Kurios, wenn man bedenkt, wie meilenweit Japan in anderen Aspekten der Popkultur und des modernen Lebens die Nase vorn hat.

Selbst wenn nachts getanzt werden dürfte – wie sollte man hin- und wieder wegkommen? Die öffentlichen Verkehrsmittel machen selbst in Millionenstädten zu Mitternacht Schicht im Schacht, mit Nachtbussen wird nur zögerlich experimentiert (und das gegen den lautstarken Widerstand der Taxiunternehmer). Dabei ist das Tanzen in der Stadt noch immer sehr viel leichter und freier als das Tanzen am Strand. In den Strand-Clubs der Shonan-Region darf Musik seit kurzem nur aus offiziell von regionalen Ämtern verteilten und voreingestellten Lautsprechern kommen. Und auch das nur, wenn es sich nicht um ‚Club-Musik‘ handelt.

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Aktueller Nachtrag: Nach (aber vermutlich nicht wegen) des Erscheinens dieser Kolumne wurden die Gesetze gelockert. Inzwischen darf länger getanzt werden, wenn es im Tanzschuppen heller als in einem Kino ist.

Ich würde so gerne mal wieder ein Buch kaufen

Und zwar bei dir, lieber stationärer Buchhandel. In letzter Zeit kaufe ich Bücher wieder verstärkt übers Internet. Dabei teile ich sie, all die romantischen Vorstellungen, von denen jetzt überall wieder so viel zu lesen ist (pikanterweise gerade im Internet): die von der kleinen, freundlichen, mit Liebe sortierten Buchhandlung an der Ecke ebenso wie die von dem sonnenlichtdurchfluteten City-Megastore mit Cappuccino-Sitzecke und mehrsprachiger Monsterauswahl. Beides toll, in der Theorie. Ich hätte auch durchaus keine Gewissensbisse, den Internethandel nicht mehr genügend zu unterstützen, wenn ich meine Bücher nicht dort bestellte, wo ich meine Windeln abonniere (also nicht direkt meine Windeln … Sie verstehen schon). Ich unterstütze den Internethandel schon in genügend anderen Bereichen, da kann ich Kulturgüter gern an kulturell wohlfeileren Orten kaufen. Denn die romantische Vorstellung vom Kulturgut Buch teile ich auch, immer noch, trotz der ganzen Lehrerkinder-, Katzenberger-, Torwart- und „Glaub an dich, dann glaubst du an dich“-Bücher da draußen. Die segensreiche Preisbindung kann man meinetwegen gerne auf andere Kulturgüter (Musik, Film, Hörbuch) ausweiten, den Kulturschaffenden und somit auch den Kulturkonsumierenden wird es nützen. Ich hatte in den letzten Jahren durchaus schöne Erlebnisse in real existierenden Buchhandlungen, bin selten ohne Transaktion aus einer hinausgegangen – ob in Bangkok, Barcelona, London, Paris, Seoul, Singapur, Taipeh oder Tokio.

Warum nur kommt das in München, Rothenburg oder Bremen nicht vor? Wieso finde ich dort weder die Dinge, die ich suche (und das ist wirklich selten allzu extravagant; ich bin simpler gestrickt, als ich es selbst wahrhaben möchte), noch Dinge, die ich spontan begehren kann? Die Bücher, die ich mir zuletzt in den Buchhandlungen der zuvor genannten internationalen Angeber-Städte gekauft habe, waren teils genau die, die meiner vorformulierten Kaufabsicht entsprachen, teils verheißungsvolle Zufallsentdeckungen, von denen ich noch nie zuvor gehört hatte, weder aus der Presse noch von Algorithmen oder Verlagsvorschauen. Letzteres, weil sie von Verlagen stammten, die ich nicht ohne Weiteres auf dem Schirm hatte.

Das wird in einer deutschen Mainstream-Buchhandlung nicht passieren (und nur um solche, vorgeblich breit aufgestellte Buchhandlungen geht es mir – dass es ganz wunderbare fachgebietspezialisierte Läden gibt, stelle ich nicht in Abrede), denn dort wird nichts ins Regal gestellt (geschweige denn auf den Tisch gelegt), was kleiner ist als Heyne. Die Hälfte aller Bücher sieht aus wie Dan Brown, und die Hälfte davon ist bei genauerer Betrachtung auch Dan Brown. Die andere Hälfte ist Pirincci und Sarrazin, also etwas, was ich bei einem Händler mit Gehirn und Gewissen gar nicht sehen möchte. Bei den Kettengeschäften ist das so, weil sie mit den Kettenverlagen kuscheln, beziehungsweise die mit ihnen. Bei den Kleinen ist das womöglich so, weil sie um ihre Existenz bangen und sich Bestseller im Zweifelsfall besser verkaufen als gute Bücher. Dafür vollstes Verständnis, macht den Zustand aber nicht besser. Es ließe sich bestimmt ein Mittelweg finden. Vielleicht mal ein oder zwei Bücher ins Sortiment nehmen, mit denen keiner rechnet. Das wäre ein Anfang, und es wäre bestimmt immer noch genug Platz für Darm mit Charme.

Am Rande sei darauf hingewiesen, dass ich in den meisten der im ersten Absatz erwähnten Auslandsstädte die Landessprache gar nicht genügend beherrsche, um in ihr andere als Miffy-Bücher fließend zu lesen (Abb. unten). Meine wunderschönen Einkaufserlebnisse beziehen sich also im Zweifelsfall lediglich auf die Abteilungen für englischsprachige Bücher in den betreffenden Häusern. Daraus lässt sich der Schluss ziehen: Deren Fremdsprachenabteilungen sind liebevoller bestückt als die Landessprachenabteilungen hiesiger Buchläden. Der Fairness halber sei gesagt, dass es sich in der Mehrzahl nicht um irgendwelche Buchläden handelte, die ich dort besuchte, sondern um bibliophil bekannte Vorzeigegeschäfte. Aber gerade drum sollte man sich an ihnen ein Beispiel nehmen. Wenn man nicht von den Besten lernt, wird’s nicht besser.

Es geht nicht darum, dass jeder Buchhändler jede Underground-Veröffentlichung aus jedem Independent-Knochenbrecher-Verlag vorrätig und im Schaufenster haben sollte. Es geht darum, kleinere Verlage, die genauso professionell arbeiten und anbieten wie jede Random-House-Abteilung, überhaupt in Betracht zu ziehen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass das außerhalb von Spezialgeschäften geschieht. Ich demonstriere es gern einmal am eigenen Beispiel. Dabei begebe ich mich auf dünnes Eis, denn es klingt leicht jammerlappig, wenn sich Autoren über mangelnde Präsenz der eigenen Titel bei einzelnen Händlern beschweren: „Buhhuhu – die halten meine Bücher in Geiselhaft! Da muss schnell eine Petition/ein offener Brief/der Staat her!“ So ein Blödsinn. Hat’s ein Händler nicht, geht man halt zum nächsten. Ist ja nicht so, dass beim Handel mit Büchern in Deutschland irgendjemand auch nur annähernd ein Monopol hätte (die gegenteilige Unsinnsbehauptung wird auch durch ihre gebetsmühlenartige Wiederholung nicht wahrer; zu meiner Überraschung hat zuletzt ausgerechnet die Taz versucht, ein bisschen empirische Vernunft in eine Debatte zu bringen, in der die meisten nur diffus gefühlsduseln). Trotzdem kann es anstrengend sein, Händler um Händler abzuklappern, bis man ein Buch findet, das nicht von Dan Brown ist und in etwa vielleicht sogar dem Buch entspricht, nach dem man gesucht hat. Ich also bin wie jeder andere Autor auch: wenn ich in einer Buchhandlung bin, schaue ich erst mal unauffällig, ob meine eigenen Bücher vorrätig sind. Drei sind bislang veröffentlicht: eines in einem sehr großen Verlag, eines in einem relativ kleinen Verlag mit kuscheliger Anbindung an einen größeren Verlag, und eines in einem kleinen Verlag, der alles ganz alleine stemmen muss. Das Buch aus dem großen Verlag finde ich so gut wie immer. Das aus dem relativ kleinen Verlag mit guten Beziehungen finde ich angesichts des etwas abseitigen Themas überraschend häufig, auch wenn ich meistens etwas länger suchen muss. Das aus dem kleinen Verlag so gut wie nie. Es geht mir, wie gesagt, nicht um die himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass gerade mein Buch gerade nicht bei Hugendubel auf dem Tisch am Eingang liegt (da liegen ja meist eh die Mängelexemplare und scheinreduzierten Kochbücher). Es geht um das strukturelle Problem, dass dieses Buch – und andere Bücher anderer Autoren, anderer Verlage – im Handel komplett unsichtbar ist, abgesehen vom Internet-Handel. Da hilft auch nicht das ständig breitgetretene Argument, der Buchhandel könne ja jedes lieferbare Buch in Windeseile bestellen. Ich will gar nicht erst davon anfangen, dass man immer wieder auf Mitarbeiter trifft, die das offenbar nicht können. Oder davon, dass es schon etwas anderes ist, ob man ein Buch am nächsten Tag an die Wunschadresse geliefert bekommt, oder nach Feierabend noch mit dem Abholschein in die Stadt hetzen muss, bevor das Ladenschlussgesetz seine hässliche Fratze zeigt. (Ja ja – früher ging es auch ohne Internet und Lieferung frei Haus und ständige Verfügbarkeit von allem. Genauso wie es früher auch ohne Telefon/Heizung/Penicillin ging. Ansprüche ändern sich nun mal mit den Möglichkeiten, darüber gibt es kein Mokieren.) Es geht darum, dass ein Kunde nicht nach einem Buch fragen kann, von dem er gar nicht wissen kann, dass es existiert.

Man muss es so sagen: der große, böse Internet-Handel ist ein Segen für liebenswerte, kleine Verlage und deren liebenswerte, kleine Autoren. Egal, was die Verschwörungstheoretiker gerade behaupten: Algorithmen unterscheiden nicht zwischen opportun und inopportun, allenfalls zwischen gut lieferbar oder nicht so gut lieferbar. Da stehen klein und groß gleichberechtigt nebeneinander.

Ist dies also ein Plädoyer für den hemmungslosen Internet-Kaufrausch? Nein, ich plädiere dafür, dass der stationäre Handel gefälligst ordentlich arbeitet und zumindest ansatzweise die Vielfalt des deutschen Buchmarktes darstellt, verdammt noch eins. Dann klappt’s auch wieder mit uns. Ich komme demnächst zu einem unangekündigten Kontrollbesuch vorbei. Ich will, dass sich bis dahin was geändert hat. Und ich will, dass ich dann mit mindestens einem Buch (kein Kochbuch, kein Mängelexemplar) den Laden verlasse. Davon haben wir beide etwas, lieber, noch immer hochgeschätzter stationärer Buchhandel.

Du bist hier nicht in Kreuzberg, Uschi: Weltmeisterschaft im Harakiri

Jetzt ist sie wieder vorbei, die Zeit, in der die Hälfte meiner Facebook-Freunde in heller Aufregung Sportergebnisse postet, und die andere Hälfte blasierte „War was?“-Kommentare. In aller Freundschaft: Ich finde das erste unnötig, und das zweite unnötig und kindisch. So eine WM ist keine Ganz-oder-gar-nicht-Geschichte, kein Die-oder-wir, kein Proleten-gegen-Schöngeister, es besteht keine absolute Bekenntnisnotwendigkeit. Nichtsdestotrotz bekenne ich mich heute: Ich bin die Art von Fußballgucker, auf die gewohnheitsmäßige Fußballgucker herabsehen. Ich gucke nur zu Großereignissen, es muss schon WM sein, ersatzweise auch mal die der Herren, und auch dann erst, wenn es spannend wird. Und das ist auch gut so. Stolz bin ich darauf freilich nicht, denn stolz kann man nur auf etwas sein, was einen große persönliche Anstrengungen gekostet hat. Zum Beispiel: ein Fußballspiel mit den eigenen Füßen zu gewinnen, oder nach spektakulären Fluchten und langem Spießrutenlaufen die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten. Einfach nur ein gewonnenes Fußballspiel im Fernsehen gesehen zu haben oder zufällig irgendwo geboren worden zu sein wäre als Ursache für Stolz ein wenig befremdlich.

Selbstverständlich stören mich die grölenden, bemalten Dooffans, die bereits vor der Halbzeitpause zu besoffen von Heimatgefühl und sonst was sind, um noch etwas vom Spiel mitzubekommen (in diesem Zusammenhang ist es schon sehr passend, dass man unter dem deutschen Begriff public viewing im Englischen das öffentliche Aufbahren von Leichen versteht). Gottseidank gibt es davon in meinem Haushalt keine. Mehr noch als diese kaum noch lebenden Toten stören mich allerdings zunehmend die ständigen Flunschzieher, die ihre Fußball-Ablehnung ausstellen wie eine elitenbildende Zierde. Also so Typen wie mich vor 2011, dem Jahr der letzten echten WM und meiner Epiphanie. Typen, die sich tatsächlich darüber beschweren, dass alle vier Jahre nachts mal einer hupt. Dabei sind einige dieser Typen noch in dem Alter, in dem es eigentlich ihre Pflicht wäre, selbst ab und an für nächtliche Ruhestörung zu sorgen. Kommen die Menschen inzwischen schon als „Runter-von-meinem-Rasen!“-Greise auf die Welt?

Meine Frau ist Ausländerin und schwanger. Das ist in diesem Zusammenhang deshalb erwähnenswert, weil erstens Zugereiste beim Themenkomplex Deutschland ja meist fanatischer sind als Alteingesessene, und zweitens weil es ihr wichtig war, dass unsere Tochter in einem historischen Jahr geboren wird. In anderen Worten: bei Deutschland-Spielen war auf dem Sofa eine Stimmung, dass ich Angst hatte, vorzeitige Wehen könnten jederzeit einsetzen.

Die Frage nach mannschaftlicher Loyalität sehe ich entspannter als sie. Man muss nicht zwangsläufig für das Land jubeln, in dem man Steuern zahlt und Rente bezieht. Man darf aber. Es hängt ganz von der Erzählung ab, denn die ist das schöne an sportlichen Großereignissen. Es handelt sich im Grunde um Helden- und Schurken-Epen mit allem Drum und Dran, nur dass anders als in der literarischen Epik die dramatischen Höhepunkte, überraschenden Wendungen, Sympathien und Antipathien nicht festgeschrieben sind, sondern sich während des Erzählens ergeben. Deshalb fände ich es Unsinn, von vornherein für eine bestimmte Mannschaft Partei zu ergreifen. Protagonisten müssen sich erst herausschälen. Mein Lieblingssieger wäre diesmal Costa Rica gewesen. Aber als das nicht mehr ging, hatte ich keine Probleme damit, den deutschen Spielern meine Gunst zu vermachen, die waren mir auch ganz sympathisch.

Die Qualität der Erzählung ist auch der Grund, warum ich mich nicht für das Klein-klein der lokalen und regionalen Vereinsmeierei interessiere. Wenn die WM ein Epos ist, dann ist Dingsbums-Liga (keine Ahnung, was es da alles gibt und wie das heißt) eine Daily Soap. Dafür fehlen mir Ausdauer und Geduld. Außerdem finde ich Lokalpatriotismus noch bekloppter als Nationalpatriotismus. Ich habe da schlimme Erinnerungen an 2010, als ich in Tokio ein Konzert eines skandinavischen Akustik-Pop-Duos besuchte, und eine Frau im Publikum immer die ruhigen Stellen abwartete, um sinnlos in den dunklen Saal zu brüllen: „KREUZBERG!!! KREUZBERG!!!“ Ich habe das Gesicht der Dame (ich benutze den Begriff euphemistisch) nicht gesehen, doch ich bin mir sicher: Es war die hässliche Fratze des Lokalpatriotismus.

Weil mir gerade kein guter Übergang zum Rest des Textes einfällt, zeige ich in der Halbzeitpause eine Plastiknachbildung eines brasilianischen Fußballspielers unter einem originell verpackten Stück Weichkäse. Ist nicht böse gemeint.

Das zaghafte Erwachen meines Interesses am Fußball unter bestimmten Bedingungen geht leider auch einher mit einigen Enttäuschungen, vor allem im journalistischen Bereich. Das erinnert mich an die Zeit, als mein Interesse an Mode (etwas weniger zaghaft) erwachte. Man muss nur genauer hinsehen, und man erkennt selbst als Laie beim Fußball wie beim Modedesign unendlich viele Spielarten und Facetten von Spielarten. Als Freund des geschriebenen Wortes juckt es einem sofort in den Fingern, etwas darüber zu schreiben. Doch als Mensch mit Erfahrung widmet man sich erst mal der Lektüre derer, die darüber schon länger und vermeintlich berufen schreiben. Da findet sich dann die nächste Parallele zwischen Mode und Fußball: der Journalismus ist auf beiden Feldern ein Graus. Schnarchlangweilig, verliebt in Plattitüden und fasziniert von Nebensächlichkeiten, entweder zu fachidiotisch oder zu allgemeinidiotisch, buchhalterisch ergebnisorientiert. Unter ähnlichen Problemen, dem schnöden Beschreiben von Technik anstatt des Erschreibens von Bedeutung, leidet übrigens auch – immer noch, obwohl ich es schon so oft gesagt habe – der Journalismus über Computer- und Videospiele. So wird das nichts mit dem Ernstgenommenwerden.

Ach, es gibt bestimmt Ausnahmen, wunderschöne Fußballdichtung, es gibt die gelungenen Einzelfälle ja auch in der Berichterstattung über Mode und Spiele. Aber die beim Sport jetzt auch noch zu suchen ist mir zu mühselig, die Uhr tickt. Dann lese ich lieber nicht, sondern schaue nur. Da hat man dann den Kommentar des Kommentators, des undankbarsten Berufes des Landes, gleich nach Kanzlerin und Politesse, saisonabhängig auch mal davor. Wie jeder andere Zuschauer und -hörer denke ich mir manchmal (eigentlich ziemlich oft): Das krieg ich auch noch hin. Und ich habe nun wirklich keine Ahnung von Fußball. Diesmal habe ich etwas genauer hingehört und muss relativieren: Das kriege ich auch noch hin, wenn man mir ein paar Wochen Zeit gibt, mich in das Thema einzulesen und die Namen auf den Rücken auswendig zu lernen. Allerdings müsste ich dann ja genau den Journalismus lesen, den ich eben nicht lesen möchte. Es ist ein Teufelskreis, vermutlich werde ich doch kein Sportreporter mehr.

Ich möchte diesem Berufsstand gar keine allzu großen Vorwürfe machen, 90 Minuten oder länger geistreich, eloquent und kompetent zu improvisieren ist nicht leicht, da muss man vom Sofa aus nicht jeden verbalen Fehlpass auf die Goldwaage legen. Außer man hat Spaß daran. Meiner Frau und mir ist aufgefallen, dass in den Kommentaren überraschend häufig der Begriff harakiri fiel. Meine Frau sah mich bei diesem Schlüsselreiz jedes Mal fragend an, auf dass ich ihr erkläre, was damit gemeint sei. Ich weiß aber nicht, was das in der Fußballsprache bedeutet. In der japanischen Sprache bedeutet es ‚Bauch aufschneiden‘, in der deutschen Sprache wird es bisweilen synonym mit dem Begriff für rituellen Selbstmord, eigentlich seppuku, verwendet, wobei ich nicht so kleinlich sein möchte wie der gemeine Japanischgenaunehmer. Der Fußballkommentator hat immer dann von harakiri gesprochen, wenn irgendjemand eine spielerische Dummheit begangen hatte. Was genau das mit Bauchaufschneiden oder Selbstmord zu tun hat, selbst auf einer symbolischen Ebene, erschließt sich mir auch nach längerem Brüten nicht, da hinterher weder jemand tot (konkrete Bedeutung) noch das Spiel verloren (übertragene Bedeutung) war. Bei einer Situation hatte ich das Gefühl, der Kommentator meinte nicht harakiri, sondern kamikaze. Vielleicht ist einfach irgendein japanischer Begriff gut genug. Dann heißt es bald: Messi leistete sich einen echten sashimi, aber Neuer voll so mitsubishi.

Der heißt Neuer, oder? Ich glaube, ich habe während der WM immer Neuner gesagt, und höflicherweise hat mich niemand korrigiert. Ich kannte ihn vorher nicht, und jetzt eigentlich auch nicht. Ich weiß nur, dass er gut gehalten hat, und dass die japanische Presse orakelt, er sei schwul, weil er so gut aussieht. Möglicherweise orakelt das die hiesige Presse ebenfalls, ich müsste halt mal reinlesen.

Apropos Neuer: Hier ein Bild vom Alten, das ich 2004 in Tokio geschossen habe.

Making of Yoyogi Park, Episode 4: Autopsie & Gastronomie

Dies ist voraussichtlich die letzte Folge der Reihe von Hintergrundberichten zur Entstehungsgeschichte meines Romans Yoyogi Park, der seit April im sehr gut sortierten Buchhandel erhältlich ist. Vielleicht kommt noch eine Überraschungsfolge, aber das soll eine Überraschung werden. Bitte tun Sie dann überrascht.

Vielleicht haben Sie sich schon immer gefragt: Mensch, wo werden eigentlich in Tokio Leichen zwecks Autopsie aufgeschnitten? Es gibt natürlich mehrere Orte, aber einen können wir uns ansehen, wenn wir durch dieses Tor den Hongo-Campus der Universität Tokio betreten:

Immer geradeaus, und dann ist es dieses Gebäude:

Leider kommen wir da nicht rein, wir sind ja weder Mediziner noch Leichen. Nicht weit davon gibt es immerhin ein neurologisches Museum, wo man sich gratis Gehirne ansehen kann:

Appetit bekommen? Wer nicht. Das fiktive kuschelige nachbarschaftliche Nudelrestaurant Genki, in dem Yuka und ihre Freundin Sam gerne essen, basiert auf einem echten kuscheligen nachbarschaftlichen Nudelrestaurant namens Genki, diesem hier:

Ich hatte so viel Anstand, innen keine Fotos zu machen.

Ich bin der Meinung, diese moderne flimmernde Werbeanzeigetafel im Vordergrund wäre erst dieses Jahr dazugekommen, aber meine Frau meint, die wäre schon immer da gewesen. Jetzt kann es ja gesagt werden: Wohnung und Nachbarschaft von Inspector Sato basieren auf der ehemaligen Wohnung und Nachbarschaft meiner Frau, die Wohnung und Nachbarschaft des Mörders basieren auf meiner eigenen ehemaligen Wohnung und Nachbarschaft. Die Personen, die dort im Roman leben, sind allerdings nicht von den Personen inspiriert, die dort in Wirklichkeit mal gelebt haben.

Wer lieber das Hundertfache für ein Abendessen ausgibt, kann es wie Yuka Sato und Kaito Matsuyama machen und in Joël Robuchons Restaurant in Ebisu dinieren. Es ist nicht zu übersehen:

Ich hatte dort weitaus mehr Spaß als die Figuren meines Romans. So viel, dass ich hinterher nicht mehr die Kamera geradehalten konnte. In diesem Sinne: Guten Appetit & gute Nacht.

World Tour of Düsseldorf, Zusatztermin in München und weitere Dinge, die mich von anderen Dingen abhalten

Ich war bis gestern so stolz, dass ich diesen Monat so viel gebloggt habe, für meine Verhältnisse. Aber heute muss ich mit Schrecken feststellen: das war der letzte Monat! Wir haben ja schon Mai, irgendwie!

Kinder, ich habe gerade ganz, ganz wenig Zeit. Nach langer Bühnenabstinenz stehen mal wieder ein paar Lesungen an, auf die ich mich gut vorbereiten muss, außerdem ist der nächste konkrete Roman munter am Entstehen, während weniger konkrete Schreibvorhaben immer beharrlicher auf Konkretisierung drängen, und irgendwann muss man ja auch noch Vögel füttern, Geld verdienen, in Biergärten gehen, Dunstabzugshaubenaktivkohlefilter wechseln und die Ausrufezeichen in der Hulu-Queue eliminieren. Und dann war da noch irgendwas, fällt mir gerade nicht ein.

Hier ein Überblick über mein öffentliches Erscheinen im Juni und Juli:

Am 7. Juni lese ich in der ManThei sushibar in Düsseldorf-Bilk ab 18 Uhr aus Yoyogi Park. Das ist nicht von ungefähr Abendessenzeit, denn zur Lesung wird ein Vier-Gänge-Überraschungsmenü serviert. Um Voranmeldung wird gebeten, alle Informationen hier. Unter allen Vorangemeldeten werden fünf signierte Bücher verlost. Nach der Dinnerlesung ist natürlich auch noch Gelegenheit für Unterschriften und Gespräche.

Ich bleibe in Düsseldorf und lese am 8. Juni auf der Dokomi um 13 Uhr und 16 Uhr, ebenfalls aus Yoyogi Park. Es ist das erste Mal, dass ich bei einer Veranstaltung mit Waffenregeln lese, ich freue mich sehr. Während oder zwischen der Doppellesung findet eine kriminalistische Schnitzeljagd statt, bei der es ein wertvolles ‚Fan-Paket‘ zu gewinnen gibt, darin u. a. Japan-Bücher von mir und anderen und ein Ticket für die Dokomi 2015. Der genaue Ablauf ist mir auch noch ein wenig nebulös, aber das passt ja zum Genre. Wir werden es schon gemeinsam herausfinden. Weitere Details bei Bekanntwerden auf meiner neuen offiziellen Facebook-Seite (nicht zu verwechseln mit meiner hier schon erwähnten privaten Facebook-Seite). Anschließend Signierstunde mit Buchverkauf.

Für den 9. Juli wurde ich freundlicherweise zum Stammtisch der Deutsch-Japanischen Gesellschaft in Bayern e. V. eingeladen, um im Münchner Restaurant Kitcho etwas über Yoyogi Park zu erzählen. Kurzer Vortrag, anschließend lockerer Plausch, keine Lesung, Stammtisch eben. Eintritt ist frei und offen, auch für Nichtmitglieder. Voranmeldung nicht notwendig, aber wünschenswert.

Und irgendwann setze ich hier die Reihe Making of Yoyogi Park fort. Es eilt ja nicht, Papier ist geduldig.

Making of Yoyogi Park, Episode 3: Shinjuku

Shinjuku, Wimmelzentrum im westlichen Tokio und Heimat des geschäftigsten Bahnhofs der Welt, stellt zwei Schauplätze in meinem Kriminalroman Yoyogi Park.

Westlich von Shinjuku Station gibt es zunächst die bahnhofsgegendübliche Mischung aus Kauf-, Ess- und Trinkgeschäften (siehe oben), nach etwas längerem Fußmarsch findet man unter anderem das Stadtregierungsviertel und den Tokyo Opera City Tower mit Theater, ein paar Cafés und etlichen Büros. Dort habe ich die Studios und Büros des fiktiven Fernsehsenders hineinfantasiert, bei dem der fiktive Fernsehproduzent Kaito Matsuyama arbeitet. Als ich selbst dort war, wusste ich das leider noch nicht, deshalb habe ich nur ein einziges Foto dort geschossen beziehungsweise schießen lassen, das zu diesem Buch in keinerlei Beziehung steht:

Es wurde aufgenommen in einem Café in einem der oberen Stockwerke. Von dort hat man mit der richtigen Brille eine Aussicht über Shinjuku (und einiges mehr), die dieser sehr ähnlich ist:

So in etwa dürfte Kaito das aus seinem Büro sehen (die Brille ist jedoch nicht seine). Möglicherweise hat er von dort sogar Blick auf den Yoyogi Park, sehr verdächtig:

Östlich des Bahnhofs ist das Vergnügungsviertel Kabukicho, östlich von dem wiederum das Kneipenviertel Golden Gai. Das lässt sich verschiedentlich übersetzen, ich habe mich im Roman für die Variante ‚Goldene Straße‘ entschieden, aus poetischen Gründen. Dabei handelt es sich eigentlich nicht um eine, sondern um mehrere enge und kurze Straßen, in denen eine Mini-Kneipe an der anderen steht:

Keine von denen heißt ShiroX. Außer der in meinem Roman, die ich erfunden habe, und in der sich gewisse Ereignisse dramatisch zuspitzen.

Wegen ihrer geringen Größe sind die Kneipen in der Goldenen Straße vor allem Orte für Stammkunden. Einige lassen gegen Aufpreis aber auch Fremde, manchmal sogar Ausländer, rein, wenn gerade Platz ist. Ich verbrachte einmal einen recht vergnüglichen Abend im Cremaster, benannt nach Matthew Barneys gleichnamigen Kunstfilmzyklus. Die Bedienung des Abends briet mir fette Fleischbrocken als Zugabe zum Bier, und ich brachte es nicht übers Herz ihr zu sagen, dass ich zu jenem Zeitpunkt fast sowas wie ein richtiger Vegetarier war. Es schmeckte sehr gut. Im Gegenzug rückte ich ihr Deutschlandbild ein wenig zurecht. Sie wusste nämlich vorher nur zwei Dinge darüber: dass es dort jeden Tag schneit, und dass die Landessprache Englisch ist (stimmt ja auch bald). Wir wollen die Mücke nicht elefantisieren, in Deutschland herrschen sicherlich kuriosere Ansichten über Japan.

Selbstverständlich ist die Goldene Straße ein Ort großer philosophischer Erkenntnisse:

Auf dieser lebensbejahenden Note wollen wir heute enden und sehen uns nächstes Mal an, wo die Polizei ihre Leichen aufschneiden lässt.

Mont-Blanc Monogatari

Ich erinnere mich genau: Es war ein Morgen Anfang 2012, als ich meinen ersten Mont-Blanc hatte. Nur wusste ich da noch nicht, dass es ein Mont-Blanc war. Es hatte überraschend Schnee gegeben in Tokio, meine Lebensgefährtin war Geldverdienen gegangen, ich erholte mich von meinem ersten Marathon und überlegte, wo ich frühstücken sollte. Ich muss in diesen Fällen nie lange überlegen, ich gehe immer zu Doutour, aus nostalgischer Verbundenheit, weil ich mich früher in Japan nichts anderes getraut habe als die Filialen dieser schlichten Café-Kette. Ich warf einen letzten Blick auf die verschneiten Gipfel von Sengoku und machte mich auf den Weg.

Bis ich unten war, hatte sich die Lage dramatisch zugespitzt und ich hatte mir nach anstrengendem Marsch durch weiße Pracht das redlich verdient:

(Dieses Bild hatte ich übrigens einmal bei einem Fotowettbewerb zum Thema Japan eingereicht, und ich bin noch immer ein wenig verstimmt, dass ich nichts gewonnen habe.)

Es gibt bei Doutour nicht unbedingt den besten Kaffee des Landes. Allerdings wird Kaffee im Allgemeinen nirgends auf der Welt ernster genommen als in Japan, deshalb ist auch der mittelmäßigste Vertreter im internationalen Vergleich immer noch ziemlich spitze. Nach einer Tasse wie dieser (nicht genau diese) und einem belegten Brot [Abb. fehlt] wollte ich mir noch eine Süßigkeit gönnen, deutete auf eine gut aussehende Kreation hinterm Tresen, sagte „das da bitte“ und genoss es sehr. Leider war ich noch nicht japanisiert genug, um von jeder Kleinigkeit, die ich zu mir nehme, ein Foto zu machen, deshalb kann mein Original-Mont-Blanc an dieser Stelle nicht gezeigt werden. Später konnte ich in einem Buchladen-Café in Jimbocho dieses Exemplar vor die Linse bekommen:

Am Abend meines ersten Mont-Blanc-Verzehrs ergab sich folgender Dialog:

Lebensgefährtin: „Wo hast du gefrühstückt?“

Ich: „Doutour.“

„Seufz.“

„Ich hatte auch noch einen Kuchen, der ganz gut war.“

„Welchen denn?“

„Du weißt doch, dass ich mir nichts aus Kuchenbezeichnungen mache. So einen kegelförmigen, mit einer gewissen Spaghetti-Textur.“

„Mont-Blanc?“

„Was?“

„Mont-Blanc?“

„Nie gehört.“

„Mont-Blanc!“ Sie machte das internationale Handzeichen für Berg.

„Mont-Blanc – hab ich schon verstanden. Ich weiß den Namen halt nicht.“

„Du willst mir doch nicht sagen, dass du noch nie was von Mont-Blanc gehört hast?!“

„Vom Berg schon, aber nicht vom Kuchen.“

„Aber der kommt aus Deutschland!“

„Das glaube ich nicht …“

„Ich bin mir ziemlich sicher!“

„Vielleicht ist das so wie mit dem Baumkuchen, der den Deutschen auch egal ist, und der nur für die japanischen Touristen noch gebacken wird …“

„Aber den kennst du zumindest namentlich!“

Die Diskussion drehte sich dann noch eine ganze Weile darum, wie unglaublich es war, dass ich diesen deutschen Gebirgskuchen nicht kannte. Ich hatte leider einen schweren Stand, da wir eine frappierend ähnliche Diskussion schon einmal zum Schreibgerätehersteller Montblanc hatten. Ich kannte die Marke zwar, habe aber verbissen abgestritten, dass es sich um eine deutsche handelte. Ich hatte unrecht, und sowas verjährt nie.

Ziemlich genau zwei Jahre später

Inzwischen habe ich einige Mont-Blancs mehr gegessen (der bei Doutour war nicht gerade der beste, doch ich bestelle ihn dort weiterhin gerne, aus nostalgischen Gründen), bin einen weiteren Marathon gelaufen, habe meine Lebensgefährtin zu einer ehrenhaften Frau gemacht und bin nach Tokio zurückgekehrt, um meine Schwiegerfamilie zu bespaßen und ein paar Morde zu planen (zwischen diesen Dingen besteht kein Zusammenhang). Meine Frau war schon vorgereist und empfängt mich mit einem Ironiewillkommensgeschenk, einem englischsprachigen Gratis-Magazin für Touristen. Ich schlage willkürlich eine Seite auf, und da sehe ich ihn: den Mont-Blanc. Auf einer appetitlichen Doppelseite, die überschrieben ist mit: Tastes of Tokyo!

In stummer Anklage und feistem Triumph halte ich den Artikel meiner Frau unter die Nase, dort steht es weiß auf rosa: es handelt sich um ein Gebäck aus Esskastanienpüree und Schlagsahne, erfunden in der gleichnamigen Konditorei in Jiyugaoka, einer angesagten Gegend im Viertel Meguro.

Meine Frau schaut kurz auf, sagt: „Oh, dann habe ich mich wohl geirrt“, und damit ist das Thema für sie beendet.

Da wir nun um die Herkunft des Gebäcks wissen, ist eine Expedition zum Ground Zero des Mont-Blanc in Jiyugaoka ein Leichtes.

Dort wird das Mont-Blanc-Konzept inzwischen so kreativ erweitert, dass das ursprüngliche Design, das tatsächlich an den schneebedeckten Berg erinnern sollte, kaum noch zu erkennen ist.

Im der Konditorei angeschlossenen Café gibt es eine Warteliste, viele Frauen und kaum Männer. Nachdem unser Name aufgerufen wurde, bekommen wir Kaffee und Kuchen.

Ist das der beste Mont-Blanc, den ich je gegessen habe? Ich mag mich nicht recht entscheiden. Der in Jimbocho war auch ganz gut. Und der bei Doutour hat den süßen Geschmack von 2012. Eigentlich macht man mit Mont-Blanc nie etwas verkehrt.

Im Original-Mont-Blanc-Café tragen übrigens die Stühle kleine Söckchen:

Und mit diesem Bild möchte ich schließen.

Making of Yoyogi Park, Episode 2: Tokyo Metropolitan Police Department (Keishicho)

Inspector Yuka Sato, Hauptfigur meines Kriminalromanes Yoyogi Park, arbeitet nicht irgendwo, sondern in der Hauptzentrale des Tokyo Metropolitan Police Department im Stadtteil Kasumigaseki, weil für die Unterhaltungsliteratur die größte Nummer gerade groß genug ist. Sie hat also ihren Schreibtisch in diesem Gebäude:

Yuka kommt zwar mit der U-Bahn zur Arbeit, allerdings nicht über die günstig gelegene Sakuradamon-Haltestelle im Bild, sondern von der Station Kasumigaseki (nicht im Bild), sie betritt das Gebäude also von hinten, hätte beim Weg zur Arbeit diesen Anblick:

Das Gebäude hat viele Eingänge, ohne Dienstausweis lässt sich keiner davon betreten. Sonst kommt ein Wächter mit langem Stock:

Ich hatte anfangs die Theorie vertreten, der Stock sei als Rasthilfe gedacht, wo die Wachtposten doch die meiste Zeit stehen müssen und ich Japan alltags immer als sehr friedfertig und gewaltlos erlebt habe. Doch ist das Requisit in der Tat zur Abschreckung und darüber Hinausgehendes gedacht. Wäre Japan gar so friedlich, müsste man ja auch keine Kriminalromane dort ansiedeln. Oder Polizisten einstellen. Schnell weiter, er guckt schon so komisch.

In der Nähe der Polizeizentrale liegt der Kaiserpalast, dessen Grundstück Yuka von ihrem Bürofenster aus sehen kann, und um den sie bisweilen ein paar Runden im Dauerlauf dreht (war allerdings schon mal mehr). Dort hat sie u. a. diesen Anblick:

Selbstverständlich kann man statt der U-Bahn auch das Polizeiauto zur Arbeit nehmen (wenn man eines hat), ein Modell sieht so aus:

Im Hintergrund das Justizministerium, praktischerweise genau gegenüber der Polizeizentrale.

Zu meiner Enttäuschung ist auf den Polizeiwagen nicht das Polizeimaskottchen Pipo-kun (von ‚People‘ und ‚Police‘) abgebildet. Gleichwohl konnte ich ihn auf einem Polizistenreisebus ausmachen:

Niemand weiß genau, welcher Spezies Pipo-kun angehört. Er ist aber nicht allein:

Über der Pipo-Familie die Anregung, im Straßenverkehr Rücksicht walten zu lassen. Das Bild ist in diesem Zusammenhang ein bisschen geschummelt, denn es wurde in Roppongi aufgenommen. Seien Sie unbesorgt, dieses furchtbare, freudlose Viertel der vergossenen Tränen und verschütteten Cocktails kommt im Roman nicht vor. Dafür umso mehr im nächsten, deshalb war ich dort im Februar auf Recherchespaziergang. Dabei knipste ich außerdem ein Polizeihäuschen, ein koban, die kleinste Einheit unter den Polizeirevieren:

Dieses scheint mir direkt geräumig. Andererseits gibt es wohl in Roppongi einiges zu tun.

Falls Sie jetzt sagen: „Och bitte, noch ein Foto von unattraktiven Polizeigebäuden – die sehe ich so gerne!“ Dann sage ich: „Na gut, aber nur noch eines!“ Der Stadtteil Harajuku ist einer der hauptsächlichen Handlungsorte des Romans. Er hat sein eigenes Polizeirevier, dieses:

(Nicht weit vom berühmten Birkenstock-Laden, falls Sie es mal besuchen möchten.) Dieses Revier spielt im Roman nur eine indirekte Rolle. Warum es nur eine indirekte Rolle spielt, spielt derweil eine direkte Rolle.

Und das nächste Mal geht nach Shinjuku und in die Goldene Straße.

Wer Bilder gerne größer sieht, kann Making of Yoyogi Park mit Zeitverzögerung auch hier lesen.

Making of Yoyogi Park, Episode 1: Yoyogi Park und Harajuku

Sollte ich es noch nicht erwähnt haben: Mein Kriminalroman Yoyogi Park erscheint im April im Conbook Verlag, und an dieser Stelle möchte ich episodenartig Fotobeweise und andere sachdienliche Hinweise zu den realen Spielorten und fiktiven Begebenheiten im Buch präsentieren. Fangen wir am Anfang an: Im Yoyogi Park. Wer dort hin möchte, kommt wahrscheinlich erst mal am Bahnhof Harajuku an, welcher folgendermaßen aussieht:

Ja, es kann voll werden. Voller zum Beispiel als am Bahnhof Bremen-Schönebeck, obwohl die Größe vergleichbar ist. Links vom Betrachter aus geht es zum Park, rechts in die Takeshita Dori, die beliebte Einkaufsstraße für den etwas ausgefalleneren Modegeschmack:

In einer Seitenstraße der Takeshita Dori findet man die Boutique L’Eclair Noblesse (für die Hauptstraße ist sie sich zu fein). Stimmt gar nicht, die habe ich mir ausgedacht. Aber wenn es sie geben würde, würden diese Damen dort bestimmt einkaufen:

Jetzt sind sie bereits fertig mit Einkaufen, deshalb treiben sie sich auf der Eisenbahnbrücke zum Yoyogi Park herum. Nicht weit davon spielen am Rande des Parks gerne Bands auf:

Auf diesem Platz mit den praktischen, zielscheibenartig konzentrischen Kreisen wollte ich ursprünglich im Finale des Romans einen Helikopter landen lassen:

Der Platz war allerdings doch zu weit vom Geschehen entfernt, und die Zeit war knapp. Deshalb habe ich mich für eine semifiktive Lichtung anderswo entschieden (nicht im Bild). Der Platz ist trotzdem relevant, denn mitunter tanzen dort enthusiastische Rockabillys (leider ebenfalls nicht im Bild), die einen Gastauftritt im Roman haben.

In den Park selbst kommt man durch imposante Holztore:

Hauptattraktion des Parks ist der Meiji-jingu, Tokios größter Shinto-Schrein. Mörder und Polizisten haben keine Zeit zum Sightseeing, trotzdem kommen auch sie am Schrein nicht vorbei (bzw. eben doch).

Sehe gerade, dass sich eine Freundin von mir im Bild versteckt hat (wenngleich nicht besonders gut). Im Roman kommt sie nicht vor.

Bei der finalen Verfolgungsjagd kommen Verfolgter und Verfolgerin an diesen Sake-Fässern vorbei, aber sie haben kein Auge dafür (deshalb habe ich auch vergessen, sie zu erwähnen):

Malerisch? Ein bisschen weiter vorne rechts könnte eine Leiche liegen:

Bemerken Sie den Fehler?

Dieses Teehaus steht gar nicht im Yoyogi Park, sondern im Ueno Park. Es hat mich allerdings zu dem fiktiven Yoyogi-Teehaus meines Romanes inspiriert.

Und in der nächsten Folge kommen Sie mit zur Polizei!

Deutsch-japanischer Dialog bei Edeka

Sie: „Ich möchte Haferflocken kaufen.“

Er: „Womit willst du die den Essen? Mit Milch?“

„Nein.“

„Mit Wasser?“

„Nein!“

„Womit denn dann?“

„Mit Sojasauce!“

Später:

Auf dem Bild kommt die Sojasauce leider nicht recht zur Geltung, dafür das Algen-Topping umso besser.