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Gebrauchsanweisung für den Tokyo Marathon
Zu nachtschlafender Zeit steht man auf, isst eine Banane und eine Brötchensüßigkeit, die aus dem Goody Bag des International Friendship Run übrig geblieben ist, begibt sich zum Austragungsort und macht sich Sorgen.
Was uns von Tieren unterscheidet, ist eklig
Seit es Mensch und Tier gibt, stellt sich der Mensch die Frage: Was ist der Unterschied? Meine Antwort wäre, dass der Unterschied darin besteht, dass Tiere sich diese Frage nicht stellen. Aber das ist unwissenschaftlich. Wer weiß schon, welche Fragen einen Nacktmull den lieben langen Tag lang beschäftigen (oder sind die nachtaktiv?).
Tiere haben keine Seele, sagen die einen. Tiere haben keinen Humor, sagen die anderen. Das eine ist keine Basis für eine vernünftige Diskussion, das andere wurde inzwischen widerlegt (durch Forschung, nicht durch Ronny’s Popshow). Die früheren Annahmen, Tiere würden keine Werkzeuge benutzen, könnten nicht treu und nicht homosexuell sein, gelten ebenfalls als überholt. Ein Mensch sagte mir einmal, der Unterschied zwischen uns und Tieren sei eine gute Handschrift. Ich weiß aber nicht, wie das gemeint ist. Meine Handschrift ist nicht wesentlich besser als die meines Wellensittichs selig. Aber ich bin ein menschliches Wesen! Einen nachvollziehbaren neuen Ansatz vertritt Dr. Rachel Herz in ihrem neuen Buch That’s Disgusting: Der Unterschied zwischen Mensch und Tier sei der Ekel. Tiere finden nichts eklig. Der Ekel im Menschen hingegen sei angeboren, nicht etwa, wie man meinen könnte, ein gelerntes Zivilisationswehwehchen. Wovor man sich genau ekelt, mag erziehungsabhängig sein, aber gewisse Ekelauslöser, insbesondere bezüglich Verwesung und Fäulnis, seien laut Herz kulturübergreifend zu finden, auch wenn auf Sardinien Käse erst als köstlich gilt, wenn er von Maden verspeist, verdaut und wieder ausgeschieden wurde, und Japaner verschimmelte Sojabohnen futtern wie andere Menschen Popcorn (ich finde beides eklig). Das Buch gefällt mir so gut, dass ich schon jetzt davon schwärme, obwohl ich es noch gar nicht gelesen habe, sondern nur eine ausführliche Besprechung in der, öhöm, New York Times Book Review.Es ist offiziell: Fips Asmussen übernimmt „Wetten dass ..?“
Huch, war doch nur ein Traum. Ein Traum, der im harschen Licht der Leselampe zerplatzt wie eine Seifenlase an einem Amboss, auf dem ein Dunkelgnom eine Schattenklinge schmiedet, in einem scheußlichen Fantasy-Roman voller misslungener Metaphern.
Ich habe Wetten dass ..? nicht mehr gesehen, seit Frank Elstner das nicht mehr macht. Dass das so ein junger Luftikus mit langen Haaren übernommen hat, kann ich bis heute nicht gutheißen. Wenn es mit dem deutschen Fernsehen so weitergeht, dann haben wir bald amerikanische Verhältnisse, wo jeder zehn oder sogar zwölf Sender empfangen kann und die Kinder Coca-Cola trinken dürfen.
Gestern aber wollte ich mal nicht so sein, es ist schließlich Weihnachten, und mal wieder in die beliebte Samstagabendshow hineinschauen. Leider bin ich nach fünf Minuten erneut eingenickt und dabei wohl an der Fernbedienung aufgeschlagen, aber jetzt weiß ich, wie es wirklich ist: Pierce Brosnan übernimmt Wetten dass ..?! Und Thomas Gottschalk wird der neue Bond, in Doppelmoderation mit Mike Krüger, der auch den Song zum neuen Agenten-Abenteuer GoldNasen einsingen und sich dabei auf der Gitarre begleiten wird. Ansonsten gibt es zu gucken und zu lesen: Black Butler 1 Tom Rob Smith: Agent 6Der fabelhafte Placebo-Zauberstab für Business-Punks ohne Finger (und andere Männer-Themen, die die Wucht sind)
Als ich jüngst eine asiatische Metropole nach der anderen mit meiner Anwesenheit langweilte, kaufte ich mir zwischendrin auf einem Flughafen ein Herrenpflegeset, weil der Herr sich ein wenig ungepflegt fühlte. Darin war auch ein erstaunliches Produkt, das nicht der hauptsächliche Kaufgrund war, aber ob erwachender Neugier die Entscheidung positiv beeinflusste: Der L’Oreal men expert Hydra Energetic Eye Roll-On zum Wegmachen von Augenringen. Quasi der Tintenkiller des Business Punks.
Ich bin durchaus für hochspezialisierte Pflegeprodukte. Ab einem gewissen Alter wird auch aus dem spöttischsten Verweigerer ein Metrosexueller, der die Uhr ticken und die Haut bröckeln hört. Aber bei diesem Augenringewegmacher habe ich mir selbst im Spätsommer meines Lebens gedacht: So ein Blödsinn. Sind Augenringe wirklich eine Geißel der Menschheit, oder zumindest der Männlichkeit? Galten sie nicht einmal sogar als Insignien von sehr kurz zurückliegendem Draufgängertum und allgemeiner Teufelskerligkeit? Trug man sie nicht wie Medaillen im Gesicht? Sollte es nicht eher einen Augenringeaufmalstift geben für Streber, die jeden Abend früh zu Bett gehen und dann in der Schule gehänselt werden, von den coolen Augenringe-Kids?
Nein, das wäre ja albern. Ich habe also diesen Augenringewegmachstift ausprobiert, und ich muss sagen: Respekt. Man fühlt sich für eine knappe Sekunde untenrum erfrischt. Denselben Effekt hat man, wenn man den kleinen Finger mit kaltem Wasser benetzt und sich das Zeug unter die Augen reibt. Die kosmetische Wirkung dürfte ebenfalls dieselbe sein: Wenn man ein wenig mit der Lichtdramaturgie spielt, nicht genau hinsieht und fest daran glaubt, könnte man meinen, dass die Augenringe einen Tick zurückgegangen sind. Verlässlicher gegen Augenringe ist aber die klassische Methode:(Mit im Bild: Der Strand bei Shimoda, Nebensaison.)
Wo wir gerade bei Männer-Themen sind – dieses Magazin ist für mich freilich Pflichtlektüre seit ein paar Jahren:Lachen Sie nicht. Obwohl: Mit 37 habe ich auch noch gelacht, da habe ich damit nichts anfangen können. Es ist nämlich für Männer ab 37 1/2:
Japaner nehmen es eben gerne genau, eine ihrer liebenswertesten Eigenschaften. Wie beim Bahnwagon, der in diesem Abschnitt hält: Um 7:30 für Männer okay, um 7:31 kein Problem, aber ab 7:32 nur für Damen.
Diese exakte Angabe ist natürlich einzig und allein darin begründet, dass Fahrplanabfahrtzeiten in Japan verlässliche Angaben und nicht bloß Fantasy-Lektüre sind.
Unlängst machte die Deutsche Bahn stolz ihre Verspätungsstatistik bekannt und gluckste, dass man jetzt schwarz auf weiß habe, dass fast immer fast alle Züge fast pünktlich seien. Um das ansatzweise nachvollziehen zu können, muss man das Kleingedruckte lesen: In Deutschland gilt eine Verspätung von sechs Minuten noch nicht als Verspätung, sondern als auf den Punkt pünktlich. Teilnehmer an Vorstellungsgesprächen auf beiden Seiten des Tisches mögen das anders sehen. Aber ich will mich nicht wieder aufregen. Das ist nicht gut für meine Haut.Katastrophenbericht mit Bildverweigerung
Gestern war ich in der malerischen Schanghaier Altstadt, in der es noch sehr gut erhaltene Häagen-Dazs- und Pizza-Hut-Filialen aus der Ming-Dynastie gibt, und wollte ganz schnell wieder weg. Am besten so, wie ich gekommen war, nur umgekehrt, mit der U-Bahn-Linie 10 ab Yuyuan. Ich fand es etwas ärgerlich, dass genau in diesem Moment die Fahrkartenautomaten an meinem Eingang kollektiv abgeschaltet wurden. Noch ärgerlicher: Dasselbe Bild am anderen Eingang. Die menschenbesetzten Schalter machten auch zu. Am Zugang zu den Gleisen gab es erregte Diskussionen zwischen Bahnhofspersonal und potentiellen Fahrgästen. Dann verließen die Fahrgäste ungefahren den Bahnhof, und der Zugang zu den Gleisen wurde ganz abgesperrt. Er wurde aber wieder aufgesperrt für die Feuerwehrleute, die jetzt im Laufschritt den Bahnhof stürmten.
Für mehr als „ni hao“ hat es bei mir nie gereicht, also hatte ich keine Chance zu erfahren, was da los war. Nichts schlimmes, hoffte ich, vielleicht nur eine kurze Irritation, ein schnell gelöschter Brand. Beim Bahnhofspersonal war jedenfalls keine Panik auszumachen. Dass das Warten müßig wäre, konnte ich mir denken. So begab ich mich wieder an die Oberfläche auf der Suche nach Wegweisern, die mich zu Fuß meinem Ziel näher bringen mochten. Ich fand welche, aber ich bin in so was nicht gut und lief exakt im Kreis, kam wieder an der Metrostation Yuyuan an. Inzwischen waren die Eingänge komplett für Zivilisten gesperrt. Da war nicht nur Feuerwehr, sondern auch Polizei, Ambulanz und Fernsehen. Und nahezu die gesamte Bevölkerung Schanghais mit Foto-Handys im Anschlag. Einen verrückten Moment lang dachte ich wirklich, dass da vielleicht gleich ein Prominenter rauskommt, so sorglos wie die Menschen gafften, knipsten und filmten. Aber die Präsenz von Feuerwehr und Ambulanz und das näherkommende Sirenengeheul, das weitere Einsatzkräfte vermuten ließ, sprachen dagegen. Eine Zivilistin kam schnellen Schrittes aus dem Bahnhof, sie sah unverletzt aber aufgewühlt aus. Ein Reporter knallte ihr das Mikro vor das Gesicht, sie knallte es weg und ging ihres Weges. Gute Frau. Ich möchte nicht verhehlen, dass es mir selbst im Kamerafinger juckte, dies könnte schließlich ein historisches Ereignis sein. Die Assoziationen von katastrophalem Unfall bis Terroranschlag wollte ich gar nicht haben, aber ich hatte sie doch, und die Prominenten-Theorie verlor mehr und mehr an Boden. Ich mag aber keiner dieser widerlichen Snuff-Pornografen sein, die bei Elend in Verzug immer schön mit dem Handy draufhalten und es hinterher im Internet als ‚Aufklärung‘ verherrlichen. Im Zweifelsfalle soll mir das Wissen reichen, dass ich dabei gewesen bin, am Rande zumindest, in sicherer Entfernung. Aber auch darauf würde ich am liebsten verzichten. Ich lief nun nach dem Zufallsprinzip in eine Richtung, in der ich irgendwann eine weitere Haltestelle vermutete. Mir entgegen kamen weitere Fahrzeuge mit Sirenen und rennende Privatmenschen, die anscheinend schnell bessere Kameraausrüstung geholt hatten. Die nächste Haltestelle, an die ich kam, war Laoximen. Da Laoximen ebenfalls von der Linie 10 befahren wird, war hier dasselbe Bild: Ein gesperrter Bahnhof und ein Menschentraubenstrauch, zusammengesetzt aus Polizeitraube, Feuerwehrtraube, Sanitätertraube, Reportertraube und mehreren Trauben Schaulustiger. Mithilfe einer Straßenkarte machte ich die nächste Station ausfindig, die von einer anderen Linie bedient wird. Als ich die fand, gab es eine gute und eine schlechte Nachricht. Die schlechte: Es war nicht die Station, die ich finden zu müssen meinte, an meinem Verhältnis zur Kartografie hatte sich also nichts geändert. Die gute: Es war die Station in der Nähe meines Hotels. Ich war zu Fuß „nach Hause“ gelaufen. Im Fernsehen wurde über das Ereignis berichtet, aber meine Sprachkenntnisse hatten sich auf dem langen Marsch nicht gebessert. Es waren Fahrgäste zu sehen, die Feuerwehrleuten durch einen U-Bahn-Tunnel folgten. Ein junger Mann lag auf der Sitzbank eines stehenden Zuges und hatte offenbar Schmerzen, aber keine sichtbaren Verletzungen. Das Geschehen war eine große Nachricht, aber die Fernsehkommentatoren diskutierten sehr gefasst darüber. Im Internet wusste es von allen sprachlich infrage kommenden Medien ausgerechnet die Bildzeitung als erste: U-Bahn-Kollision mit 40 Verletzten, keiner davon schwer. Die Bildzeitung klagte an, dass im chinesischen Internet schon blutige Bilder kursierten. Da war wohl jemand beleidigt, weil er keine abbekommen hatte. Ich erlaubte mir ein vorsichtiges Aufatmen. Das war zwar schlimm, und ich hoffte, dass es den 40 bald wieder gut ginge, aber meine ursprünglichen Befürchtungen waren in deutlich schlimmere Richtungen gegangen. Heute Morgen hat sich die Zahl der Verletzten auf über 200 erhöht, nicht alle ganz so leicht wie zuerst gedacht, aber offenbar dennoch keiner bedenklich schwer. Nach einem Signalausfall war ein langsam fahrender Zug auf einen stehenden Zug aufgefahren. Die Bildzeitung ist das einzige Medium, das den Unfall zur „Katastrophe“ und „Horror in der U-Bahn“ hochposaunt. An dieser Stelle keine Blutbilder aus dem chinesischen Internet, aber ein gut gemeinter Rat:Statt R.E.M.-Nachruf: Kein R.E.M.-Nachruf, sondern ein Fahndungsaufruf
Der Flug FRA-PVG ist eine gute Gelegenheit, sich mal wieder alle R.E.M.-Platten auf dem portablen Plattenspieler anzuhören.
So sollte mein versöhnlicher R.E.M.-Nachruf beginnen, den ich schon vorvorgestern hochdroben inmitten von Turbulenzen in meinem Notizblock krakelig vorskizziert hatte. Aber ich bin jetzt doch zu aufgewühlt dafür. Nicht, weil die Band, die zuletzt besser war als zuvorletzt und immer besser als ihr Ruf in der blasierten, gehörlosen Schweinepresse, sich aufgelöst hat, sondern weil mein iPod schanghait wurde! Ich benutze diesen schönen Ausdruck aus meiner Seefahrerzeit nur, weil er örtlich gerade so gut passt, wahrscheinlich walteten aber keine kriminellen Kräfte. Entweder im Flugzeug oder im Flughafentaxi liegen gelassen. Ich ringe keineswegs so sehr mit der Fassung, wie es richtige Materialisten in meiner Lage wohl täten, denn ich erinnere mich noch daran, dass Besitz dich besitzt. Aber ein klitzekleines bisschen ringe ich doch. Der iPod darf nicht in falsche Hände geraten. Keiner soll wissen, dass ich heimlich Spice Girls und Kasabian höre. Und woher die Mitschnitte von Maid Deka und Deka Wanko kommen, kann ich zwar erklären, aber nicht gut. Sollte Sie jemand auf der Nanjing Road (Abb.) ansprechen auf ein unverbindliches Interesse an „watch-dvd-iphone-massage“, sagen Sie bitte sofort verbindlich: „Aber ja! Her mit dem Zeug! Ich zahle jeden Preis!“ (mein Wertvoller Reisetipp des Tages) Fragen Sie gegen, ob dieser Fachhändler auch einen iPod Classic in geschmackvoller japanischer Gothic-Verkleidung mit schwarz-rotem Rosenmuster und farblich passenden Sony-Kopfhörern im Programm hat, dessen Abspiellisten von „… But Alive“ bis „Irgendwas mit Schriftzeichen“ gehen. Das ist meiner! Unscharfe Fotos finden Sie hier und hier. Ich bin bereit einen geringen, von Herzen kommenden Finderlohn zu zahlen. Oder eine DVD oder Massage.Was mich mehr bewegt als die Frage nach dem Verbleib des Plasteklumpens: Wenn R.E.M. sich getrennt haben, heißt das dann, dass U2 gewonnen haben?! Das darf doch nicht wahr sein!!!
Jubiläum: Der 100. Eintrag! (Wiederholung)
Wider besseren Instinkt las ich die Woche ein Interview mit dem hauptberuflichen Schallplattenindustrieerklärer Tim Brenner, in dem Ohrenschlackernmachendes zu erfahren war. Zum Beispiel, dass die Schallplattenindustrie die digitale Revolution verschlafen habe, und dass das Album als Format überholt wäre, denn es sei überhaupt nur aus technischen Notwendigkeiten heraus entstanden (mehr als eine Dreiviertelstunde ging halt nicht drauf) und keineswegs aus künstlerischer Erwägung. Also weg damit.
Wäre ich eine gezeichnete Ente, würde ich sagen: Seufz. Ich müsste vielleicht weniger oder könnte leiser seufzen, würde diese Unwahrheit nicht seit Jahr und Tag landaus, landein von jedem Plappermaul als Wahrheit verkauft werden. Ich habe zwar das Album als solches hier schon einmal als die relevanteste und schönste aller musikalischen Darreichungsformen gepriesen, aber ich tue es gerne noch einmal, weil erstens das Netz das vergesslichste aller Medien ist, zweitens andere ja auch ständig dasselbe sagen (j’accuse, Tim Brenneur!), und drittens mir unlängst erst wieder bewusst geworden ist, wie recht ich habe. Es sollte bekannt sein, dass die Gründe, aus denen etwas entsteht, und die Gründe, aus denen es fortbesteht, nicht dieselben sein müssen. Das Album mag seine klassische Länge schnöden Kapazitätsproblemen verdanken. Dass es sich aber über Jahrzehnte bewährt hat, liegt daran, dass diese Länge durch einen glücklichen Zufall genau die richtige war und ist. Mit einem Album hat man was in der Hand, und das nicht nur im buchstäblichen Sinne, sondern vor allem im übertragenen. Mit einem Download-Album hat man musikalisch ebenso viel in der Hand wie mit einer Polyvinylchloridplatte. Klein-klein aus dem Analog/Digital-Grabenkrieg soll an dieser Stelle keine Rolle spielen, Musik ist Musik. Rund 10 Songs, mit denen man sich beschäftigen kann und muss. Das tut man auch, und zwar intensiv und gerne, denn 10+X neue Songs eines geschätzten Künstlers auf einmal zu bekommen ist ein Ereignis, für das man mal kurz mit Twittern aufhört. Anders verhält es sich mit einzeln veröffentlichten Songs. Da hört man mal rein und macht nach der Hälfte aus, wenn es nicht auf Anhieb als Meisterwerk erkennbar ist (was machen noch mal die Smashing Pumpkins heute?). Ähnlich bei Darreichungsformen des anderen Extrems. Wer hört sich schon CD-Boxen so intensiv an, wie sie es möglicherweise verdient hätten? Ich habe einen recht genauen Eindruck des ersten Drittels des letzten Dreier-Albums von Joanna Newsom, aber danach verschwimmt alles, und man weiß nicht, ob es Newsoms oder Neuenkirchens Schuld ist. Ich habe außerdem den vagen Verdacht, dass besagtes ein stärkeres Werk hätte werden können, hätte man mit Mut zum Mülleimer aus den hammermäßigsten Krachern der drei Mini-Alben ein einziges Album von moderater Länge gemacht. Aber das ist nur geraten, für eine fundierte Meinung müsste ich erst mal dazu kommen, mir die zweite und dritte Scheibe genauso aufmerksam anzuhören wie die erste.Wenn nun einer behauptet, wie das die Woche einer in einem Interview getan hat, das Album sei „keine Kunstform“, dann hat der unrecht. Selbstverständlich ist ein anständiges Album hohe Kunst in Inhalt und Form, denn es handelt sich nicht nur um eine Zweckgemeinschaft einzelner Songs, sondern um ein Gesamtwerk, dessen Summe blabla Einzelteile blabla, Sie wissen schon. Das gilt, Gott bewahre, keineswegs nur für ausgesprochene Konzeptalben. Wobei es auch mal an der Zeit wäre, die ständig unreflektiert nachgeplapperte Pauschalkritik an diesem Genre zu überprüfen, und es nicht immer nur an seinen schlimmsten Beispielen zu messen. Im Grunde ist jedes auf dem üblichen Wege entstandene Studioalbum ein Konzeptalbum, denn Auswahl und Reihenfolge der Songs folgt einem dramaturgischen Konzept. Die Songs stehen nicht nur für sich selbst, sondern auch in Beziehung zueinander, und sie repräsentieren die verantwortlichen Künstler in einer bestimmten Phase ihres Lebens und Schaffens. Deshalb sind Hit-Sammlungen und andere Kompilationen meist so unbefriedigend, es fehlt zum einen das dramaturgische Auf und Ab, vor allem aber das einende je ne sais quoi.
Das bisher beste Album des laufenden Jahres ist bekanntlich Ninth vom vielversprechenden Nachwuchstalent Peter Murphy. Es ist ein Paradebeispiel für ein gelungenes Album, weil es nicht nur voller guter Songs ist, sondern weil man das erst dadurch merkt, dass es ein Album ist. Da gibt es Lieder, die sofort gefallen, etwa die mopsfidelen Velocity Bird oder Memory Go. Dann die, die man im zweiten Durchgang mitnimmt, zum Beispiel die poetisch-spinnerten I Spit Roses oder Seesaw Sway. Diese Songs hätte man womöglich auch bemerkt und für gut befunden, wenn sie für sich irgendwo rumgeflogen wären. Aber dann gibt es auch so etwas wie das brummige Secret Silk Society, das das erste, zweite, dritte … Mal nach typischem Füllmaterial klingt, bis man seinem dunklen Sog erliegt. Als vorletztes Stück kommt es an genau der richtigen Stelle im Gesamtzusammenhang, man wird dem Sog wieder sanft entrissen vom Rausschmeißer Crème de la Crème, den ich zunächst für zu beschaulich gehalten hatte. Als Kontrast zum Vorgänger und als Abschluss des Albums ist er aber ganz wunderbar. Solche Lieder brauchen Zeit zum Gedeihen, und das geht nur, wenn sie in ein Album gepflanzt sind. Als itunes-Hörproben haben sie keine Chancen.
Selbst wenn man langweilig, also aus Sicht der Wirtschaft und des Marketings, an die Sache herangeht, ist das Album als solches unverzichtbar. Auch wenn es sich nicht mehr so gut verkauft wie zu Zeiten, als das Kino noch zwei Groschen gekostet hat, Fußball Männersache war und der Pfannkuchen wie Pfannkuchen schmeckte, so ist es doch als Aufhänger für mediale Öffentlichkeit und weitere musikalische Aktivitäten nicht zu ersetzen. Welches Leitmedium berichtet schon darüber, wenn jemand einen neuen Song ins Internet stellt? Bei einem ganzen Album sieht das anders aus. Gerne weisen Schallplattenindustrieerklärer darauf hin, dass der große Reibach heute auf der Bühne gemacht wird. Das ist schön, da gehört Musik hin. Aber eine Tournee ohne reichlich neues Material (Sie haben es erraten: Album!) hat etwas Trauriges, da verkommt ein Künstler schnell zur eigenen Cover-Band. In diesem Sinne: Man sieht sich beim Konzert am 23. 10.Bitchmove in Schanghai
(Bitte nicht lesen, wenn Sie die Erörterung kleinlichster Fragen der deutschen Sprache und Rechtschreibung nicht für hocherotisch halten.)
Vor meinem nächsten Kontrollbesuch in Japan habe ich eine mehrtägige Zwischenlandung in China eingeplant, zur Vorbereitung wollte ich kürzlich Sachliteratur erstehen. Ich ging also auf den Buchladen und tippte ins Suchfeld: „Shanghai“, und hatte im Nullkommanichts genau das, was ich wollte, in großer Auswahl und vielfacher Ausführung, neu und gebraucht. Soweit nicht ungewöhnlich, Internet halt, ich hatte schon davon gehört. Etwas scheinbar Ungewöhnliches ereignete sich dann aber doch noch wenig später, als ich erneut „Shanghai“ tippte, und zwar in eine Office-Anwendung, beim Verfassen eines launigen Artikels zum Thema (jener später an dieser Stelle, falls er fertig wird und launig bleibt). Das Wort „Shanghai“ wurde stets rot unterkringelt von der zuvorkommenden Software. Ich starrte und stierte, aber konnte den Fehler nicht finden. Sollte die Stadt etwa mit deutschem Schule-Sch geschrieben werden? Das konnte nicht sein, denn die drei deutschsprachigen Reiseführer, die bereits auf dem Weg zu mir waren, und die für mich Mindestvoraussetzung für fünf Übernachtungen sind, hatten es mit anglophilem Shanty-Sh auf dem Umschlag, da war ich mir sicher. Aber ein Blick in den Duden bestätigt: Schanghai mit Sch ist die empfohlene Schreibweise. Der gedruckte Duden kennt immerhin die Sh-Variante, in der Online-Version hingegen wird sie als eigener Eintrag gar nicht geführt, sondern unter „Schanghai“ mitgelistet und als „englisch“ verunglimpft. Wissen das die Deutschen? Selbst ich wusste es nicht, und mir wachsen regelmäßig graue Haare (Haare wachsen = reines Wunschdenken), wenn jemand in einem deutschen Text „Tokio“ mit Fantasie-Ypsilon schreibt. Ich nehme solche Sachen sehr genau, ich habe sonst keine Freuden im Leben. Liebend gerne schreibe ich Schanghai gutdeutsch, man muss es mir nur sagen. Und man sollte es so gut wie allen deutschen Reiseliteraturverlagen sagen, denn lediglich ein einziger Reiseführer ist unter der korrekten Schreibweise zu finden (drolligerweise der aus dem Amerikanischen übernommene Wallpaper City Guide). Tippt man „Schanghai“ in den Buchladen, kommt die hilflose Frage: Meinten Sie Shanghai?Viel Neues über die Muttersprache kann man auch bei Langenscheidts Wahl äh Voting zum Jugendwort des Jahres erfahren. Die meisten nominierten Begriffe sind faule Übernahmen aus dem Englischen, z. B. Bitchmove oder (Epic) Fail. Mir fehlt just der Esprit, diesen Umstand ausführlich zu beklagen, bitte fügen Sie hier Ihr eigenes Lamento über die Überfremdung der deutschen Sprache ein.
Einige deutschdeutsche Ausdrücke sind schon dabei, gar nicht mal alle unschön. An der Authentizität allerdings hege ich – sehr vorsichtige – Zweifel. Es ist ja nun nicht so, dass ich sehr viel direkten Kontakt zu Jugendlichen hätte, aber ganz außen vor fühle ich mich nicht. Als Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel hört man der Jugend schließlich oft genug beim Telefonieren zu. Noch nie habe ich gehört: „Mein Katheterpeter ist voll der Körperklaus, aber trotzdem ziemlich naturschlau, jedenfalls kein Wikiwisser.“ Döner habe ich zum letzten Mal im 20. Jahrhundert gegessen, auch da schon nicht mehr in Gesellschaft ganz blutjunger Menschen. Ob solche heute tatsächlich sagen: „Einmal Karussellfleisch mit scharf!“, weiß ich nicht. Aber ich hoffe es ausdrücklichst! Einige angeblich brandaktuelle Ausdrücke verwundern doch sehr. Berufsjugendlicher war schon in meiner Jugend das lang etablierte Wort, mit dem mein damaliges Ich so Typen wie mein heutiges Ich beschrieb. Auch die Prolette war keine Unbekannte. Wir echten Jugendlichen fanden damals keineswegs, dass Berufsjugendliche und Proletten rulen, aber jenes Verb benutzten auch wir schon mehr, als für unsere Ausdrucksweise gut war. Rubbeldiekatz hingegen sagten wir bestimmt nicht, das taten nur Berufsjugendliche, die auf Katheterpeter angewiesen waren. Zum ersten Mal in seiner Geschichte gibt Shakira Kurosawa eine Wahlempfehlung: Bitte wählen Sie Karussellfleisch, alles andere wäre ein Bitchmove.Sie können mich mal gernhaben (ich habe Sie ohnehin gern!)
Sie haben bestimmt bemerkt, dass vor kurzem unter den Beiträgen hier überall Knöpfe aufgetaucht sind, die vorher nicht da waren. Trauen Sie sich, drücken Sie ruhig mal drauf, dann passiert irgendwas! Nein, ich habe nicht angefangen zu twittern, zumal ich nach wie vor nicht so ganz genau weiß, was das eigentlich ist. Und auch zukünftig werde ich netzwerktechnisch asozial bleiben. Aber Ihnen, untertänigst verehrte Leserinnen und Leser, möchte ich fürs erste nicht mehr vorschreiben, was Sie zu tun oder zu lassen haben. Deshalb dürfen Sie mich jetzt durchaus weitertwittern, auch wenn mir die Sache nicht ganz geheuer ist. Und Sie können mich mal liken, Sie wissen schon wo.
Ich werde die Sache mit kritischem Auge beobachten. Sollten die Ergebnisse zu beschämend sein, nehme ich den Unsinn wieder runter. Ich hoffe, das geht.
Wo der Computer schon mal an ist: Es gibt wieder mal anderswo Anderes von mir zu lesen. So habe ich unlängst beim Fünf-Bücher-Projekt den Dicken gemacht. Bitte kaufen Sie meine fünf Bücher und alle anderen fünf Bücher, es ist gleich doppelt für einen guten Zweck (Ihr Lesevergnügen und eine wohltätige Organisation).
Auch für einen guten Zweck: Am nächsten Donnerstag, den 28. Juli, liest Christine Bongartz in Bremen aus meiner Gebrauchsanweisung für Japan, musikalisch begleitet von Naoko Marutani. Alle Fakten hier.
Und es gab neues zu besprechen:
Film
Garden of Sinners Film 2: Morderverdacht Teil 1
Gothic & Lolita Psycho Kite Liberator – Angel of Death Monga – Gangs of TaipehBuch
Stephen Clarke: Gebrauchsanweisung für Paris Barry Eisler: Paris is a Bitch / The Lost Coast Don Winslow: Satori